Das Risiko der Verhandlungen mit dem Feind
In Kyjiw demonstrierten am Wochenende Tausende gegen eine „Kapitulation“. Tatsächlich sind die Sorgen vor einem ungerechten Frieden mit Russland groß. Kann man mit einer Krieg führenden Partei Frieden schließen, die leugnet Krieg zu führen? Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will das Unmögliche erreichen. Ein Kommentar von Christoph Brumme.
Sein Ziel ist es, die russischen Truppen im Donbas zum Abzug zu bewegen und in den dort von russischen Truppen besetzten Gebieten freie und demokratische Wahlen abhalten zu lassen. Aber die russischen Truppen sind offiziell gar nicht da, obwohl es unzählige Beweise für ihre Anwesenheit gibt – prahlerische Geständnisse russischer Soldaten, Foto- und Filmaufnahmen russischer Militärtechnik, abgehörte Funkgespräche, Soldatenfriedhöfe in Russland und vieles andere mehr. Trotz dieser schizophrenen politischen und militärischen Situation „erklärt die ukrainische Regierung offen ihre maximale Bereitschaft, über die Konfliktlösungen zu verhandeln. Das bedeutet nicht, dass die Russen dazu bereit wären, aber das ist trotzdem eine ziemliche Bewegung“, so die optimistische Einschätzung der Chefredakteurin bei Hromadske International, Nataliya Gumenyuk.
Bis zur Selbstverleugnung ringen die Ukrainer um Frieden in diesem unerklärten Krieg, der beinahe täglich Opfer fordert. Der neue ukrainische Präsident versucht es jetzt mit der sogenannten „Steinmeier-Formel“. Doch was diese Formel genau besagt ist weitgehend unklar. Die strittigen Fragen sind, welchen Status die jetzt besetzten Regionen im Donbas erhalten sollen, wann und wie Wahlen abgehalten werden können und wie der Rückzug der angeblich nicht vorhandenen russischen Truppen erfolgen soll.
Der ukrainische Präsident erklärte bei seiner Pressekonferenz, dass es „keine Wahlen geben wird, die im Schatten von Gewehrläufen stattfinden“. Zuerst müssen also die russischen Truppen abziehen und die selbsternannten Separatisten ihre Waffen abgeben. „Sobald dort Wahlen stattfinden, dann werden das bereits nicht mehr besetzte Gebiete sein.“
Viele ukrainische Kritiker aber werfen dem Präsidenten „Verrat“ und „Kapitulation“ vor. Ihre Gefühle und Motive sind durchaus nachvollziehbar, denn wer bei Verstand ist kann nicht glauben, dass Putin-Russland sich vertragstreu verhalten wird. Ein Ding der Unmöglichkeit, nach allen Erfahrungen, die man in den letzten fünf Jahren machen musste.
Den Krieg hat Russland begonnen, um einen angeblich drohenden Genozid an russischsprachigen Donbas-Bewohnern zu verhindern. Also aufgrund einer Wahn-Idee und Propaganda-Lüge. In der russischen Öffentlichkeit wird immer wieder dazu aufgerufen, „das ukrainische Problem“ gewaltsam „zu lösen“ – sprich das Problem, dass die Ukraine sich Russland nicht unterordnet und Russland ohne die Ukraine kein Imperium ist. Und es werden konkrete Vorbereitungen auf einen großen Krieg getroffen, Eisenbahnstrecken entlang den Grenzen zur Ukraine gebaut und immer mehr Truppen dort stationiert. Nichts spricht dafür, dass Russland die Strategie der „Nachvorneverteidigung“ aufgeben wird, weder die Kosten des Kriegs noch die läppischen Sanktionen des Westens. Die Verelendung der Bevölkerung in Russland als Preis des Krieges nehmen der russische Präsident und seine mafiose Geheimdienst-Clique dafür leicht in Kauf.
Närrisch und fantastisch wirkt dagegen die Hoffnung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die russischen Truppen würden sich vom ukrainischen Territorium im Donbas freiwillig zurückziehen und eine Kontrolle der Grenze zwischen beiden Ländern zulassen.
Doch um Politik zu verstehen muss man auf unendlich viele Nuancen achten. Womöglich kann der Flügelschlag eines Schmetterlings tatsächlich einen Weltkrieg auslösen. Das Ungefähre kann ungeheuer wirkungsmächtig sein. Die Drohung ist stärker als die Ausführung eines Zuges, das wissen Schachspieler. Dass die „Steinmeier-Formel“ so viele Unbekannte enthält ist auch ein enormer Vorteil. Desto mehr kann die Formel interpretiert werden, desto mehr Varianten lässt sie zu.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat in seinem Wahlprogramm versprochen, sich auch für die Bevölkerung in den besetzten Gebieten einzusetzen, ihre Sympathien und Herzen zu gewinnen. Er will der russischen Propaganda etwas entgegensetzen und beispielsweise einen Fernsehkanal aufbauen, der die dortigen Menschen über die Entwicklungen in der Ukraine aufklärt. Das Feindbild Ukraine soll entdämonisiert werden. Die jetzigen Friedensbemühungen dürften ein Teil dieses Vorhabens sein. Auch in der internationalen Arena wird wieder deutlich, wer der Aggressor und wer der Angegriffene ist.
Im Normandie-Format soll schriftlich festgehalten werden, wann die russischen Truppen abziehen werden, so Selenskyj in seiner Pressekonferenz. Abzug der russischen Truppen? Wenn das gelänge wäre schon ungeheuer viel geschafft. Dann müssten die Russen ja erstmals anerkennen, dass ihr Militär dort ist.
Viele ukrainische Kritiker Selenskyjs übersehen solche „Nuancen“. Es geht ihnen nicht um die Wahrheit, sondern um die Konservierung meiner Gefühle. Ex-Präsident Poroschenko betätigt sich dabei als Brandstifter. Denn er selbst hat die „Steinmeier-Formel“ schon vor drei Jahren anerkannt und wie eine Roadmap zum Frieden angepriesen. Und zwar mit fast den gleichen Gesprächspartnern, mit denen heute Selenskyj redet – mit Merkel, Hollande und Putin bei dem „Normandie-Treffen“ im Oktober 2016 in Berlin. Der deutsche Außenminister soll laut ukrainischen Medienberichten damals schon gescherzt haben, er selbst kenne das Ergebnis dieser Formel nicht.
Der jetzige Präsident Selenskyj hat die Formel also nicht „aus dem Hut gezaubert“ oder sie sich von Putin diktieren lassen. Er nutzt das gleiche Instrument wie sein Vorgänger. Wenn Poroschenko sich jetzt „verachtend über die Verhandlungen äußert und so tut, als ob die Anwendung der Steinmeier-Formel ein Verrat wäre, dann ist das eine Schande für eine Person, die vier Jahre lang in den Prozess involviert war und um die Schwierigkeiten in dem Prozess weiß“, so die Chefredakteurin bei Hromadske International, Nataliya Gumenyuk.
Der jahrelange Krieg und die russischen Kriegsverbrechen im Donbas haben natürlich dazu geführt, dass viele Ukrainer dieses Putin-Russland wirklich hassen. Mehr als zwei Drittel von ihnen sehen in Russland eindeutig den Aggressor. Doch es ist ungeheuer gefährlich, dem eigenen Präsidenten Verrat und Kapitulation vorzuwerfen – obwohl er wie eine Schallplatte mit Sprung ständig wiederholt, man werde keinen Meter ukrainischen Bodens dem Feind überlassen und die angestrebten Kommunalwahlen im Donbas erst nach dem Abzug der russischen Truppen durchführen. „Im schlimmsten Fall könnte die tiefe Abneigung, die wesentliche Teile der politischen Klasse und der Zivilgesellschaft der Ukraine gegenüber der Steinmeier-Formel haben, zu einem – nunmehr echten – Bürgerkrieg in der Ukraine führen“, so der Politologe Andreas Umland. „Das wäre natürlich genau das, was der Kreml bereits seit über fünf Jahren anstrebt.“
Tatsächlich „gärt“ es in der ukrainischen Gesellschaft, besonders unter patriotischen Kräften. Regionalräte in Lwiw und Ternopil drohen schon mit der Ausrufung eines neuen Maidan. In Kiew wird vor dem Präsidentenpalast „gegen die Steinmeier-Formel“ demonstriert. Auch in Provinzstädten wie Poltawa organisierten nationalistische Organisationen große Demonstrationen unter dem Motto „Keine Kapitulation!“. Eigentlich ist das auch das Motto des ukrainischen Präsidenten. Aber gemeint ist, Selenskyj sei bereit eine Art Kapitulationserklärung zu unterzeichnen und Pseudo-Wahlen wie beim Referendum auf der Krim zulassen.
Der nächste Maidan wird kurz und blutig verlaufen, ohne Straßenbarrikaden, sondern nach dem „Modell Pinochet“, das hört man in Nationalistenkreisen immer wieder. Eine napoleonische Epoche auf dem Übergang von der absoluten Herrschaft eines Königs oder Präsidenten zu einer bürgerlich-demokratischen Gesellschaft liegt durchaus im Bereich des Möglichen, zumal angesichts des äußeren Feindes.
Man kann nur hoffen, dass am Ende die Vernunft obsiegt.
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