Erste Skandale im ukrainischen Wahlkampf
Christoph Brumme berichtet vom Wahlkampf in der Ukraine: von „Treueprämien“ und dem versuchten Kauf von Wählerstimmen
1000 Hrywnja, etwa 33 Euro, sollten Wähler bekommen, die ihre Stimme Julia Tymoschenko und ihrer Partei geben, informiert die Polizei in Krementschuk. Zeugen berichten von telefonischen Angeboten, polizeiliche Ermittlungen wurden eingeleitet.
Vertreter von Timoschenkos Vaterlandspartei bestätigen die Vorkommnisse und beschuldigen eine Firma, die für ihren Konkurrenten arbeitet, für die Organisation “Solidarität“ des Präsidenten Petro Poroschenko. Der Regionalvertreter der „Solidarität“ bestreitet die Vorwürfe; das seien Provokationen und Legenden. Abgeordnete beider Parteien beschuldigen sich gegenseitig, groß angelegte Bestechungsversuche vorzubereiten. Laut Auskunft der Polizei werden bisher 19 Fälle untersucht.
Besonders effektiv kann die Methode der telefonisch vereinbarten Bestechung eigentlich nicht sein, da die Geldgeber ja nicht überprüfen können, ob die Bestochenen sich in den Wahlkabinen an die Vereinbarung halten. So dachte ich zumindestens. Inzwischen musste ich mich eines Besseren belehren lassen. Ein ukrainischer Freund erklärte mir gestern, dass die bestochenen Bürger in der Wahlkabine den Wahlzettel als Beweis fotografieren sollen.
Und wenn die Bestechungsversuche an die Öffentlichkeit gelangen, wie jetzt, dürfte das viele Wähler abschrecken, diese Partei(en) zu wählen.
Andererseits zeigt die Erfahrung, dass manche Menschen bereit sind, ihre Stimmen dem Meist- oder Zuerst-Bietenden zu geben. Der frühere Bürgermeister von Poltawa, Mamai, ließ vor einigen Jahren jeweils einige Kilo Zucker an Rentner und Pensionäre verteilen, um ihre Stimmen zu bekommen – weshalb die Bushaltestelle vor der Verteilungsstelle bis heute im Volksmund „die Gezuckerte“ genannt wird.
„Ausgerechnet Zucker, das würde ja in Deutschland beinahe als Gift gelten“, meinte ein Besucher aus Deutschland, dem ich davon erzählte. Aber wenn man von einer Rente von 45 Euro leben muss, sind einige Kilo Zucker zum Einmachen von Früchten oder gar 1000 Hrywnja „Treueprämie“ nennenswerte Größen.
Früher konnten Wahlergebnisse ziemlich leicht gefälscht werden. Im Donbas, wo ich während der Wahl im Februar 2010 war, unterhielt ich mich einige Tage nach der Wahl mit einer Wahlleiterin auf dem Balkon des Kulturhauses. Auf die Lenin-Statue unter uns weisend, wollte ich von der Frau wissen, wie viele Stimmen die Kommunisten bekommen hatten. „Offiziell oder wirklich?“, fragte sie. Danke, diese Antwort genügte eigentlich.
Entsprechend absurd waren die anschließend Wahl-Analysen der meisten Politologen, die die Zahlen „für bare Münze“ nahmen und auf ihrer Grundlage „regionale Stimmungen“ analysierten.
Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass auch heute noch solche Fälschungen stattfinden, insbesondere in kleineren Siedlungen. Denn auch dort gibt es oligarchische Strukturen. Einige wenige Familien besitzen oder verfügen über strategische Objekte wie Busunternehmen, Schweinefarmen, Bäckerei, das Krankenhaus oder ein subventioniertes Kulturhaus. Und diese Familien „helfen einander“, sie kungeln und mauscheln, weil sie das müssen, weil die Gesetze zu verrückt sind, weil man aus Nächstenliebe Nachbarn und Freunden helfen will. Man muss Verabredungen mit der staatlichen Verwaltung und dem Bürgermeister treffen, zum gegenseitigen Nutzen und an der Praxis orientiert, versteht sich.
„Wenn ihr die Partei der Regionen wählt, erhalten wir bessere Aufträge aus der Gebietshauptstadt“, erzählte der Fuhrunternehmer Mischa seinen Arbeitern in meinem Beisein. Eine andere Partei mit anderen Abgeordneten könnten womöglich eine andere Firma unterstützen.
Da die Löhne und Renten so niedrig sind, hat das Pathos im Kampf gegen die Korruption oft einen faden Beigeschmack. Sicher, gemeint sind die „großen Fische“, Oligarchen und Abgeordnete, Chefs von Steuerbehörden oder Richter. Aber die Schattenwirtschaft würde nicht funktionieren ohne Millionen arbeitender Menschen, die keine Steuern zahlen (können) und mit ihren Arbeitgebern lieber „informelle Absprachen“ sprechen, als für lächerliche Löhne auch noch abartige bürokratische Hürden zu überspringen.
Doch ab welchem Wert nennt man es Korruption, wann ist es noch Mundraub?
In Victor Hugos Roman „Die Elenden“ wird der Familienvater Jean Valjean zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er für seine hungernden Kinder etwas Brot geklaut hatte. Nach mehreren Fluchtversuchen summiert sich seine Strafe auf neunzehn Jahre. Im Vorwort zu diesem Roman schrieb Victor Hugo 1862: „So lange auf Erden Unwissenheit und Elend bestehen, so lange werden Bücher von der Art des vorliegenden nicht nutzlos sein“.
In der Ukraine leben viele Menschen jenseits Kyjiw in solcher Not, dass sie eigentlich Brot klauen müssten. Ein Rentner beispielsweise, Bekannter meiner Schwiegermutter, der bald eine höhere Rente von acht Griwna im Monat erhalten wird, etwa 25 Euro-Cent. Statt 1500 Hrywnja nun 1508. Ein halbes Brot, im Sommer ein Kilo Kartoffeln.
Doch für „einfachen“ Diebstahl können in der Ukraine immerhin Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren verhängt werden. Es wäre interessant zu wissen, wie viele Menschen in ukrainischen Gefängnissen sitzen, weil sie wie Jean Valjean handelten. Der Diebstahl einer Fabrik wird natürlich nie bestraft, das muss man nicht überprüfen.
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