111 Gründe, die Ukraine zu lieben
In seinem Buch „111 Gründe, die Ukraine zu lieben“ beschreibt der Autor Christoph Brumme, warum er dieses Land mehr als schätzt. Dafür radelte er 30.000 km durch die Ukraine und hat einiges erlebt. Für Ukraine verstehen fasst er seine wichtigsten Gründe zusammen.
Mein allerwichtigster Grund ist schnell genannt – Weil man wie im Rausch radeln kann. Einerseits ist das Land fast doppelt so groß wie Deutschland, andererseits leben hier nur etwa halb so viele Menschen. Außerdem gibt es (fast) keine Fahrradwege, dadurch hat man als Radfahrer mehr Möglichkeiten zur freien Persönlichkeitsentfaltung. Beispielsweise auf einer etwa 30 Meter breiten Straße kurz hinter der polnisch-ukrainischen Grenze. Die Löcher im harten lehmigen Boden waren tief, irgendwelche Markierungen waren nicht vorhanden, bergauf herrschte Linksverkehr, bergab Rechtsverkehr. Es war genug Platz für alle da. Alle verstießen gegen die gesetzlichen Regeln, weil deren Einhaltung das Fahren nur erschwert und gefährlicher gemacht hätte.
Ich brauche als Radfahrer keine vorgezeichneten Wege. Wo man nicht fahren kann, weil die Straße zu eng und der Verkehr zu dicht ist, da suche ich eben andere Wege.
Die Brücke über den Dnipro bei Tscherkassy ist für Radfahrer verboten? Dann lässt man sich von einem Wärter auf dem Fußweg über die Brücke führen. Manche Straßen sind brutal (heftige Bodenwellen, scharfkantiger Schotter), andere sind ideal, wie etwa die zwischen Poltawa und Kyjiw – 366 Kilometer, geradelt an eineinhalb Tagen. Jeder entscheidet selbst, welche Risiken er eingeht, das nennt man Freiheit und Emanzipation. Auch viele Einheimische haben ja keine andere Möglichkeit, als am Rand der Fernstraße von Dorf zu Dorf oder zu den Feldern zu radeln.
Wie langweilig ist dagegen das Radeln in solchen geordneten Ländern wie Polen oder Deutschland. Alle paar Meter Verkehrszeichen, durchzogene weiße Linien in scharfen Kurven und an den Rändern, Fahrverbot auf Autobahnen – jede Menge Entmündigungsrituale. Und wenn keine Polizei zu sehen ist, weisen eifrige Bürger auf Regelverletzungen hin, in Deutschland gerne schreiend und brüllend. In der Ukraine bin ich bei fast 30.000 geradelten Kilometern von Polizisten immer nur beschenkt oder beglückwünscht worden. Einmal luden mich ukrainische Zöllner an der Grenze zum Wodkafrühstück ein, weil sie ebenfalls „Fahrradenthusiasten“ waren. Überflüssig zu erwähnen, das dies woanders unmöglich wäre.
Dank des Emanzipationsschubs nach dem Euromaidan fordern nun aber auch immer mehr Ukrainer, Fahrradwege anzulegen, vor allem in den Städten. In Poltawa finden inzwischen pro Jahr mehrere Fahrraddemonstrationen mit vielen hundert Teilnehmern statt. Auch Cafés und Restaurants beteiligen sich an diesen Aktionen; die Radfahrenden werden dann zu günstigen Preisen beköstigt. Und in Dikanka, 30 Kilometer nördlich von Poltawa, wurde inzwischen das erste Fahrradmuseum der Ukraine eröffnet.
Der größte Reichtum des Landes sind natürlich die Menschen.
Die schönsten Überraschungen erlebt man diesbezüglich nach meiner Erfahrung in den extremen, verrufenen Gegenden – im Donbas, in den nationalistischen Hochburgen des Westens und in Poltawa, der geistigen und spirituellen Hauptstadt der Ukraine. Allerdings sollte man als Westler vorher das Gepäck des moralischen Rigorismus ablegen und sich mit Humor wappnen. Dann kann man es genießen, in den Karpaten mit einer Zigarette der Wehrmacht beschenkt und begrüßt zu werden, auch wenn der Tabak nach den vielen Jahrzehnten keinen Geschmack mehr hat. Oder man kann im Donbas beim abendlichen Besäufnis zusammen mit dem Stadtkommandanten singen „Wir sind Schachtjori“, obwohl der nächste Schacht Dutzende Kilometer entfernt ist. Und in Poltawa taucht man am besten in den Underground der Künstler ein, um sich an psychedelischer Musik und anregenden Kräutern zu erfreuen und den Geist der Argonauten einzuatmen, die hier lange vor Christi Geburt mit ihrem Schiff gelandet sein sollen. Oder um sich erzählen zu lassen und zu erleben, weshalb in dieser Stadt die Gogolewschina regiert, die nach Nikolai Gogol benannte Göttin des Zufalls und der Absurditäten.
Wer gerne etwas lauer badet und ungern gesichertes Terrain verlässt, kann in den Nachtclubs von Kyjiw die Nächte durchtanzen oder in den Kaffeehäusern von Lwiw mit den Einheimischen schwatzen und die faszinierende Geschichte dieser Stadt erkunden, hunderte Denkmäler, Museen, Galerien und Friedhöfe besichtigen und den Straßenmusikern zuhören. Für Touristen wird das Land Jahr für Jahr zweifellos interessanter. Die Vielfalt an Restaurants und Hotels wird immer größer, das Reisen aufgrund enormer Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur immer leichter und bequemer.
Die ukrainische Lebenslust ist vielfältig
Außer der reichen traditionellen Volkskultur hat sich in den letzten Jahren auch eine äußerst produktive Musikszene entwickelt, die dank des Internets und solcher Plattformen wie YouTube auch international enorm erfolgreich ist. Die Rapperin alyona alyona wurde innerhalb eines Jahres zum europäischen Star, und der Song und Clip „Drunk Groove“ der Sängerin Hanna Korsun, bekannt unter dem Künstlernamen Maruv, wurde in den letzten zwei Jahren sogar fast 150 Million mal gesehen. Absoluter Spitzenreiter ist derzeit offenbar die Gruppe KAZKA mit ihrem hochgradig emotionalen Video ПЛАКАЛА (Sie weinte), das sage und schreibe 300 Million mal angeklickt wurde und tagtäglich in vielen ukrainischen Bars und Restaurants gespielt wird. Es war jedenfalls das erste Video in ukrainischer Sprache, das mehr als 200 Millionen Aufrufe auf YouTube erzielte und in nahezu allen früheren sowjetischen Ländern zum Hit avancierte, aber auch in Ländern wie Bulgarien und Kolumbien.
Musik ist Ausdruck von Lebenslust, und diese pflegt man auch in einem Bereich, in dem fast alle Ukrainer echte Kenner sind, der nahezu unendlichen Vielfalt an Naturprodukten. Obwohl auch in der Ukraine die Industrialisierung der Landwirtschaft – und mit ihr der Einsatz von Chemikalien – immer weiter fortschreitet, sorgen Millionen fleißige Selbstversorger für ein wahrlich paradiesisches Angebot an natürlich gewachsenen Garten- und Feldfrüchten. Das Wort Naturprodukt hat in der Ukraine einen Wohlklang wie kaum ein anderes. Das beliebteste Produkt ist zweifellos Сало, Schweinespeck, der bekanntlich viel Vitamin B enthält (B 1, 2, 3, 6, 12), aber auch Mineralien wie Natrium, Kalium und Phosphor. Die Liebe zum und die Dankbarkeit gegenüber dem Schwein geht so weit, dass diesem klugen und schmackhaften Tier sogar Denkmäler gesetzt werden. Und in Lwiw gibt es das Salo, das „fetteste Restaurant der Welt“, das zugleich ein Museum ist, in dem auch Kunstwerke aus Fett ausgestellt werden, so eine Nachbildung der berühmten Fettecke des deutschen Künstlers Joseph Beuys. Dieser war 1944 Bordschütze in einer JU 87; das Flugzeug wurde über der Krim abgeschossen, Beuys schwer verletzt. Krimtataren pflegten ihn, hüllten ihn in Filz und schmierten ihn mit Fett ein, so erzählte es Joseph Beuys. Fett und Filz sollten bestimmende Elemente seines Werks werden.
Trotz des Stellungskrieges am östlichen Rand der Landes, der enormen Verteidigungsausgaben und der schwierigen Einkommensverhältnisse verlieren die meisten Ukrainer ihren Lebensmut nicht. Für melancholisch veranlagte Menschen wie mich ist es deshalb heilsam, hier zu leben und zu arbeiten. Es fällt hier leicht, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, spätestens, wenn man Freunde oder Bekannte trifft, die an der Front gedient haben oder noch dienen. Man lernt, mit wenigen materiellen Gütern auszukommen und dennoch zufrieden zu sein. Was zählt ist der Augenblick, so gelingt die Sinngebung des Sinnlosen.
Kurz gesagt: Die Ukraine ist ein Land, in dem man das Staunen nicht verlernt, weil die Wirklichkeit viel zu interessant und viel zu verrückt ist, als dass man hier mit kaltem Herzen leben könnte.
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