Der blinde Fleck – wie die Deut­schen die Ukraine sehen

Pro­tes­tan­ten auf dem Euro­mai­dan, Februar 2014, Foto: IMAGO /​ ZUMA Wire

Als die rus­si­schen Rake­ten­an­griffe auf die gesamte Ukraine 2022 began­nen, stell­ten viele Deut­sche fest, dass sie über die Ukraine eigent­lich wenig wussten. Seitdem erfuhr das Land sehr viel Auf­merk­sam­keit in den deut­schen Medien.

Die Wahr­neh­mung der Ukraine in Deutsch­land hat sich im letzten Jahr diver­si­fi­ziert. Mit dem flä­chen­de­cken­den Angriff Russ­lands und der Aus­wei­tung des Krieges auf das gesamte Ter­ri­to­rium der Ukraine gewann das Land mehr Auf­merk­sam­keit. Doch obwohl die Ukraine quan­ti­ta­tiv mehr Präsenz erfährt, ist die Sicht der brei­te­ren deut­schen Öffent­lich­keit nach wie vor durch Wis­sens­lü­cken und ver­zerrte oder unvoll­stän­dige Bilder geprägt. Um die Ukraine und ihre Kultur sowie die Wider­stands­kraft und den Frei­heits­wil­len der Men­schen besser ver­ste­hen zu können, ist es unab­ding­bar diese Wis­sens­lü­cken zu schließen.

Ukraine: in der poli­ti­schen Debatte jah­re­lang nur ein Randthema

Der deut­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Andreas Umland beschrieb 2012 die Ukraine als „weißen Fleck“ im Bewusst­sein der deut­schen Öffent­lich­keit. Er hat recht. Auch wenn die kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Bezie­hun­gen zwi­schen Deutsch­land und der Ukraine eng sind, blieb das Land in den poli­ti­schen Dis­kus­si­ons­run­den über die Jahre hinweg nur ein Rand­thema. Es wurde wenig debat­tiert über die natio­nale Iden­ti­tät und die Geschichte der Ukraine, über den „Holo­caust durch Kugeln“, die sta­li­nis­ti­schen Repres­sio­nen und die Depor­ta­tio­nen von Krym­ta­ta­ren, über die Rus­si­fi­zie­rung der Ukraine und die Rolle der ukrai­ni­schen Sprache.

Der Ost­eu­ro­pa­his­to­ri­ker Jan Claas Beh­rends betonte in seinem Gast­bei­trag „Lauter blinde Flecken“ in der Wochen­zei­tung DIE ZEIT zutref­fend, dass das Bild der Ukraine durch den kolo­nia­len Blick geprägt ist, der wie­derum auf Unwis­sen­heit beruht. Im öffent­li­chen Diskurs waren in den ver­gan­ge­nen Jahren nur wenige Osteuropaexpert:innen – geschweige denn Ukrainer:innen – ver­tre­ten. Statt­des­sen ergrif­fen Per­so­nen das Wort, die de facto in dieser Hin­sicht keine Exper­tise haben. Ein Bei­spiel dafür ist die ehe­ma­lige Russ­land­kor­re­spon­den­tin Gabriele Krone-Schmalz.

Ukraine als Land der Krise und des Krieges

Seit dem Euro­mai­dan und der Revo­lu­tion der Würde gewann die Ukraine mehr Gehör in den deut­schen Medien, den Hoch­schu­len und breiten Teilen der Gesell­schaft. Das medial erzeugte Bild blieb jedoch wenig dif­fe­ren­ziert. Wie die Ergeb­nisse der Studie „Die Ukraine in den Augen Deutsch­lands“ der Gesell­schaft für Inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit aus dem Jahr 2017 zeigten, nahm „Deutsch­land [...] die Ukraine vor allem als Land der Krise und des Krieges wahr. Andere Mel­dun­gen schaf­fen es kaum in die deut­schen Medien, [...] über das bereits Erreichte und die neuen Gestal­tungs­räume für die junge Gene­ra­tion erfährt man nichts.“ Dabei wurde gerade nach der Revo­lu­tion der Würde und in den Fol­ge­jah­ren der poli­ti­sche, wis­sen­schaft­li­che und zivil­ge­sell­schaft­li­che Aus­tausch ver­stärkt durch die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land geför­dert. In zahl­rei­chen Pro­jek­ten erfuhr die Zusam­men­ar­beit zwi­schen den beiden Ländern eine bedeut­same Ent­wick­lung. In dem Projekt „German-Ukrai­nian Rese­ar­chers Network“ des Insti­tuts für Inter­na­tio­nale Politik werden seit 2014 die bila­te­ra­len Bezie­hun­gen zwi­schen den Think-Tanks der beiden Länder gestärkt und der wis­sen­schaft­li­che Dialog nach­hal­tig aus­ge­baut. Mit dem Projekt „MeetUp!“ wurden mul­ti­la­te­rale Begeg­nun­gen von jungen Men­schen aus der Ukraine, Deutsch­land und teil­weise auch Russ­land initi­iert. Am Runden Tisch in Kyjiw 2018 wurde sogar der Versuch unter­nom­men, das bila­te­rale Deutsch-Ukrai­ni­sche Jugend­ab­kom­men wieder zum Leben zu erwe­cken, um den Jugend­aus­tausch nach­hal­tig zu gestalten.

Die Wort­wahl in der Bericht­erstat­tung formte die poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Meinung

Zum Zeit­punkt der rechts­wid­ri­gen Anne­xion der Krym 2014 und zu Beginn des rus­si­schen Krieges im Donbas wurde eine ver­meint­li­che „Ukraine-Krise“ bzw. ein „Ukraine-Kon­flikt“ dis­ku­tiert. Auch nach dem umfas­sen­den Angriff Russ­lands auf die Ukraine berich­te­ten die Medien noch fälsch­li­cher­weise über den „Ukraine-Krieg“. Diese Bezeich­nun­gen sind falsch und ver­zer­ren die Wahr­neh­mung der Ukraine maß­geb­lich. Wie Nikolai Kli­me­niouk in seinem jüngs­ten Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung zu Recht betont: „Allein schon das Wort ‚Ukraine-Krieg‘ ver­schiebt den Fokus vom Aggres­sor auf das Opfer und macht dieses zum Prot­ago­nis­ten des Gesche­hens.“ Dadurch blieben die rus­si­schen impe­ria­len Macht­an­sprü­che gegen­über der Ukraine über mehrere Jahre hinweg aus­ge­blen­det. Die Wort­wahl in der Bericht­erstat­tung formte sowohl die poli­ti­sche als auch die gesell­schaft­li­che Meinung.

In ihrem Artikel „Macht der Wörter“ begrün­den die Jour­na­lis­tin­nen Claudia Wüs­ten­hage und Ste­fa­nie Kara die Bedeu­tung der gewähl­ten Wörter, die als Heu­ris­ti­ken dienen können und die inhalt­li­che Ein­ord­nung der Infor­ma­tio­nen prägen. Dabei sind Asso­zia­tio­nen aus­schlag­ge­bend. Dies hatte auch zur Folge, dass der rus­si­sche Krieg gegen die Ukraine bis zum 24. Februar 2022 über­haupt nicht präsent war.

Jetzt werden die Stimmen aus der Ukraine hörbar

Erst mit der Aus­deh­nung des rus­si­schen Angriffs auf die gesamte Ukraine ließ sich in der Politik und in der Gesell­schaft ein Umden­ken beobachten.

Die deut­sche Gesell­schaft zeigt enorme Soli­da­ri­tät bei der Auf­nahme der über eine Million nach Deutsch­land geflüch­te­ten Men­schen aus der Ukraine und leis­tete über­wäl­ti­gende Hilfe. In den Medien werden Stimmen aus der Ukraine hörbar, ukrai­ni­sche Expert:innen werden in die poli­ti­schen Dis­kus­si­ons­run­den ein­ge­la­den und können dort erst­mals ihre eigene Sicht erklä­ren. Die seit 2014 ent­stan­de­nen Orga­ni­sa­tio­nen schlie­ßen sich in Initia­ti­ven und Bünd­nis­sen zusam­men, agieren gemein­sam und unter­stüt­zen sich gegenseitig.

Die Allianz Ukrai­ni­scher Orga­ni­sa­tio­nen steht für mehr Sichtbarkeit

Die im März 2022 ent­stan­dene Allianz Ukrai­ni­scher Orga­ni­sa­tio­nen ist ein Zusam­men­schluss ukrai­ni­scher Orga­ni­sa­tio­nen in der Dia­spora, die in den Fol­ge­jah­ren der Revo­lu­tion der Würde ent­stan­den sind. Sie bieten ein gutes Fun­da­ment für ein zivil­ge­sell­schaft­li­ches Enga­ge­ment mit Ukraine­be­zug. Gemein­sam stehen die Orga­ni­sa­tio­nen der Allianz für die Sicht­bar­keit der Ukraine in Deutsch­land. Sie arbei­ten im poli­ti­schen, gesell­schaft­li­chen und sozia­len Bereich und bieten diverse Aus­tausch­for­mate an, um die „weißen Flecken“ zu tilgen. Durch das gestie­gene Inter­esse an der Ukraine ent­ste­hen neue Koope­ra­tio­nen auf Augen­höhe; die Ukraine wird dadurch zum Subjekt der Politik, der Medien und der Gesellschaft.

Der Über­fall Russ­lands hat das Bewusst­sein verändert

Das deut­sche Par­la­ment stimmte mit großer Mehr­heit für die Lie­fe­rung von schwe­ren Waffen an die Ukraine sowie für eine bedeu­tende Ver­schär­fung der Sank­tio­nen gegen Russ­land. Nur wenige Tage nach dem rus­si­schen Über­fall kün­digte Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in seiner „Rede zur Zei­ten­wende“ ein Umden­ken in Deutsch­land an und sicherte der Ukraine Unter­stüt­zung zu. In der his­to­ri­schen Abstim­mung vom 30. Novem­ber 2022 zur Aner­ken­nung des Holo­do­mor als Genozid am ukrai­ni­schen Volk erkennt das Par­la­ment an, dass die sowje­ti­sche Führung das Ziel ver­folgt hatte, durch vor­sätz­li­ches Aus­hun­gern die Ukraine als Nation zu vernichten.

Ins­be­son­dere im ver­gan­ge­nen Jahr sind posi­tive Ent­wick­lun­gen zu ver­zeich­nen. Zugleich liegt darin, wie die Ost­eu­ro­pa­his­to­ri­ke­rin Fran­ziska Davies zutref­fend for­mu­liert, „eine Erkennt­nis, die Deutsch­land ein Armuts­zeug­nis aus­stellt: Es hat die Ermor­dung ukrai­ni­scher Zivi­lis­tin­nen und Zivi­lis­ten, Bomben auf eine euro­päi­sche Haupt­stadt und den hel­den­haf­ten Wider­stand der Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner gebraucht, damit wir die Ukraine als ‚echte‘ Nation aner­ken­nen, die unsere Unter­stüt­zung ver­dient.“ Diese Erkennt­nis offen­bart die drin­gende Not­wen­dig­keit einer grund­le­gen­den kri­ti­schen Dis­kus­sion über die Wahr­neh­mung der Ukraine, aber auch anderer Länder des öst­li­chen Europas.

Um ein dif­fe­ren­zier­te­res Bild zu errei­chen ist eine kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung unab­ding­bar.  Es bedarf einer Stär­kung der wis­sen­schaft­li­chen und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Struk­tu­ren, ins­be­son­dere auch der Orga­ni­sa­tio­nen in der Dia­spora, der För­de­rung von bila­te­ra­len Pro­jek­ten, Städ­te­part­ner­schaf­ten oder Sti­pen­di­en­pro­gram­men und von regel­mä­ßi­gen Aus­tausch­for­ma­ten auf kom­mu­na­ler, Landes- und Bun­des­ebene. Nur so wird sich das gegen­sei­tige Ver­ständ­nis nach­hal­tig verändern.

Portrait von Nataliya Pryhornytska

Nata­liya Pry­hor­nytska ist eine in der Ukraine gebo­rene und in Berlin lebende Politikwissenschaftlerin.

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