„Der Prozess war wie ein Theaterstück“
Der ukrainische Aktivist Oleksandr Koltschenko wurde gemeinsam mit dem Regisseur Oleh Senzow vor sechs Jahren entführt und von einem russischen Gericht zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Beim Gefangenenaustausch im September 2019 kam er frei. Im Interview mit Simone Brunner spricht er über die Krim, seinen Prozess und die Gefangenschaft.
Vor genau sechs Jahren wurde die Krim annektiert. Am 16. März 2014 wurde das so genannte „Referendum zum Status der Krim“ abgehalten, am 18. März wurden die Krim und Sewastopol als offizielle Föderationssubjekte in die Russische Föderation aufgenommen. Wie blicken Sie heute auf diese Tage zurück?
Es war eine sehr angespannte Zeit. Schon vor dem Referendum war mir bewusst, dass öffentliche Protestaktionen nichts mehr bewirken können. Durch die Straßen sind schon die sogenannten „Selbstverteidiger der Krim“ patrouilliert, Aktivisten wurden bedroht. Es gab schon die ersten Meldungen über Aktivisten, die entführt worden sind, während auf den Straßen Flugblätter mit den Namen, Fotos und Wohnadressen der „Volksverräter“ verteilt wurden.
Stand auch Ihr Name auf diesen Flugblättern?
Nein, ich war damals noch nicht so eine öffentliche Figur. Aber viele aus meinem Bekanntenkreis.
Haben Sie damals damit gerechnet, dass die russische Annexion von Dauer sein könnte?
Es war damals sehr schwierig, langfristige Prognosen anzustellen. Aber mir ist schnell klar geworden, dass Russland ein Polizeistaat ist, das sein System sehr schnell auf die Krim ausweitet.
Die Annexion hatte für Sie persönlich große Auswirkungen. Sie waren ein erklärter Gegner der Krim-Annexion, im Mai 2014 wurden Sie gemeinsam mit Ihrem Kollegen Oleh Senzow vom FSB entführt. Später wurde Ihnen in Russland der Prozess gemacht. Vorwurf: Brandstiftung und Mitglied einer terroristischen Vereinigung. Zumindest zu einem Teil der Vorwürfe haben Sie sich bekannt. Was ist genau geschehen?
Es stimmt, dass ich an der Brandstiftung des Büros der „Partei der Regionen“ beteiligt war, das dann später zum Büro von „Einiges Russland“ (der russischen Regierungspartei, Anm.) wurde. In diesem Büro befand sich auch das Hauptquartier der „Selbstverteidiger der Krim.“ Eine Folterkammer. Dorthin wurden Aktivisten gebracht, geschlagen und gefoltert.
War das der Grund für Ihre drastische Aktion?
Wir wollten mit unserer Aktion zeigen, dass unser Kampf gegen den russischen Polizeistaat trotz der Repressionen weitergeht, obwohl die legalen Möglichkeiten des Widerstandes gegen die russische Annexion schon längst ausgeschöpft waren. Die „Partei der Regionen“ ist für die Ereignisse auf dem Maidan verantwortlich und trägt zumindest eine Mitschuld an der Annexion der Krim.
Später wurde Ihnen in Russland der Prozess gemacht, Sie wurden von einem russischen Militärgericht zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das Gerichtsverfahren wurde als Schauprozess bezeichnet, um den Protest gegen die russische Annexion im Keim zu ersticken. Sehen Sie das auch so?
Viele Menschen auf der Krim haben sich gezwungen gefühlt, ihr bürgerrechtliches Engagement einzustellen oder sogar auszureisen. Dass gerade uns der Prozess gemacht wurde, ist nur Zufall. Es hätte jeden anderen Aktivisten treffen können.
Der Prozess wurde auch in internationalen Medien verfolgt. Eine Szene aus diesem Gerichtsprozess ist berühmt geworden: Als das Urteil verlesen wurde, haben Sie gemeinsam mit Oleh Senzow die ukrainische Hymne angestimmt.
Der ganze Prozess war wie ein Theaterstück, in dem Oleh und ich nur Zuschauer waren. Wir waren wie in einem Aquarium, von dem aus wir beobachten konnten, wie sich um uns herum die Handlung vollzieht. Ich habe Oleh vorgeschlagen, dass wir doch – wenn die Urteilsverkündung auf den 24. August, den Tag der ukrainischen Unabhängigkeit, fällt – die ukrainische Hymne singen könnten. Damit wir endlich auch eine Rolle in diesem Theaterstück spielen! Oleh hat diese Idee sehr gefallen. Letzten Endes ist die Urteilsverkündung nicht auf den 24. August gefallen, aber wir haben uns dennoch entschieden, die Hymne zu singen. Damit wollten wir zeigen, dass selbst drakonische Strafen von zehn oder 20 Jahren Haft nicht in der Lage sind, uns zu brechen.
Wurden Sie auch gefoltert?
Am ersten Tag meiner Gefangenschaft wurde ich geschlagen, auf den Kopf und den Körper. Doch dann später nicht mehr. Wenn ich mir die Geschichten von anderen Gefangenen anhöre, dann hat es mich gar nicht so schlimm erwischt. Im Gefangenenlager war die Situation ohnehin besser.
Nach Ansicht Moskaus wurden die Krim-Bewohner mit der Krim automatisch russische Staatsbürger. Sie sollen auch immer wieder angehalten worden sein, den russischen Pass anzunehmen. Stimmt das?
Zwei Mal wurde mir der russische Pass angeboten. Einmal während der Ermittlungen, und einmal im Gefangenenlager. Als ich schon im Gefangenenlager in Tscheljabinsk war, haben sie mich eines Morgens in die Verwaltung zitiert, wo ich von den Mitarbeitern mit den Worten empfangen wurde: „Wir gratulieren Ihnen, Ihr Pass ist angekommen! Setzen Sie sich doch hin und unterschreiben Sie!“ Worauf ich gesagt habe: „Nein, ich werde das bestimmt nicht unterschreiben. Ich habe nämlich schon einen Pass.“ Das hat sie sehr verärgert, und sie haben mich gezwungen, eine Erklärung abzugeben. Darin habe geschrieben, dass ich den Pass ablehne, weil ich nun mal ein ukrainischer Staatsbürger bin.
Bei der Fußball-WM in Russland vor zwei Jahren ist Ihr Kollege Oleh Senzow in den Hungerstreik getreten und hat die Freilassung der politischen Gefangenen in Russland gefordert. Putin ist damals nicht darauf eingegangen. Senzow und Sie wurden erst im Herbst vergangenen Jahres ausgetauscht. Was denken Sie, warum hat es diesmal geklappt?
Ich habe versucht, Oleh von dieser Idee abzubringen, aber er ist ein ziemlicher Sturkopf. Zugleich habe ich mir große Sorgen um seine Gesundheit gemacht. Ich habe mich deswegen auch dem Hungerstreik angeschlossen, aber länger als sieben Tage habe ich nicht durchgehalten. Ich habe aber schon immer daran gezweifelt, dass ein Hungerstreik in der politischen Führung Russlands etwas bewirken kann.
Erst unter dem neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist es zu diesem Gefangenenaustausch gekommen.
Mir scheint, dass Putin auf jeden Fall jeden Erfolg für den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko vermeiden wollte. Er wollte das unter keinen Umständen zulassen. Ich denke, das hat nichts mit Selenskyj persönlich zu tun. Putin wollte einfach einen Erfolg für Poroschenko verhindern.
Unter Poroschenko wurden in puncto Krim auch umstrittene Maßnahmen umgesetzt, wie die Stromblockade der Krim. Wie bewerten Sie die Aktionen des ukrainischen Staates? Gibt es überhaupt noch eine Hoffnung auf die Reintegration der Krim?
Konkrete Aktionen kann ich nicht beurteilen. Aber mir scheint, dass es heute weder auf militärischem, noch auf diplomatischem Wege möglich ist, die Krim wieder unter ukrainische Kontrolle zu bringen. Meine einzige Hoffnung gründet sich darauf, dass es in Russland einen Aufstand gegen Putin gibt und das System in sich zusammenbricht.
Tut die internationale Gemeinschaft genug für die Krim?
Nach der Krim-Annexion wurden Sanktionen gegen Personen aus Russland verhängt, erst nach dem Abschuss des Passagierflugzeuges MH17 in der Ostukraine wurden sektorale Sanktionen erlassen. Mittlerweile sind schon einige Jahre vergangen, aber wir sehen, dass die Sanktionen nicht dazu geführt haben, etwas zu bewegen.
Oleksandr Koltschenko (1989) ist ein ukrainischer Aktivist aus Simferopol. Gemeinsam mit dem Regisseur Oleh Senzow wurde er im Frühling 2014 vom russischen Geheimdienst FSB entführt und nach Russland gebracht, wo ihm wegen Terrorismus der Prozess gemacht wurde. 2015 wurde er zu zehn Jahren Haft verurteilt. Bei einem Gefangenenaustausch im September 2019 kam er frei. Heute lebt er in Kyjiw und studiert Tourismus.
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