Die ukrainische Tragödie – Vor den Parlamentswahlen
Der deutliche Wahlsieg Selenskyjs bei den Präsidentschaftswahlen hat auf der einen Seite deutlich gemacht, dass große Teile der Ukrainer geeint sind, auf der anderen Seite treten dadurch neue gesellschaftliche Spannungen zutage. Christoph Brumme gibt einen Überblick und erläutert die Relevanz für die anstehenden Parlamentswahlen.
Vor einigen Monaten waren die Fronten in der Ukraine noch klar. Man konnte Freund und Feind sowie die Gleichgültigen und Träumer schnell unterscheiden. Wenige Sätze genügten, um zu merken, zu welcher Gruppe jemand gehörte.
Die pro-ukrainischen Ukrainer, die Patrioten, waren sich in den wichtigsten Fragen einig. Man sollte in Zeiten des Krieges unentgeltlich für die Verteidigung des Landes und in sozialen Projekten arbeiten und sowohl im Internet als auch bei realen Begegnungen mit Menschen die Wahrheit über die Ukraine erzählen, also im Cyber-Krieg Widerstand leiten. Ob Nationalisten, Demokraten oder unpolitische Menschen mit Liebe zur Heimat, sie alle waren sich einig, dass Russland der Hauptfeind ist.
Nunmehr fünfjähriger Stellungskrieg im Donbas, Annexion der Krim, unzählige Drohungen russischer Politiker und Propagandisten, weitere Teile der Ukraine zu erobern, das sieht nicht nach Freundschaft und Bruderschaft aus. Die Gruppe der erklärten Feinde der Unabhängigkeit der Ukraine war im Lande selbst ziemlich klein, je nach Altersgruppe und Region zwischen zehn bis fünfundzwanzig Prozent. Sie waren nicht besonders gefährlich, weil sie keine besseren Alternativen anzubieten hatten als die Patrioten.
Die Gleichgültigen und Träumer waren wie immer in der Mehrheit. Manche Menschen komponieren lieber Klavierkonzerte als einen blutigen Straßenkampf vor ihrer Haustür anzusehen oder gar an ihm teilzunehmen. Auch Sergej Rachmaninow achtete 1917 in Moskau während des Umsturzes der Bolschewiki nicht auf „das Geknatter der Pistolen- und Gewehrschüsse“. Er hatte die Gardinen zugezogen und sich in die Arbeit vertieft, sein Erstes Klavierkonzert zu überarbeiten. Jeden ungebeten Gast hätte er mit dem Satz des Archimedes empfangen, „Störe meine Kreise nicht!“, so berichtet er in seinen Erinnerungen.
Einer meiner Bekannten putzte in Kyjiw lieber Aquarien und las Epikur, als auf den Maidan zu gehen. Über Fische kann er tagelang reden, über Politik keine zwei Sätze.
Die Wahl Selenskyjs als Präsidenten vereint und teilt die Ukrainer gleichzeitig
Mit der Wahl des Newcomers Wolodymyr Selenskyj hat sich die Situation grundlegend geändert. Heute ist die Gruppe der „pro-ukrainischen Ukrainer“ gespalten in zwei Lager, und die einen werfen den anderen Verrat vor, mindestens getrübtes Bewusstsein und grenzenlose Dummheit.
Viele Poroschenko-Wähler bewerten es als Katastrophe, dass Wolodymyr Selenskyj mit einem sensationellen Ergebnis zum Präsidenten gewählt wurde, in manchen Regionen mit über 80 Prozent der Wählerstimmen. Selenskyj verfolge geheim oder offen einen pro-russischen Kurs und werde gar eine Diktatur errichten, lauten die bösesten Vorwürfe gegen ihn. Viele alte Verbündete kritisieren inzwischen Poroschenko für seine Amtsführung und seinen Wahlkampf. Sogar Ministerpräsident Groisman erzählte, er habe schon im Sommer 2018 Poroschenkos Niederlage vorhergesagt, weil dieser die Versprechen nach dem Euromaidan nicht eingehalten habe. Dabei galt Groisman lange Zeit beinahe als „Kronprinz“ Poroschenkos.
Tatsächlich gibt es unter den Selenskyj-Wählern welche, die jetzt eine Revanche für den Euromaidan und dessen Folgen erhoffen. Menschen, für die die Ukraine kein Staat ist und die möglichst schnell eine Vereinigung mir Russland wollen, die Anhänger der „Russki Mir“. Selenskyj ist schließlich ein russischer Muttersprachler, außerdem habe er als Komiker Witze über die Ukraine gerissen, argumentieren sie. Und Poroschenko und seine Vertreter in den Provinzen haben ja selbst wochenlang erklärt, ein Sieg Selenskyjs werde zu einer Revanche pro-russischer Kräfte führen. „Ich oder Putin“, zu dieser Schicksalsfrage hatte Poroschenko die Präsidentenwahl hochgejazzt. Äußerst gefährlich für die Einheit des Landes.
„Unter den Hassern des neuen Präsidenten dominieren leidenschaftliche Ukrainer, die zu Straßenprotesten fähig sind“, konstatiert der ukrainische Politologe Michail Dubinski von der Ukrainska Prawda. „Einige von ihnen wird Selenskyj niemals besänftigen können, egal welchen Kurs er wählt. Der Hass auf den „Clown aus Kleinrussland“ liegt oft eher auf der Ebene der psychologischen und ästhetischen als der politischen Ebene. Dies birgt die Gefahr von Massenprotesten. Das Risiko einer internen Destabilisierung. Mögliches Risiko eines neuen Maidan.“
Ein deutscher Experte, Bundeswehroffizier und Kommentator bei der ZEIT, sagt schon die Bedingungen für die nächste Revolution voraus: „Die Wahl von Selenskyj ist die letzte Chance, friedlich eine Herstellung des Rechtsstaates ohne Korruption zu erzwingen. Sollte es Selenskyj nicht hinbekommen, gibt es nach dem nächsten Maidan die Jakobiner-Diktatur und danach einen Napoleon. Sollte es die dritte Revolution geben, wird sie Züge der französischen Revolution tragen. Putin hat dafür gesorgt, dass ein großer Teil der ukrainischen Patrioten mittlerweile mit Waffen umgehen kann und Waffen hat. Eine dritte Absprache irgendwelcher Oligarchen wird es nicht geben. Versagt Selenskyj mit seinen Reformen, wird die dritte Revolution anders verlaufen als die zwei Vorgänger. Leute wie Achmetov oder Medvedchuk werden dann Emigranten sein...wenn sie Glück haben.“
Das Verrückte ist, dass auch viele Nationalisten zu Selenskyjs Unterstützern und Wählern gehören. Sie sehen den Fortschritt vor allem darin, dass in Zeiten des Krieges überhaupt eine demokratische, spannende Wahl stattgefunden hat, auch wenn der Sieger nicht nach ihrem Geschmack ist. Das sollte ja eigentlich selbstverständlich sein, nicht aber für viele Poroschenko-Anhänger. Der Schriftsteller Sergej Zhadan schrieb beispielsweise in der NZZ, alle Selenskyj-Wähler hätten nur den „Fernsehpräsidenten“ gewählt, seien also unfähig zu urteilen und naiv. Wäre das eine spontane Äußerung in einem Live-Interview gewesen, könnte man achselzuckend darüber hinweggehen. Alle 13,6 Millionen Selenskyj-Wähler kann er ja nicht kennen. Aber in einem diagnostischen Artikel in der Auslandspresse beschreibt man doch nicht drei Viertel seiner Landsleute als Idioten?
Ich selbst wurde von Poroschenko-Wählern und Anhängern mehrmals als „anti-ukrainischer Propagandist“ beschimpft, weil ich die Meinung vertrat, dass Selenskyj wie jeder Bürger das Recht habe, als Präsident zu kandidieren, so er die gesetzlich vorgeschriebene Antrittsgebühr zahlt. Der Souverän entscheidet. Die Überzeugung der Poroschenko-Anhänger, „Wir sind aber sensibler und sehen Gefahren, die ihr nicht seht“, ist kein Grund, die Demokratie abzuschaffen.
Die Selenskyj-Hasser können in zwei Angstgruppen unterschieden werden
Bei den Selenskyj-Hassern kann man zwei Angstgruppen unterscheiden. Die einen werden von der Angst getrieben, Selenskyj könnte die Interessen der Ukrainer verraten, etwa zu nachgiebig gegenüber Putin auftreten. Oder er könnte tatsächlich eine Restauration einleiten und Janukowytsch und dessen Freunde rehabilitieren oder für den Oligarchen Kolomoiski arbeiten.
Viele Selenskyj-Hasser haben jedoch schlichtweg Angst, von den goldenen Fleischtöpfen vertrieben zu werden, Privilegien und Macht zu verlieren und vielleicht sogar bestraft zu werden für ihr sündiges Tun. Zu dieser Angstgruppe gehören viele der hohen und mittleren Beamten, Richter, Abgeordneten und deren Familien, Angestellte und Geschäftspartner.
„Bei dem alten System wussten wir, welche Fäden wir ziehen müssen“, erklärte mir eine Architektin. Sie hatte ein Haus für einen prominenten Poroschenko-Vertreter und stadtbekannten Dieb projektiert und hoffte auf weitere Aufträge. Ob sie „für“ oder „gegen“ die Ukraine ist, beeinflusst ihre Entscheidung, den jetzigen Präsidenten zu hassen, in keinster Weise. Der Neue könnte dafür sorgen, dass ihr geliebter Dieb keine weiteren Häuser bauen kann und ins Ausland fliehen muss, das reicht als Motiv.
Doch wenn die Wahlprognosen wieder so genau sind wie zu den Präsidentenwahlen, darf man das Beste für die Ukraine hoffen. Demnach sieht es so aus, als würde die Selenskyj-Partei hoch gewinnen, jedoch nicht die absolute Mehrheit. Sie müsste koalieren, was die Legitimation des Präsidenten enorm erhöhen dürfte, vor allem wenn dieser Koalitionspartner die Partei des über jeden Verdacht erhabenen Patrioten und Rock-Stars Swatoslaw Wakartschuk sein sollte, was derzeit als wahrscheinlich erscheint. Vielleicht kommen einige Selenskyj-Hasser dann doch noch zur Besinnung. Poroschenko ist ja erst spät Patriot geworden, erst, als es nötig war und sich finanziell lohnte. Swatoslaw Wakartschuk hat auf dem Maidan gekämpft und ist schon immer als Patriot und Heimatliebender aufgetreten.
Die beste Überzeugungsarbeit würden Selenskyj und seine Partei natürlich durch gute Arbeit leisten. Außenpolitisch hält er den Kurs Richtung Westen, es sind keine Anzeichen von Verrat erkennbar. Die Friedensbemühungen mit Russland sind sicher naiv, werden aber wieder einmal zeigen, wer der Aggressor ist.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht notwendigerweise die Position der Redaktion von Ukraine verstehen bzw. dem Zentrum Liberale Moderne.
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