Putins anti-Ukraine-Politik – eine Bedrohung für den Westen
Für viele ein Ausdruck von Putins negativer Ukraine-Politik: Der zerstörte Flughafen von Donezk. Foto: Denis Kornilov / Shutterstock
Weil Russland eine demokratische Ukraine als Bedrohung für das eigene Herrschaftssystem wahrnimmt, hat der Kreml ein umfassendes System negativer Ukrainepolitik etabliert. Deren Grundlagen und Ziele hat Präsident Putin erst vor wenigen Wochen noch einmal umfassend erläutert. Dennoch fehlt es in Berlin und Brüssel an Verständnis für die davon ausgehende Bedrohung. Die Bundesregierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte haben sich sogar immer weiter in Putins anti-Ukraine-Politik einbinden lassen, schreibt Jan Claas Behrends.
In den Turbulenzen des frühen 19. Jahrhunderts lavierte der preußische König Friedrich Wilhelm III zwischen Russland und Frankreich. Zwar hatte er Sympathien für die aufgeklärten Reformen im Westen, doch St. Petersburg garantierte den preußischen Machtzuwachs auf Kosten Polens im Osten. Der „Melancholiker auf dem Thron“ (Thomas Stamm-Kuhlmann) verabscheute es, sich festzulegen und ließ sich in der Diplomatie gern treiben. So wurde Preußen zuerst 1805/06 und danach 1812/13 zum Spielball anderer Mächte – zum Glück des Königs ging das Spiel für ihn und Preußen gut aus und er ritt mit dem Zaren 1814 in Paris ein. Dies besiegelte zugleich das Schicksal Polens, da Preußen und das Deutsche Reich bis zum Ersten Weltkrieg Teil des russischen Systems „negativer Polenpolitik“ (Klaus Zernack) blieben. Es stand im Zentrum der deutsch-russischen Dominanz in Osteuropa. Die antipolnische Politik umfasste dabei nach dem Verlust der Souveränität stets den Angriff auf polnische Sprache, Wissenschaft, Kultur und Religion. Doch die eigentliche Garantie für die negative Polenpolitik bildete die russische Besatzung in der riesigen Zitadelle vor den Toren Warschaus.
Freie Wahlen und zwei Revolutionen als Quantensprünge nach Westen
Geschichte wiederholt sich nicht, doch sie schreibt sich fort. Osteuropa ist in der Gegenwart – wie im 19. Jahrhundert – der Raum zwischen Deutschland und Russland. Seit 1989 herrscht hier wieder eine nationalstaatliche Ordnung, ein Wilsonsches System souveräner Nationen, das allerdings nur teilweise durch NATO und Europäische Union abgesichert wird. Die Ukraine liegt in der Grauzone zwischen dem westlichen Bündnissystem und einem revisionistischen Russland, das die frühere Sowjetunion als Einflusszone beansprucht – einschließlich „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (Carl Schmitt).
Im Unterschied zu den anderen beiden großen slawischen Sowjetrepubliken – Russland und Belarus – hat sich die Ukraine nach 1991 sukzessive einem westlichen Gesellschaftssystem angenähert. Trotz verschiedener Rückschläge und oligarchischer Strukturen wurden seit 1991 immer wieder freie Wahlen zum Präsidenten und zum Parlament abgehalten und zwei Revolutionen 2004 und 2014 wirkten wie Quantensprünge in Richtung Westen.
Seit der „orangenen Revolution“ von 2004 nimmt das Russland Wladimir Putins die Ukraine als Bedrohung für das eigene Herrschaftssystem wahr. Eine erfolgreiche Demokratie, eine freie Gesellschaft in der unmittelbaren Nachbarschaft ist eine direkte Herausforderung für die Moskauer Autokratie. Als Reaktion auf dem demokratischen Umbruch im Nachbarland etablierte der Kreml Schritt für Schritt ein System negativer Ukrainepolitik, das weit umfassender ist als nur die energiepolitische Komponente – die beiden Nord Stream Pipelines, die in Deutschland diskutiert werden. Die negative Ukrainepolitik beinhaltet vielmehr eine Vielzahl militärischer, geheimdienstlicher, kultureller und auch religionspolitischer Komponenten. Nur in dieser Gesamtschau erschließt sich die Dimension der Bedrohung für die ukrainische Gesellschaft und die Souveränität des Staates.
Moskaus negative Politik begann schon lange vor 2014
Die negative Ukrainepolitik begann bereits lange vor der Annexion der Krim und der militärischen Intervention Russlands im Donbas im Frühjahr 2014. Energiepolitisch bedeutete Nord Stream 1 seit 2005 den ersten Angriff auf die Ukraine als Transitland für russisches Gas. Das komplexe sowjetische System gegenseitiger infrastruktureller Abhängigkeiten wurde gezielt durch eine bilaterale Verbindung zwischen Russland und Deutschland ersetzt. Damit stieg die Erpressbarkeit der ukrainischen Regierung: zugleich sank die Abhängigkeit Russlands vom Gastransit durch die Ukraine und Deutschland wurde erstmals ein Faktor in der negativen Ukrainepolitik des Kremls.
Zugleich verbreitete Moskau in seinen kontrollierten Medien, aber auch in den Reden Putins, eine anti-ukrainische Rhetorik, deren Kern die Behauptung bildet, dass Russen und Ukrainer eine Nation bilden. Die ukrainische Staatlichkeit wird wahlweise als historischer Irrweg oder Erfindung des Westens beschrieben, deren eigentlicher Sinn nur in der Schwächung Russlands bestehe. Als „natürlicher Zustand“, den es wieder herzustellen gilt, wird die Vereinnahmung der Ukraine durch Russland betrachtet. Dabei benutzte Moskau immer wieder auch seinen Einfluss auf die orthodoxe Kirche in der Ukraine, um seine aggressive Rhetorik im Nachbarland zu verbreiten. Erst durch die Gründung einer autokephalen ukrainischen Kirche wurde dieser Einfluss Moskaus teilweise eingedämmt. Das Moskauer Patriarchat, das nach wie vor die Mehrzahl der orthodoxen Gemeinden in der Ukraine kontrolliert, beharrt jedoch auf seiner anti-ukrainischen Linie.
Die „Revolution der Würde“ auf dem Maidan eröffnete die militärische Phase der Moskauer Ukrainepolitik. Seit 2014 führt Russland durch seine Unterstützung der Separatisten und auch mit regulären Truppen Krieg im Donbas. Das Ziel ist auch hier die Schwächung des ukrainischen Staates durch die Dauerbelastung des Krieges im Osten des Landes. Mit den militärisch erzwungenen Minsker Vereinbarungen versucht der Kreml zudem ein Vetorecht in der ukrainischen Innenpolitik zu erlangen – ein weiterer Angriff auf die ukrainische Souveränität. Die Verhandlungen der vergangenen Jahre zeigen, dass Moskau kein Interesse hat, die militärischen Angriffe auf die Ukraine einzustellen. Im Gegenteil: die russische Regierung verdeutlichte durch massive Truppenaufmärsche wiederholt, dass sie jederzeit in der Lage ist, den Konflikt eskalieren zu lassen.
Zuletzt hat Präsident Putin in einem Aufsatz die historischen Grundlagen und Ziele seiner negativen Ukrainepolitik noch einmal umfassend erläutert. Dennoch fehlt es in Berlin und Brüssel an Verständnis für die umfassende Bedrohung, die von seiner Politik ausgeht und für die Rolle, die wir selbst in diesem System spielen.
Deutschland hat sich in Putins anti-Ukraine-Politik einbinden lassen
Die Bundesregierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte haben sich in Putins negative Ukrainepolitik immer weiter einbinden lassen. Dies gilt insbesondere für die Jahre unter der Führung Angela Merkels. Wieder und wieder hat sich Deutschland auf die Seite Moskaus gestellt – die unterkühlten Beziehungen zu Kyiw, die beim Besuch der Kanzlerin am Wochenende deutlich wurden, sind ein Resultat dieser Parteinahme.
In Deutschland ist insbesondere über die Beteiligung an Nord Stream 2 diskutiert worden – ein Projekt, das die Kanzlerin während ihrer gesamten Amtszeit vehement verteidigte. Sie bezeichnete die Gasleitung auch dann noch als „kommerzielles Projekt“ als jedem deutlich wurde, dass sie den Kern der negativen Ukrainepolitik bildet. Doch Berlins Kooperation mit Moskau geht noch weiter. Deutschland unterstützt weiterhin die Minsker Vereinbarungen, obwohl sie militärisch erzwungen wurden und für die Ukraine nicht annehmbar sind. Außerdem hat die Bundesregierung seit 2008 wiederholt ihr Veto gegen Aufnahmeverhandlungen der Ukraine zur NATO und zur Europäischen Union eingelegt. Damit verwehrt Berlin den Ukrainern eine westliche Perspektive für ihr Land. Schließlich verhindert die Bundesregierung auch Exporte von militärischer Ausrüstung und Waffen in die Ukraine, obwohl das Land nur mit westlicher Unterstützung eine Chance hat, sich erfolgreich zu verteidigen – was ihr souveränes Recht ist.
Seit 2014 nimmt die Anerkennung der ukrainischen Kultur und Geschichte in Deutschland zu. Hierfür sind auch zahlreiche Akteure verantwortlich, die die Öffentlichkeit über das Land informierten. Es gilt jedoch anzumerken, dass die deutsche Erinnerungspolitik immer noch auf Russland fixiert ist. Dies hat sich zuletzt beim Gedenken zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die UdSSR gezeigt. Zudem war Merkel ein häufiger Gast bei Militärparaden auf dem Roten Platz – bei den Feiern zum 30. Jahrestag der Ukraine fehlte sie jedoch. Sie war bereits abgereist.
Das Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel sollte auch zu einer Neubewertung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik beitragen. Afghanistan, aber auch Osteuropa zeigen, dass die Ära Merkel uns in sicherheitspolitische Sackgassen geführt hat. Die Regierung ist in der Verantwortung, sich den Realitäten zu stellen und umzusteuern. Dazu gehört auch das Ende der impliziten Parteinahme für Moskau im Konflikt um eine souveräne Ukraine. Neutralität ist hier nicht möglich. Schweigen und Abwarten hilft nur dem Aggressor. Eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers sollte wagen, Deutschland aus den Fängen der russischen Ukrainepolitik zu befreien. Unser Ziel sollte die Unterstützung einer freien und souveränen Ukraine sein – eine Ausweitung russischer Macht und das Wiedererstehen eines imperial dominierten Raumes in Osteuropa sind nicht im Interesse Berlins.
Die Aufgabe der nächsten Regierung ist zu zeigen, dass die historischen Lektionen verstanden worden sind. Berlin ist eine westliche Stadt und Deutschland ist nicht Preußen. Wir sind nicht mehr der Pudel Russlands in einem System Moskauer Dominanz.
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