Der Holodomor als Genozid: warum Anerkennung zählt
Eine Anerkennung des Holodomor als Genozid würde nicht nur die Opfer und ihre Nachkommen würdigen. Sie würde auch ein Zeichen an Moskau senden und könnte gleichzeitig ein neues Bewusstsein in der deutschen Gesellschaft schaffen. Von Mariia Vladymyrova
Die Seile spannen sich, und langsam setzt sich die Granitplatte über dem Sockel in Bewegung. Ein Kran und ein LKW sind angerückt. Eine Weile schwebt das tonnenschwere Monument in der Luft, dann landet es auf der Pritsche und schließlich auf der Müllkippe. Man kann sich im Internet ansehen, wie die russischen Besatzer Mitte Oktober in Mariupol das örtliche Denkmal für die Opfer des Holodomor – der künstlich herbeigeführten Hungersnot, die in den Jahren 1932 und 1933 etwa fünf Millionen Menschen in der Ukraine das Leben kostete – demontierten. Das Video hat die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti online gestellt. Die Botschaft ist nicht zu verkennen: Russland zielt darauf ab, das ukrainische Gedenken zu vernichten.
In Deutschland wächst inzwischen die Aufmerksamkeit für den Holodomor. Im Bundestag wurde laut SPIEGEL von Regierungskoalition und CDU/CSU-Fraktion ein Antrag erarbeitet, um der Katastrophe zu gedenken. Der gemeinsame Entwurf spreche sich dafür aus, den Holodomor als Völkermord anzuerkennen – was möglicherweise zu einer parlamentarischen Mehrheit führen wird. Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein: zum Holodomor-Gedenktag am 26. November und inmitten eines Krieges, in dem die Ukraine erneut in ihrer Existenz bedroht wird.
Gezielte Ausrottung und Leugnung
In den Jahren 1932 und 1933 führte das Stalin-Regime in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik eine Hungersnot künstlich herbei. „Künstlich“ bedeutet: Bewaffnete Truppen raubten den Bauern die Ernte und riegelten das gesamte Land ab. So verkamen weite Teile des Landes, ganze Dörfer wurden ausgerottet. Das ganze Ausmaß ist auf den Karten des Projekts Great Famine Project der Universität Harvard deutlich zu erkennen. Gleichzeitig wurde eine große Zahl der ukrainischen Intellektuellen und Kulturträger hingerichtet. Über die Gründe kann man aufgrund fehlender Archivbelege nur mutmaßen: Der ukrainische Bauernstand, die übergroße Mehrheit der Bevölkerung, hatte sich vehement gegen die Kollektivierung gewehrt. Und das Regime hegte nach dem ukrainischen Unabhängigkeitskrieg zwischen 1917 und 1921 wohl immer noch eine panische Angst vor der ukrainischen Nationalbewegung.
Bis zum Zerfall der Sowjetunion war es streng verboten, über den Holodomor zu sprechen. Die Erinnerung wurde vom Regime brutal unterdrückt, doch die leibhaftige Erfahrung lebte oft fort in einem zwanghaften Verhältnis zu Nahrungsmitteln, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die große Mehrheit der Ukrainer kennt wohl das schmerzhafte Entsetzen über das Wegwerfen von Lebensmitteln. Erst seit den Neunzigerjahren kann dieses Trauma aufgearbeitet werden. Der Holodomor wurde zum Beispiel Teil des Schulcurriculums. Es wurden Museen und Denkmäler geschaffen und es entstand eine Erinnerungskultur mit eigener Bildsprache. Die Symbole: Getreidekörner, abgemagerte Kinder und Störche.
In Russland, dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion, versucht man weiterhin die Erinnerung an dieses Ereignis zu verdrängen. Ganz im Einklang mit der politischen Agenda, die Schrecken der Stalin-Zeit unter den Teppich zu kehren, stellt das Putin-Regime den Holodomor als spontane Hungersnot dar und das Gedenken daran als Versuch, die „grandiose vaterländische Geschichte“ in Misskredit zu bringen. Dabei weisen russische Historiker mit abstrusen Erklärungen darauf hin, dass gleichzeitig Hungersnöte im Wolgagebiet und in Kasachstan stattfanden – als würde diese Tatsache die Schwere des Verbrechens mildern. Auch wenn tatsächlich viel dafürspricht, die kasachische Hungersnot, bei der etwa ein Viertel der Bevölkerung starb, ebenfalls als Völkermord anzuerkennen.
Der Begriff „Genozid“ und das deutsche Unbehagen
Gemäß Definition der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948 handelt es sich bei einem Genozid um einen gezielten Versuch, eine Ethnie, zumindest teilweise, zu vernichten. Im Falle des Holodomor ergibt sich die Tötungsabsicht deutlich aus den Beschlagnahmungen, der Abriegelung des Landes, der Verweigerung der Annahme humanitärer Hilfe aus dem Ausland (was einen Unterschied zur Hungersnot von 1921 und 1922 darstellt) sowie aus dem gleichzeitigen Massenterror gegen die ukrainische Elite. Eine wachsende Zahl von Staaten hat sich dementsprechend zur Anerkennung entschieden, darunter Polen, die USA und der Vatikan.
In Deutschland stößt der Begriff „Genozid“ auf Unbehagen; das war nicht anders im Prozess, der zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern führte. Der Grund ist klar: Ein Genozid wird hierzulande automatisch mit dem deutschen Völkermord an den Juden verglichen. Die „Einzigartigkeit“ des Holocaust darf nicht angetastet werden. Deshalb ist es wichtig einzusehen, dass es bei der Anerkennung eben nicht darum geht, Massenverbrechen miteinander zu vergleichen. In erster Linie geht es hier um die Würdigung der Opfer – um die Anerkennung, dass sie nicht willkürliche Opfer eines verbrecherischen Regimes waren, sondern dass sie mit der Absicht vernichtet wurden, sie als Gruppe bzw. als Ethnie zu zerstören. Außerdem wäre es ein Zeichen für die Nachkommen der Opfer, die Ukrainerinnen und Ukrainer, die heute erneut von Moskau angegriffen werden. Bei einem historischen Verbrechen, das so lange verschwiegen wurde, kann Anerkennung eine heilende Wirkung haben.
Aus einer Anerkennung ergeben sich außerdem neue Möglichkeiten für die Aufklärung in Deutschland. Die Mehrheit der Deutschen hat wohl noch nie vom Holodomor gehört, und das ist eine historische Ungerechtigkeit. Gerade die Deutschen tragen die Verantwortung, sich dieses Verbrechens bewusst zu sein, weil sie ein Jahrzehnt nach dem Holodomor die Ukraine zum Schauplatz ihrer Verbrechen machten. In Zeiten, in denen Russland das historische Gedenken missbraucht, um die deutsche Öffentlichkeit zu manipulieren, ist dies umso wichtiger.
Das bringt uns zurück zum anfangs erwähnten Sockel in Mariupol, auf dem einst die Gedenktafel für den Holodomor stand: Die Anerkennung des Holodomor als Genozid wäre auch ein Zeichen gegenüber Moskau, dass die Versuche, den ukrainischen Staat zu zerstören und das ukrainische Volk aus den Geschichtsbüchern zu tilgen, vergeblich sein werden. Russland kann Denkmäler in den besetzten Gebieten der Ukraine zerstören, genau wie es ukrainische Städte zerstören kann, doch das Gedenken daran wird weiterleben.
Der Bundestag hat am 30.11.2022 den Holodomor als Völkermord eingeordnet.
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