Die Toten schwei­gen nicht – Wer waren die Täter?

Zweites Welt­krieg Denkmal in Kyjiw, © Shut­ter­stock, Drop of Light

Das Mas­sa­ker in Kor­jukiwka von 1943 ist eines der Kriegs­ver­bre­chen, die nicht voll­stän­dig erforscht wurden. Im zweiten Teil zum ver­ges­se­nen Mas­sa­ker von Kor­jukiwka, geht der Autor Chris­toph Brumme der Frage nach, wer die Täter waren und wer die Befehle erteilt hat.

In der Ukraine wird das Kriegs­ver­bre­chen von Kor­jukiwka meis­tens als „ver­ges­sene Tra­gö­die“ bezeich­net. Aber in einer Tra­gö­die handeln alle Betei­lig­ten zwang­haft, vom Schick­sal getrie­ben, um ihre Inter­es­sen und ihre Ansich­ten durch­zu­set­zen. Das trifft auf die Mörder von Kor­jukiwka aber nicht zu. Sie hatten die Wahl, im Gegen­satz zur ukrai­ni­schen Zivilbevölkerung.

Wer waren die Kriegs­ver­bre­cher, wer hat die Befehle erteilt?

Ukrai­ni­sche His­to­ri­ker bezeich­ne­ten bis vor wenigen Jahren „Hitlers General Adolf Heu­sin­ger“ als haupt­ver­ant­wort­li­chen Befehls­ge­ber. In rus­si­schen Medien wurde er noch 2019 als Inspi­ra­tor des Ver­bre­chens genannt.

Wer in der Bun­des­wehr gedient hat, wird bei dem Namen Adolf Heu­sin­ger auf­mer­ken. Denn General Adolf Heu­sin­ger war der erste Gene­ral­inspek­teur der Bun­des­wehr. Er diente in vier Armeen, beim Kaiser, in der Reichs­wehr, 12 Jahre in der Wehr­macht, dann in der Bun­des­wehr und der NATO, sogar als Vor­sit­zen­der des NATO-Mili­tär­aus­schus­ses. Der von ihm 1967 gestif­tete und nach ihm benannte General-Heu­sin­ger-Preis gilt bis heute als höchste Aus­zeich­nung der Offi­ziers­aus­bil­dung der Bundeswehr.

Und dieser Mann soll ein Kriegs­ver­bre­cher gewesen sein? Unbe­strit­ten ist, dass er von Sep­tem­ber 1940 bis zum 20. Juli 1944 Chef der Ope­ra­ti­ons­ab­tei­lung des Gene­ral­sta­bes des Heeres (OKH) war. Somit war er dem jewei­li­gen Gene­ral­stabs­chef der Wehr­macht direkt unter­stellt und berei­tete dessen täg­li­che Lage­vor­träge vor Hitler vor, wobei Heu­sin­ger bei diesen Vor­trä­gen assis­tierte. Heu­sin­ger plante maß­geb­lich den Über­fall auf die Sowjet­union, obwohl er wusste, dass Hitler diesen Krieg als ras­sen­ideo­lo­gi­schen „Ver­skla­vungs- und Ver­nich­tungs­feld­zug“ (Emil Nolte) durch­füh­ren wollte. Er war dann auch der Koor­di­na­tor für die Bekämp­fung der Par­ti­sa­nen in den besetz­ten Gebie­ten und ließ die „Richt­li­nien für die Ban­den­be­kämp­fung“ und für die „Behand­lung poli­ti­scher Kom­mis­sare“ aus­ar­bei­ten, ein­schließ­lich des Rechts auf „kol­lek­tive Gewalt­maß­nah­men“, also Mas­sen­morde an der Zivil­be­völ­ke­rung. General Heu­sin­ger war ein klas­si­scher Schreib­tisch­tä­ter. Als Zeuge sagte er bei den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen aus, dass die Bekämp­fung von Par­ti­sa­nen vor allem der „sys­te­ma­ti­schen Redu­zie­rung des Slawen- und Juden­tums“ diente.

Aber er war kein Mit­glied der SS und konnte der SS eigent­lich keine Befehle ertei­len, auch nicht einem SS-Kom­mando in der ukrai­ni­schen Provinz. Den kon­kre­ten Befehl, die Ein­woh­ner von  Kor­jukiwka zu töten, hat er wohl nicht gegeben. Während des Atten­tats am 20. Juli 1944 stand er neben Adolf Hitler, als die Bombe Stauf­fen­bergs explo­dierte. Heu­sin­ger wurde schwe­rer ver­letzt als Hitler. Als er dann General bei der Bun­des­wehr war, bezeich­nete er in einem Tages­be­fehl zum 20. Juli 1959 das Atten­tat auf Hitler als „Licht­punkt in der dun­kels­ten Zeit Deutsch­lands. Wir Sol­da­ten der Bun­des­wehr stehen in Ehr­furcht vor dem Opfer jener Männer, deren Gewis­sen durch ihr Wissen auf­ge­ru­fen war. Sie sind die vor­nehms­ten Zeugen gegen die Kol­lek­tiv­schuld des deut­schen Volkes. Ihr Geist und ihre Haltung sind uns Vorbild.“

Die Suche nach dem Täter

Der Vorwurf, dass er für das Mas­sa­ker von Kor­jukiwka ver­ant­wort­lich gewesen sei, wurde zum ersten Mal im Dezem­ber 1961 von der UdSSR erhoben. Eine sowje­ti­sche Außer­or­dent­li­che Staats­kom­mis­sion erklärte ihn zum Kriegs­ver­bre­cher und ver­langte seine Aus­lie­fe­rung. Doch die vor­ge­leg­ten Doku­mente bewie­sen nur, was ohnehin bekannt war – „daß die meisten Feld­zugs­pläne des Dritten Reiches gegen Deutsch­lands euro­päi­sche Nach­barn in der Ära des Ope­ra­ti­ons­chefs Heu­sin­ger (1940 bis 1944) aus­ge­ar­bei­tet worden waren“, wie der SPIEGEL berich­tete. „Heu­sin­gers west­li­che Freunde wehrten denn auch prompt die sowje­ti­sche Attacke ab. Das State Depart­ment ließ die rote Note unbe­ant­wor­tet zurück­ge­hen, während Heu­sin­ger kom­men­tierte: ‚Das ist ein großer Witz.‘“

Und dennoch geis­tert dieser „Witz“ bis zum heu­ti­gen Tag durch ukrai­ni­sche und rus­si­sche Medien. Wenn er nicht im Text erscheint, so werden sowje­ti­sche Doku­men­tar­filme auf YouTube ver­linkt, in denen Heu­sin­ger als Ver­ant­wort­li­cher genannt wird.

Sowohl in deutsch‑, wie auch in ukrai­nisch- und rus­sisch­spra­chi­gen Quellen wird als unmit­tel­ba­rer Befehls­ge­ber vor Ort ein Bruno Franz oder Bruno Franz Beyer (Bayer, Baier) ange­ge­ben. Er soll der Stabs­chef der nächst­ge­le­ge­nen Kom­man­dan­tur der Wehr­macht im 130 Kilo­me­ter ent­fern­ten Konotop gewesen sein. Bei Wiki­pe­dia auf Deutsch heißt es bei­spiels­weise, „Den Befehl zum Anfang der Ver­gel­tungs­ak­tion gab der Stabs­chef der Haupt­feld­kom­man­dan­tur 399 Beyer Bruno Franz aus (geb. 1888 in Kassel).“ Er soll das Mas­sa­ker nach einigen Quellen auch gelei­tet haben.

Die Kom­man­dan­tur gehörte zur Hee­res­gruppe Süd, deren „Straf­ab­tei­lung“ war die Ein­satz­gruppe C, Son­der­kom­mando 4a.

Der SS-Stan­dar­ten­füh­rer Paul Blobel war einer der Führer dieses Kom­man­dos, er erwähnte vor seiner Hin­rich­tung 1951 im soge­nann­ten „Ein­satz­grup­pen­pro­zess“ in einer eides­statt­li­chen Erklä­rung tat­säch­lich einen Kom­man­deur und Haupt­sturm­füh­rer Beyer.

Es lohnt sich, aus dieser Erklä­rung des SS-Stan­dar­ten­füh­rers Paul Blobel etwas aus­führ­li­cher zu zitieren:

„Ich bekam im Herbst 1942 die Aufgabe, als Beauf­trag­ter Müllers in die besetz­ten Ost­ge­biete zu fahren und die Spuren der Mas­sen­grä­ber, die von den Hin­rich­tun­gen der Ein­satz­grup­pen stamm­ten, zu ver­wi­schen. Diese Aufgabe hatte ich bis zum Sommer 1944. Während meiner Dienst­zeit als Chef des Son­der­kom­man­dos 4 A vom Zeit­punkt der Auf­stel­lung im Juni 1941 bis zum Januar 1942, wurde ich ver­schie­dent­lich mit den Auf­ga­ben der Hin­rich­tung von Kom­mu­nis­ten, Sabo­teu­ren, Juden und anderen uner­wünsch­ten Ele­men­ten beauf­tragt. Die genaue Zahl der hin­ge­rich­te­ten Per­so­nen ist mir nicht mehr erin­ner­lich. Einer ober­fläch­li­chen Schät­zung nach, für deren Rich­tig­keit ich keine Gewähr geben kann, vermute ich, dass sich die Zahl der Hin­ge­rich­te­ten, woran das Son­der­kom­mando 4 A betei­ligt war, zwi­schen 10000 und 15000 bewegt.

Ich habe ver­schie­de­nen Mas­sen­exe­ku­tio­nen bei­gewohnt und in zwei Fällen mit der Leitung der Exe­ku­tion befoh­len worden. [...] Von der Gesamt­zahl der zu der Exe­ku­tion bestimm­ten Per­so­nen, wurden jedes Mal 15 Mann an den Rand des Mas­sen­gra­bes geführt, wo sie sich hin­knien mussten, das Gesicht zum Grab gewandt. Klei­dung und Wert­sa­chen wurden zu dieser Zeit noch nicht ein­ge­sam­melt. Später wurde das geän­dert. Die Exe­ku­ti­ons­kom­man­dos bestan­den aus Männern des Son­der­kom­man­dos 4 A und aus Miliz und Polizei. Nachdem die Leute zur Exe­ku­tion fertig waren, gab einer meiner Führer, dem das jewei­lige Exe­ku­ti­ons­kom­mando unter­stand, den Feu­er­be­fehl. Durch die kniende Lage am Rand des Mas­sen­gra­bes fielen die Opfer meis­tens gleich in das Mas­sen­grab. Ich habe stets grö­ße­ren Exe­ku­ti­ons­kom­man­dos die Erschie­ßun­gen durch­füh­ren lassen, da ich den Gebrauch von Genick­schuss­spe­zia­lis­ten ablehnte. Jedes Kom­mando schoss für unge­fähr eine Stunde und wurde dann abge­löst. Die noch zu erschie­ßen­den Men­schen waren in der Nähe der Exe­ku­ti­ons­stätte ver­sam­melt und wurden von den Mit­glie­dern der Kom­man­dos, die im Augen­blick nicht an den Exe­ku­tio­nen teil­nah­men, bewacht. Die hier geschil­derte Exe­ku­tion wurde von mir selbst beauf­sich­tigt und ich habe darauf gesehen, dass keine Über­griffe stattfanden.

Das Son­der­kom­mando 4 A hatte auch Frauen und Kinder erschos­sen. Im Sep­tem­ber oder Oktober 1941 erhielt ich von der Ein­satz­gruppe C unter Dr. Dr. RASCH einen Gas­wa­gen und eine Hin­rich­tung wurde durch Gebrauch des Gas­wa­gens vor­ge­nom­men. Dieser bestand aus einem Drei-Tonnen-Last­wa­gen, der voll­kom­men luft­dicht abge­schlos­sen war und in dem unge­fähr 30 bis 40 Leute Platz hatten. Nach unge­fähr 7 bis 8 Minuten waren sämt­li­che Insas­sen, die den gif­ti­gen Gasen aus­ge­setzt waren, tot. Ich habe selbst die Leichen gesehen, als diese aus dem Gas­wa­gen aus­ge­la­den wurden.

Da ich während der Zeit vom Juni 1941 bis Januar 1942 mehr­fach schwer erkrankte und in ver­schie­de­nen Heil­stät­ten unter­ge­bracht war, können mir nicht sämt­li­che Exe­ku­tio­nen des Son­der­kom­man­dos 4 A zur Last gelegt werden. Während meiner Abwe­sen­heit wurde das Kom­mando von Dr. Dr. RASCH, Haupt­sturm­füh­rer Wal­de­mar von RADETZKI und Dr. BEYER, Haupt­sturm­füh­rer, über­nom­men und unter deren Leitung fanden eben­falls eine Anzahl von Mas­sen­hin­rich­tun­gen statt. – Nürn­berg, den 6. Juni 1947“

„Es fanden keine Über­griffe statt“

Es fanden keine Über­griffe statt, zwei­fel­los ein unge­heu­er­li­cher Satz. Die Men­schen wurden „nur“ ermor­det, aber „korrekt“, „ohne Über­griffe“. Dem Hin­rich­tungs­kom­mando wurde nicht zu viel zuge­mu­tet, es wurde nach einer Stunde abge­löst. War dieser erwähnte Dr. Beyer der Kom­man­deur des Mas­sa­kers von Kor­jukiwka? Lebt er viel­leicht noch? Immer­hin fanden vor knapp drei Jahren Repor­ter des ARD-Maga­zins „Kon­traste“ noch die zwei ehe­ma­li­gen Waffen-SS-Mit­glie­der Herbert Wahler und Kurt Gosdeck aus der glei­chen SS-Ein­satz­gruppe 4a, die das Mas­sa­ker von Babyn Jar und die Mas­sen­er­schie­ßun­gen im 2.Halbjahr 1941 in Poltawa zu ver­ant­wor­ten haben.

Und wer waren die sowje­ti­schen Hilfs­po­li­zis­ten? Waren das tat­säch­lich Ukrai­ner? Dass Ukrai­ner sich an der Ermor­dung von jüdi­schen Men­schen betei­lig­ten, ist bekannt, auch für die Gegend von Kor­jukiwka, bei­spiels­weise für die Bezirks­haupt­stadt Konotop. So erschoss dort am 1. Novem­ber 1941 eine Abtei­lung der Feld­gen­dar­me­rie der SS-Brigade mit Unter­stüt­zung der ukrai­ni­schen Polizei 153 Juden. Ins­ge­samt wurden in der Stadt 280 jüdi­sche Fami­lien, unge­fähr 1000 Men­schen, ermordet.

Im Novem­ber 1947 fand in der Ukraine in der Gebiets­haupt­stadt Tscher­ni­hiw der soge­nannte „sowje­ti­sche Nürn­berg-Prozess“ gegen 13 unga­ri­sche und drei deut­sche Offi­ziere statt, die für Kriegs­ver­bre­chen gegen die Zivil­be­völ­ke­rung, unter anderem in Kor­jukiwka, ange­klagt und ver­ur­teilt wurden. Unter ihnen war auch der in den Quellen oft genannte unga­ri­sche Gene­ral­leut­nant Zoltán Aldja-Papp , nach dessen „Direk­ti­ven“ auch das Mas­sa­ker von Kor­jukiwka durch­ge­führt worden sein soll. Ins­ge­samt nahmen die unga­ri­schen Truppen an der Ver­nich­tung von bis zu 60.000 Zivi­lis­ten allein im Tscher­ni­hi­wer Gebiet teil. Aldja-Papst wurde wie alle 16 Ange­klag­ten zur Todes­strafe ver­ur­teilt, die Strafen wurden jedoch abge­mil­dert in 25 Jahre Arbeits­la­ger in Workuta. 1955 wurden die Ver­ur­teil­ten nach Hause ent­las­sen. Aldja-Papst soll nach seiner Frei­las­sung als Pries­ter und Mis­sio­nar in Indien gedient haben und 1987 in Den Haag gestor­ben sein.

Wün­schens­wert wäre, ein deutsch-ukrai­nisch-unga­ri­sches For­schungs­pro­jekt zu initi­ie­ren, um dieses furcht­bare Kriegs­ver­bre­chen einer­seits endlich auf­zu­klä­ren, ande­rer­seits aber auch, um im inter­na­tio­na­len Maßstab daran zu erinnern.

Portrait von Christoph Brumme

Chris­toph Brumme ver­fasst Romane und Repor­ta­gen. Seit dem Früh­jahr 2016 lebt er in der ost­ukrai­ni­schen Stadt Poltawa.

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