Buch über die Krim: Aufzeichnungen aus dem toten Winkel
Nur noch wenige Reporter reisen auf die Halbinsel Krim. Die nun auf Deutsch erschienen Krim-Reportagen der ukrainischen Journalistin Nataliya Gumenyuk sind ein Glücksfall für deutsche Leser. Eine Rezension von Simone Brunner
Einen Einblick ins Buch gibt es exklusiv bei uns. Im Juli 2020 veröffentlichten wir das erste Kapitel des Buches.
„Sag mir, wie hältst du’s mit der Krim?“ Über kaum ein anderes Thema konnten sich die Diskussionsteilnehmer in deutschen Talkshows vor sechs Jahren so heftig in die Haare kriegen, wie über die russische Annexion der Krim. Es war gewissermaßen die geopolitische Gretchenfrage des Jahres 2014.
Doch seitdem die Annexion von Moskau vollzogen wurde, wird über die Krim geschwiegen. Selbst auf Sicherheitskonferenzen oder Podiumsdiskussionen über die „Ukraine-Krise“ kommt die Halbinsel nur noch sporadisch vor. Und selbst Reporter, die immer wieder aus der Ukraine berichten, finden nur noch in den seltensten Fällen den Weg bis nach Simferopol. Es dauerte nicht lange, bis die Krim selbst im eigenen Land durch den Krieg im Donbass in den Schatten gestellt wurde. Und so unerbittlich über die Krim in diversen deutschen Fernsehformaten diskutiert wurde, so schnell verschwand das Thema dann auch wieder in den Archiven. Die Halbinsel ist längst zur „black box“, zum weißen Fleck der europäischen Öffentlichkeit geworden. Die Krim, vergessen?
Nataliya Gumenyuk schreibt gegen dieses Vergessen an. Die ukrainische TV-Journalistin und Autorin ist in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Krim gereist. Im März 2014, als sich russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, die so genannten „grünen Männchen“, die ukrainische Halbinsel einverleibten und europäische Grenzen mit Waffengewalt verschoben wurden. Oder im Herbst 2018, als es in einer Berufsschule in der Stadt Kertsch zu einem beispiellosen Schulmassaker kam. Aber auch die vielen anderen Male dazwischen, davor und danach, als ukrainische und internationale Journalisten längst abgezogen waren. Im Frühjahr 2020 veröffentlichte die 36-jährige ihr Buch auf Ukrainisch und Russisch, jetzt ist es auch auf Deutsch in der Übersetzung von Johann Zajaczkowski mithilfe von Simon Muschick und Dario Planert im ibidem-Verlag erschienen, mit dem Titel: „Die verlorene Insel.“
Gumenyuks Buch ist keine Analyse der Verhältnisse auf der Krim, sondern eine Reportagesammlung. Die TV-Journalistin, die bis zuletzt für den unabhängigen ukrainischen Online-Sender Hromadske gearbeitet hat, denkt in Bildern. Immer wieder kommen ihre Gesprächspartner im Original zu Wort und werden fast monologartig zitiert. Ihre Texte folgen dabei einer filmischen Dramatik, Szene auf Szene, Interview auf Interview. Fast so, als würde sie lieber die Kamera draufhalten, als zu kommentieren. Das ist ein Glücksfall für die deutschen Leser, denn diese Montagen geben dem Buch eine Vielstimmigkeit, Tiefe und Authentizität, wohltuend bei einem Thema, das von Schablonen, Interpretationen und Glaubenssätzen geprägt ist und das vor allem in Deutschland zu einer Projektionsfläche für die so genannten „Russlandversteher“ geworden ist.
„Seit fünf Jahren widme ich mich der mir zugefallenen Aufgabe, zu beobachten, was sich auf der Krim ereignet, und zu erkennen, was sich geändert hat, was erstarrt ist, und warum der Schmerz nicht nachlässt“, schreibt Gumenyuk. „Da es mir gelungen ist, diesen Menschen zu begegnen und sie mir ihre Geschichten erzählt haben, habe ich einfach nicht das Recht, sie für mich zu behalten.“ Denn die Krim wurde nicht einfach so im luftleeren Raum, auf dem Schachbrett der Großmächte, annektiert. Sondern auf einem Gebiet, auf dem mehr als zwei Millionen Menschen leben.
Es sind die Geschichten dieser Krim-Bewohner, die Gumenyuk in diesem Buch erzählt. Die Geschichte von Onkel Tonja, der sich weniger nach dem aus dem Land geflohenen Präsidenten Wiktor Janukowitsch oder dem russischen Machthaber Wladimir Putin sehnt, als vielmehr nach der Sowjetzeit. Die Geschichte von Ukrainisch-Lehrerinnen, die plötzlich niemand mehr braucht. Von Söhnen, die nicht zum Begräbnis ihrer Eltern reisen können. Von Heroinabhängigen, die plötzliche keine Drogenersatztherapie mehr bekommen, weil diese in Russland schlichtweg verboten ist. Vom ukrainischen Regiment Belbek, das in Sewastopol festsitzt, vergeblich auf Befehle aus Kiew wartet und sich vom Festland verraten fühlt. Von sonst so redseligen Taxifahrern, die es aus Angst vor Verleumdungen mittlerweile vorziehen, ihre Fahrgäste anzuschweigen.
Es sind Schicksale, die nicht immer eindeutig entlang einer klaren pro-russischen oder pro-ukrainischen Trennlinie verlaufen – wenngleich Gumenyuk dem Schicksal der Krimtataren in diesem Buch viel Raum gibt. Jener Bevölkerungsgruppe, die unter Stalin 1944 deportiert wurde, zu den erklärten Gegnern der Annexion gehört und jetzt wieder von den russischen Behörden verfolgt wird. Oder denjenigen, „die sich ihre ukrainische Staatsbürgerschaft, ihre Kultur, Sprache und ihren Glauben bewahren, deren bloße Anwesenheit daran gemahnt, dass die Halbinsel besetzt ist“, wie Gumenyuk über einige Krim-Bewohner schreibt, die sie getroffen hat. Sie mögen vielleicht in der Minderheit sein, aber es sind Menschen, die es nach der Lesart der russischen Propaganda gar nicht geben dürfte und die längst in die innere Emigration gezwungen wurden. Hier bekommen sie eine Stimme.
Es ist freilich die Perspektive der Ukrainerin, aus der Gumenyuk heraus schreibt, worauf alleine schon der Titel verweist: „Загублении острів. Книга репортажів з окупованого Криму“, zu deutsch: „Die verlorene Insel. Geschichten von der besetzten Krim.“ Der „dumpfe Schmerz der Annexion“, des persönlichen Verlustes, durchdringt ihre Texte. Doch es ist kein patriotisches Blendwerk, das uns Gumenyuk hier vorlegt, sondern ein feinfühliges, menschliches und kluges Dokument einer mehrfach ausgezeichneten Reporterin, die auch immer wieder kritisch nach Kiew blickt. „Dieses Buch kommt ohne explizite Schlussfolgerungen aus“, schreibt Gumenyuk in der Einleitung. „Mit einer Ausnahme: Relatives Glück und Frieden der Mehrheit können nicht erlangt werden, wenn der Preis dafür das Leiden anderer ist, und selbst wenn die relative Mehrheit nicht leidet, so hebt die systematische Unterdrückung der Minderheit diese vermeintliche Stabilität wieder auf.“
„Die verlorene Insel. Geschichten von der besetzten Krim“ ist im November 2020 im Verlag ibidem, Stuttgart, erschienen. Mit einem Vorwort von Alice Bota und Kateryna Mishchenko, aus dem Ukrainischen übersetzt von Johann Zajaczkowski, Dario Planert und Simon Muschick.
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