Warum die Ukraine EU-Bei­tritts­kan­di­dat werden muss

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Die EU-For­schung hat gezeigt, dass eine glaub­wür­dige Mit­glied­schafts­per­spek­tive ein wirk­sa­mes Mittel ist, um die libe­rale Demo­kra­tie von außen zu ver­an­kern. Des­we­gen muss die Ukraine jetzt den Kan­di­da­ten­sta­tus ver­lie­hen bekom­men. Ein Gast­bei­trag Tanja A. Börzel und Thomas Risse

Mit seinem Angriffs­krieg gegen die Ukraine hat Putin nicht nur die euro­päi­sche Sicher­heits- und Frie­dens­ord­nung zer­stört, sondern auch die libe­rale Welt­ord­nung ange­grif­fen, die auf der sou­ve­rä­nen Gleich­heit der Staaten, ihrer ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät und der fried­li­chen Lösung von Kon­flik­ten zwi­schen ihnen beruht. Die aka­de­mi­sche For­schung zur Erwei­te­rung bietet wich­tige Erkennt­nisse darüber, was die Euro­päi­sche Union (EU) tun kann, um die libe­rale euro­päi­sche Ordnung wie­der­her­zu­stel­len und zu stärken. Das hat auch Folgen für die Welt­po­li­tik: Die EU muss sich jetzt glaub­haft zu einer Mit­glied­schaft der Ukraine (sowie Mol­da­wi­ens und Geor­gi­ens) ver­pflich­ten, indem sie ihr den Kan­di­da­ten­sta­tus gewährt. Gleich­zei­tig muss der Bei­tritts­pro­zess der west­li­chen Bal­kan­län­der frei­ge­ge­ben werden, da er die Glaub­wür­dig­keit der Ver­pflich­tun­gen der EU unterminiert.

40 Jahre For­schung über die EU-Erwei­te­rung (von Spanien, Por­tu­gal und Grie­chen­land in den 1980er-Jahren bis hin zur Ost­erwei­te­rung in den 2000er-Jahren) haben ergeben, dass die EU-Mit­glied­schaft eine not­wen­dige Bedin­gung ist, um sicher­zu­stel­len, dass Natio­na­lis­mus und Libe­ra­lis­mus zusam­men­pas­sen (sie reicht nicht aus, wie der illi­be­rale Back­lash in Polen und Ungarn zeigt). Prä­si­dent Selen­skyj hat den Über­le­bens­kampf der Ukraine erfolg­reich auf Natio­na­lis­mus und Libe­ra­lis­mus auf­ge­baut. Es gibt jedoch keine natür­li­che Ver­bin­dung zwi­schen dem Streben nach natio­na­ler Selbst­be­stim­mung und indi­vi­du­el­ler Frei­heit. Viele Länder, die im Namen der libe­ra­len Demo­kra­tie das Joch der Fremd­herr­schaft abge­wor­fen haben, sind letzt­lich auto­ri­tär gewor­den – das zeigen viele Bei­spiele aus den post­so­wje­ti­schen Staaten. Hier kommt die EU ins Spiel.

Die EU-For­schung hat gezeigt, dass eine glaub­wür­dige Mit­glied­schafts­per­spek­tive, die von einer Sicher­heits­ge­mein­schaft von Demo­kra­tien geboten wird, ein wirk­sa­mes Mittel ist, um die libe­rale Demo­kra­tie von außen zu ver­an­kern. Die Bei­tritts­be­din­gun­gen stärken libe­rale Reform­ko­ali­tio­nen gegen­über kon­ser­va­ti­ven Natio­na­lis­ten und auto­ri­tä­ren Popu­lis­ten. Sie bieten auch starke Anreize für pro­fit­gie­rige Regie­run­gen, um kost­spie­lige Refor­men in den Berei­chen Demo­kra­tie und gute Regie­rungs­füh­rung durch­zu­füh­ren. Dies ist die Erfolgs­ge­schichte der Süd­er­wei­te­rung der EU in den 1980er-Jahren und der Ost­erwei­te­rung in den 2000er-Jahren. Der blo­ckierte Bei­tritt der west­li­chen Bal­kan­län­der unter­streicht die Bedeu­tung einer glaub­wür­di­gen Bei­tritts­per­spek­tive. Pro-rus­si­sche Kräfte und pro­fit­gie­rige Regie­run­gen werden gestärkt, wenn die EU ihre Zusage zur Mit­glied­schaft nicht einhält.

Glaub­wür­dig­keit wiederherstellen

Diese Erkennt­nisse haben mehrere Aus­wir­kun­gen auf die aktu­elle Debatte über den Kan­di­da­ten­sta­tus für die Ukraine, Mol­da­wien und Geor­gien. Erstens sollte die EU ihre Glaub­wür­dig­keit wie­der­her­stel­len, indem sie die Blo­ckade der Bei­tritts­ver­hand­lun­gen mit Mon­te­ne­gro aufhebt und sie mit Nord­ma­ze­do­nien und Alba­nien eröff­net, anstatt den west­li­chen Balkan als Gegen­ar­gu­ment zu benutzen.

Zwei­tens wird die Gewäh­rung des Kan­di­da­ten­sta­tus die pro-libe­ra­len Reform­ko­ali­tio­nen in den Nach­bar­län­dern Russ­lands gegen Putins Versuch, einen auto­ri­tä­ren Natio­na­lis­mus zu fördern, stärken. Eine glaub­wür­dige Bei­tritts­per­spek­tive, Demo­kra­tie­för­de­rung und Geo­po­li­tik gehören in diesem Fall zusammen.

Drit­tens wird die Ver­wei­ge­rung oder Ver­zö­ge­rung des Kan­di­da­ten­sta­tus die Glaub­wür­dig­keit der EU in ihrer öst­li­chen Nach­bar­schaft stark beein­träch­ti­gen. Es war die EU, die den Bei­tritts­pro­zess ein­ge­lei­tet hat, nachdem die Ukraine am 28. Februar, dem fünften Tag des rus­si­schen Groß­an­griffs, einen Antrag auf sofor­tige EU-Mit­glied­schaft gestellt hatte: Das Euro­päi­sche Par­la­ment stimmte dem Antrag einen Tag später (1. März) zu. Kurz darauf for­derte der Euro­päi­sche Rat die Euro­päi­sche Kom­mis­sion auf, ihre Stel­lung­nahme zum Bei­tritts­an­trag der Ukraine abzu­ge­ben (10./11. März).

Weitere vier Wochen später (8. April) über­reichte Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin von der Leyen dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Selen­skyj in Kyjiw den Fra­ge­bo­gen zum EU-Bei­tritt und ver­sprach, dass die Mei­nungs­bil­dung über die Bei­tritts­fä­hig­keit der Ukraine nur Wochen und nicht Jahre dauern würde. Als die Ukraine ihre Ant­wor­ten auf den Fra­ge­bo­gen in weniger als einem Monat (19. April) vor­legte, bestä­tigte die Kom­mis­sion, dass sie ihre Stel­lung­nahme sehr schnell abgeben würde. Auf der Son­der­ta­gung des Euro­päi­schen Rates nahmen die Regie­run­gen der Mit­glied­staa­ten die Vor­be­rei­tung der Stel­lung­nah­men der Kom­mis­sion zum Antrag der Ukraine auf Mit­glied­schaft in der EU ein­stim­mig zur Kennt­nis und kün­dig­ten an, die Ange­le­gen­heit auf ihrer Tagung im Juni (30. Mai) wieder aufzugreifen.

Kein Rückzug

Wenn die Kom­mis­sion bis Mitte Juni eine posi­tive Stel­lung­nahme abgibt, ist es schwer vor­stell­bar, dass der Euro­päi­sche Rat den Kan­di­da­ten­sta­tus ver­zö­gern oder ableh­nen kann. Die EU hat sich selbst in den Bei­tritts­pro­zess ver­strickt. Wenn die Mit­glieds­staa­ten der Meinung sind, dass der anhal­tende Krieg, der west­li­che Balkan oder der Reform­be­darf der EU gegen den Kan­di­da­ten­sta­tus spre­chen – warum sollte man dann die Ukraine ermu­ti­gen, die not­wen­di­gen Schritte zu unter­neh­men? Jetzt einen Rück­zie­her zu machen, indem man auf recht­li­che und tech­ni­sche Argu­mente zurück­greift, würde die neu gewon­nene west­li­che Soli­da­ri­tät im Kampf gegen aggres­si­ven auto­ri­tä­ren Natio­na­lis­mus unter­gra­ben. Es würde auch das rest­li­che Ver­trauen der post­so­wje­ti­schen Länder in die EU zer­stö­ren, die sich der rus­si­schen Aggres­sion ent­ge­gen­stellt; nur Geor­gien und Mol­da­wien haben die UN-Reso­lu­tion zur Ukraine unterstützt.

Am wich­tigs­ten ist viel­leicht, dass die EU, wenn sie ihre frühere Zusage nicht einhält, jeg­li­che Glaub­wür­dig­keit ver­lie­ren würde, die sie bei den der­zei­ti­gen und poten­zi­el­len Kan­di­da­ten­län­dern noch hat. Der Kan­di­da­ten­sta­tus ist nicht gleich­be­deu­tend mit einer Mit­glied­schaft, und der Bei­tritt ist ein lang­wie­ri­ger Prozess mit offenem Ausgang. Daher ist es umso wich­ti­ger, dass Länder mit einer Bei­tritts­per­spek­tive dem Enga­ge­ment der EU ver­trauen können. Die Bei­tritts­kon­di­tio­na­li­tät ist das einzige Instru­ment der EU, das sich bei der Schaf­fung von Frieden und der För­de­rung der Demo­kra­tie im Ausland als wirksam erwie­sen hat. Damit es wirksam bleibt, muss die EU ihre Ver­spre­chen einhalten.

Während die Risiken bes­ten­falls lang­fris­tig zu sein schei­nen, liegen die Chancen des Kan­di­da­ten­sta­tus auf der Hand. Die Ver­lei­hung des Kan­di­da­ten­sta­tus an die Ukraine, die Repu­blik Moldau und Geor­gien sowie die Wie­der­auf­nahme der Bei­tritts­ver­hand­lun­gen mit den in Frage kom­men­den Ländern des west­li­chen Balkans werden das glaub­wür­dige Bekennt­nis der EU zu libe­ra­len Werten in Bezug auf ihre Nach­barn wie­der­her­stel­len. Darüber hinaus verfügt die EU damit über ein umfas­sen­des Instru­men­ta­rium zur Unter­stüt­zung pro-west­li­cher Reform­ko­ali­tio­nen in diesen Ländern, das sicher­stellt, dass Natio­na­lis­mus und Libe­ra­lis­mus mit­ein­an­der ver­ein­bar sind.

Ein starkes Enga­ge­ment für die ukrai­ni­sche Demo­kra­tie ver­schafft der EU auch neue Glaub­wür­dig­keit, wenn es darum geht, mit ihren eigenen Mit­glie­dern, die gegen grund­le­gende Prin­zi­pien ver­sto­ßen, wie Polen und Ungarn, ernst zu machen. Nicht zuletzt wird der Kan­di­da­ten­sta­tus neben Sank­tio­nen und Waffen ein wei­te­res starkes poli­ti­sches Signal aus­sen­den, dass der Westen gegen Putins Aggres­sion an der Seite der Ukraine steht und dass die Euro­päer bereit sind, ihren Teil zum Erhalt der libe­ra­len inter­na­tio­na­len Ordnung beizutragen.

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