Demokraten sind keine Feinde
Der Wahlkampf war hart und endete mit einer Sensation. Jetzt sollten die Ukrainer die Chance nutzen und den neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyjs in seinem versprochenen Kampf gegen die Korruption unterstützen. Von Christoph Brumme
Ich verstehe, wenn jemand traurig ist, weil ein Kandidat die Wahl verloren hat, den man sich als Präsident gewünscht hat. Ich verstehe auch, wenn jemand verzweifelt ist, weil man dem Sieger nicht zutraut, dass er dem Amt gewachsen ist. Ich habe auch Verständnis dafür, dass man über einen Neuling und Anfänger spottet – zumal wenn dieser selbst ein beruflicher Spötter ist.
Was ich jedoch angesichts der Wahl in der Ukraine nicht begreife und wofür ich auch kein Verständnis habe, ist, dass man den Sieger und seine Wähler als Feinde bezeichnet, als „nützliche Idioten Moskaus“ und als Verräter.
In meiner derzeitigen Wahlheimat Poltawa haben 82,5 Prozent der Wähler Wolodymyr Selenskyj gewählt, nur 15,5 Prozent Petro Poroschenko. Und diese 82 Prozent sollen ihre Heimat und ihr Land, also sich selbst verraten haben? Die sollen so blöd sein und sich für eine Rückkehr zur sowjetischen Diktatur entschieden haben, wie heute ein durchaus gebildeter Mensch aus Poltawa schrieb – in eine Zeit also, in der es weder freie Wahlen, noch eine freie Presse gab, geschweige denn eine aktive Zivilgesellschaft, eine patriotische, kampferprobte Armee, ein breites Spektrum an Parteien etc.?
Man muss leider sagen, dass Petro Poroschenko und seine Vertreter in den Regionen mit bösartiger, „schwarzer“ PR viel zu der vergifteten Stimmung zwischen den Wählern beider Kandidaten beigetragen haben. Mit einem Sieg Selenskyjs drohe „eine Revanche Russlands“, ein neuer Maidan, erklärte etwa die Pressestelle vom Block Poroschenko in der zentral-ukrainischen Stadt Poltawa. Noch am Tag vor der Wahl wurden massenhaft Zeitungen und Werbezettel verteilt, auf denen Selenskyj als Kokser dargestellt wurde. Für den Fall seines Sieges wurde der „katastrophale Zusammenbruch“ der Landeswährung prophezeit, das Ende des visafreien Verkehrs nach Europa und die Besetzung der Ukraine durch „grüne Männchen“ wie auf der Krim. Noch heute kleben Zettel an Häuserwänden mit der Aufforderung „Збережи Украіну!, Behalte die Ukraine!“, dahinter ein rot durchgestrichenes „Зе!“, Selenskyjs Markenzeichen.
In allen historischen Beispielen, die mir geläufig sind, haben Populisten Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen nur mit knappen, meistens nur relativen Mehrheiten gewonnen. Donald Trump erhielt in den USA 46 Prozent der Stimmen von 24 Prozent der Wahlberechtigten, Jair Bolsonaro in Brasilien 55 Prozent Stimmen, Rodrigo Duterte auf den Philipinnen nur 39 Prozent, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien 33 Prozent. Eine rechtspopulistische Partei wie die AfD in Deutschland kam mit 12,6 Prozent der Stimmen in den Bundestag, laut Umfragen könnte sie bei den nächsten Wahlen in Ostdeutschland stärkste Partei werden und 23 Prozent erreichen. Es würde zwar nicht helfen, die Wähler dieser Parteien oder Präsidenten als Idioten zu bezeichnen, aber ich hätte Verständnis dafür.
Aber angesichts von 72 Prozent der Wählerstimmen und in manchen Wahlbezirken weit über 80 Prozent erscheint es mir peinlich, verrückt und grotesk, dass die Wahlverlierer in diesen Ergebnissen eine Katastrophe sehen und als Erklärung Verrat und Feinschaft gegen das eigene Volk anbieten.
Vielleicht kommt man mit der Vermutung weiter, dass die meisten armen Ukrainer Selenskyj gewählt haben, die meisten vermögenden Ukrainer oder solche mit gut bezahlten Jobs aber Poroschenko? Logisch wäre es. Erstere haben die Hoffnung, besser zu leben, letztere die Angst, etwas zu verlieren oder gar von den goldenen Fleischtöpfen vertrieben zu werden. Hier in Poltawa jedenfalls hörte ich oft, dass die Menschen nicht glauben, dass sich unter Poroschenko ihre soziale Situation verbessern könnte. Und die politische Klasse und die korrupten Beamten des Landes müssen sich mehr vor Selenskyj fürchten als vor Poroschenko.
Selenskyj hat nicht auf Angst gesetzt, sondern positive Botschaften verbreitet. Er hat ein Ende der Epoche der Armut und der Korruption versprochen. Das ist zweifellos Populismus in reinster Form und gänzlich unrealistisch. Aber ein Anfang muss gemacht werden, denn mit Renten von umgerechnet 50 Euro kann man kaum überleben. Vom Glauben und von der Sprache, Poroschenkos Wahlkampfthemen, wird man nicht satt. „It’s the economy, stupid!“, mit diesem Spruch hatte Bill Clinton 1992 den Wahlkampf gegen Georg W. Bush gewonnen, und an diesen Satz hätte auch Poroschenko denken sollen. Der Laie Selenskyj hat das Problem erkannt und erklärt, dass die beiden schlimmsten Feinde der Ukraine der Krieg und die Korruption sind.
Kann Wolodymyr Selenskyj es sich leisten, seine Wähler zu betrügen wie seine Vorgänger es getan haben? Meines Erachtens nicht, denn das wäre Selbstmord, und er würde sein Lebenswerk als Künstler zerstören. Er kann scheitern aufgrund seines Unvermögens oder zu starker Widerstände der alten Kräfte. Das jedoch sollten selbst seine heftigsten Kritiker ihm nicht wünschen. Stattdessen sollten sie ihre Ressentiments überwinden, wie es Poroschenko am Wahlabend vormachte, als er seinem Bezwinger zum Sieg gratulierte und ihm Hilfe versprach. So ist es fair und unter Demokraten üblich. Ex unitate vires, Einigkeit macht stark. Für den gemeinsamen Feind aller Ukrainer war die demokratische Wahl schon eine herbe Niederlage. Dieser Triumph sollte nicht verschenkt werden, indem sich Ukrainer gegenseitig des Verrats bezichtigen. Und wie in Demokratien üblich könnte man dem neuen ukrainischen Präsidenten auch eine Schonfrist von 100 Tagen einräumen und ihn an dann an seinen Taten messen und nicht nach scherzhaften Sketchen aus der Vergangenheit beurteilen.
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