Wo Berlin ukrainisch ist
Etwa 24.000 Menschen mit ukrainischer Migrationsgeschichte leben mittlerweile in Berlin. Aktives ukrainisches Leben hat es hier seit dem 19. Jahrhundert gegeben – divers, bunt und einzigartig, von der Wissenschaftlerin bis zum Bauarbeiter, von der Informatikerin bis zum Pflegehelfer. Zusammen mit Olesia Lazarenko hat unsere Autorin Oleksandra Bienert die ukrainischen Orte der Stadt auf einer Karte zusammengestellt. Sie liegt nun auf Deutsch und Englisch, online und offline vor.
Hier können Sie die Karte als PDF herunterladen: auf Deutsch oder auf Englisch.
Das Video der Vorstellung der Karte am 30. August können Sie im Youtube-Kanal des Zentrums Liberale Moderne abrufen.
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Als ich 2005 nach Berlin kam, faszinierten mich die „Leerstellen“ in der Stadt. Hier gab es viel Platz, um eigenen Gedanken und Ideen einen freien Lauf zu lassen. In manchen früher besetzten Gebäuden haben sich Kultureinrichtungen angesiedelt, was mich sehr inspirierte. Auch war nicht jedes Thema erforscht. Eine dieser Leerstellen war für mich die ukrainische Geschichte der Stadt. Mich beschäftigte immer wieder die Frage: wer war vor uns aus der Ukraine hier? Wo finde ich deren Spuren? Und warum sind die in Berlin so wenig sichtbar? Über manches aus dieser Thematik haben Historiker wie Frank Golczewski, Dmytro Burim und Karl Schlögel geschrieben. Hin und wieder traf man außerdem auf „Oasen“ – wichtige einzelne Initiativen oder Projekte, die mit der Ukraine verbunden waren und bereits in der Stadt wirkten. Aber es gab hier weder eine ukrainische Bibliothek noch ein „Ukrainisches Institut“ oder ein „Ukrainisches Haus“.
Wie ich später in ukrainischen Diasporas anderer Länder sah, hat dieser Zustand auch etwas Gutes. Wir hatten zwar ein lückenhaftes kulturelles und kommunikatives Gedächtnis darüber, was in der Stadt vor uns passierte. Aber gleichzeitig konnten wir frei Neues erschaffen. Wenn man etwas machen wollte, hat man einfach nach Gleichgesinnten gesucht und es angepackt. Wir Ukraineinteressierten trafen uns auf selbstorganisierten Stammtischen, Picknicks, Lesekreisen, Volkstanzkursen, Vorträgen, Ausstellungen und Kino-Abenden, sprachen viel miteinander, lernten uns besser kennen und vernetzten uns online.[1] Es wirken mittlerweile sehr viele Projekte in der Hauptstadt, die sich mit der deutsch-ukrainischen Beziehungen beschäftigen.[2] Ukrainerinnen und Ukrainer waren öfter in der Stadt mit sichtbaren Protesten und mehrmals auf dem Karneval der Kulturen präsent, es wurden viele Feste gemeinsam gefeiert, ukrainische Wissenschaftler vernetzten sich – um nur einige Beispiele zu benennen.
Wachsendes Selbstbewusstsein
Es hat sich deutlich herauskristallisiert, dass unsere Prozesse eine Art Spiegel dessen waren, was in der gleichen Zeit in der Ukraine passierte. Wir wurden selbstbewusster, wussten nun mehr über uns und wollten doch keine „eine starke Hand“, die uns koordiniert. Stattdessen wirken in Berlin viele diverse Initiativen, die in die Stadt hineinstrahlen. Eine ukrainische Bibliothek gibt es zwar immer noch nicht, aber dafür kann man an mehreren Orten im Stadtzentrum per Bookcrossing ukrainische Bücher finden. Auch ein „Ukrainisches Haus“ fehlt noch, aber dafür zeigt seit 2009 der „Ukrainische Kinoklub Berlin“ regelmäßig ukrainische Filme. 2018 wurde zudem die Bar „Meduza“ eröffnet, die zu einem Zentrum des modernen ukrainischen kulturellen Lebens in der Stadt wurde. Auch andere starke humanitäre und kulturelle Initiativen entstanden. Als ich 2005 nach Berlin kam, gingen orthodoxe Ukrainer noch in die russisch-orthodoxe Kirche – wie in den 1920er Jahren. Seit 2015 wirkt in Berlin die Gemeinde des Hl. Andreas des Ersten Apostels der Orthodoxen Kirche der Ukraine. Kinder aus der Ukraine treffen sich bei „Plast“, bei „Veselka“ oder in der „Ukrainischen Schule“. Wir haben sogar mittlerweile ein „Ukrainisches Radio“ in der Hauptstadt! Diese Aufzählung kann man fortsetzen.
Gleichzeitig wissen wir auch mehr über unsere Geschichte hier. Dieses Wissen haben nun Dr. Olesia Lazarenko und ich auf einer Karte zusammengefasst. Darauf wurden 39 Orte chronologisch (der erste Ort ist 1862 datiert!) ausgewählt, die mit ukrainischer Kultur, Religion und Geschichte seit dem 19. Jahrhundert verbunden sind. Unsere Quellen waren Erinnerungen, persönliche Dokumente und Nachlässe, Unterlagen ukrainischer Vereine und Zeitungen. Bei der Auswahl haben wir bewusst auf eine Aufzählung existierender Initiativen und Vereine verzichtet (die gibt es schon[3]), sondern wollten einen Anstoß zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema geben. Die ausgewählten Orte verstehen sich als exemplarisch und haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vorrang hatten physische Orte in Berlin, die mit ukrainischer Geschichte und Gegenwart verbunden sind.
Vom Missionspriester zum Haus mit dem Dreizack
So haben wir die Wirkungsstätte von Pfarrer Petro Werhun (1890–1957) in Prenzlauer Berg aufgenommen, der Missionspriester der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in Deutschland war. Werhun blieb bis 1945 in Berlin, um seiner Gemeinde auch in den letzten Kriegstagen beizustehen. Am 22. Juni 1945 wurde er vom sowjetischen Militär verhaftet und nach Sibirien verbannt, wo er 1957 starb. 2001 wurde er seliggesprochen.
Das Kino „Arsenal“ am Potsdamer Platz haben wir aufgenommen weil es nach dem Film „Arsenal“ (1929) von Oleksandr Dowschenko (1894–1956) benannt ist. Ebenso Dowschenkos Berliner Wohnadresse.
Ebenfalls hier ist das „Haus mit dem Dreizack“ am Heidelberger Platz in Wilmersdorf, das mit dem auf dem Giebel angebrachten Wappen der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) immer wieder Aufmerksamkeit erregt. Es war ein wichtiges ukrainisches Exil-Zentrum im Berlin der Zwischenkriegszeit und beherbergte seit 1923 verschiedene Organisationen, etwa die ukrainische Gemeinde, den ukrainischen Pressedienst sowie den Verband ukrainischer Offiziere. Die OUN, die hier nach 1931 residierte, ließ ihren Dreizack mit Schwert anbringen, der von Laien leicht mit dem ukrainischen Wappen (Dreizack ohne Schwert) verwechselt wird. Zur Geschichte von OUN gehört auch die Kooperation mit den Nationalsozialisten, worüber selbstverständlich auch gesprochen werden muss.
Wichtig war uns auch die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die Zahl der Ukrainer in Berlin erreichte damals seinen Höchststand, viele Frauen und Männer wurden als NS-Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Hier führen wir drei exemplarische Orte auf – zwei in Betrieben, wo ukrainische Zwangsarbeiter eingesetzt wurden (das „Handwerkervereinshaus“ in Mitte und die allbekannte „Kulturbrauerei“) sowie als persönliches Schicksal die ukrainische Zwangsarbeiterin Raisa, die einer Kreuzberger Familie den Haushalt führen sollte. Raisa kehrte 1945 in die Heimat zurück.
Ebenfalls sind auf der Karte Orte verzeichnet, wo Menschen aus dem heutigen Gebiet der Ukraine deutliche Einflüsse aus ihrer Heimat mitbrachten. Etwa der Schauspieler Alexander Granach, der bekannte Opernsänger aus Bukowina, Joseph Schmidt oder der aus Brody stammende Schriftsteller Joseph Roth. Sie waren alle jüdischer Herkunft, sind aber für uns ein fester Bestandteil der gemeinsamen deutsch-ukrainischen Geschichte und somit auch unserer Karte.
Berlin, wir sind da
Während der Erstellung der Karte wurde uns klar, wie wenig wir über die ukrainische Nachkriegsgeschichte in Ost- und West-Berlin wissen. Auch werden Sie merken, wie wenig Frauen auf der Karte eine Stimme haben. Von den 14 Persönlichkeiten sind nur zwei Frauen. Das ist nicht so, weil wir Frauen nicht aufnehmen wollten, sondern weil die Forschung hier immer noch nicht weit genug ist. Auch wissen wir wenig über Menschen, die weniger Quellen hinterließen, etwa Bäcker und Arbeiter. Diese Lücken gilt es immer noch zu schließen.
Mit dieser Karte wollen wir ein Zeichen geben: wir sind da. Auch, wenn wir vielleicht mehrere Orte haben, die wir „unser Zuhause“ nennen. Auch, wenn manchmal vielleicht zwei Herzen in unserer Brust schlagen (eins für die alte Heimat und eins für die neue). Auch, wenn wir Brot beim Bäcker immer noch mit Akzent bestellen. Wir haben diese Stadt liebgewonnen und fühlen uns als ein Teil davon. Mehr sogar: wir wollen Berlin bereichern. Mit jemandem, der/die ins Abgeordnetenhaus kandidiert. Oder mit jemandem, der/die die Berliner Gegenwart malt. Oder mit jemandem, der/die in einem der Berliner Orchester die erste Geige spielt. Oder mit jemandem, der/die eine Frau pflegt. Mit der Karte wollen wir sagen: wir sind hier zu Hause.
Die Karte (Sprachversionen: Deutsch und Englisch) wurde anlässlich des 30. Jahrestages der Unabhängigkeit der Ukraine von CineMova. Ukrainian Film Community Berlin e.V. und der Deutsch-Ukrainischen Akademischen Gesellschaft e.V. erstellt.
Inhaltliche Konzeption: Oleksandra Bienert, Dr. Olesia Lazarenko.
Mitarbeit: Polina Atvi, Mariya Goncharenko-Schubert, Svitlana Heleta-Finn, Tim Schubert, Elmar Schulte.
Layout: Arina Yanovych.
Gefördert durch die Deutsch-Ukrainische Akademische Gesellschaft e.V.
Zur Bestellung der gedruckten Version und für Kommentare und Anmerkungen bitte eine Mail an cinemovaberlin@gmail.com schreiben!
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