Ein demokratischer Selenskyj wäre ein Segen
Seit knapp 30 Tagen ist Wolodymyr Selenskyj Präsident der Ukraine. Hält er sein Aufbruchsversprechen – oder deckt er das System einer kleptokratischen Klasse? Ein Kommentar von Marieluise Beck
Der neue Präsident der Ukraine ist eine Black Box, scheinbar aus dem politischen Nichts via Showbusiness ins Zentrum der Macht katapultiert. Ein Kandidat, der sich den Medien ansonsten verweigerte, der keine Journalistenfragen beantwortete, der nicht offenlegte, was ihn umtreibt und wo er hinwill. Ein Populist neuen Typs – er trat nicht auf, um zu spalten, sondern um zu versöhnen. Dass Wolodymyr Selenskyj ohne Umschweife Russisch sprach, während das Land versucht, das Ukrainische als Nationalsprache wiederzubeleben, war eine kluge Geste. Dass er seine jüdische Herkunft nicht verbarg, aber auch nicht zum Thema machte, war eher sympathisch. Dass er jung und unverbraucht daherkam, gefiel den Menschen, die das „Establishment“ satthaben.
Poroschenkos durchwachsene Bilanz: Die Ukraine will mehr
Sein Konkurrent hatte schlechtere Karten. Poroschenko blieb dem Alten in vielem verhaftet. Er verkaufte seine Unternehmen nicht, wie vor der Wahl versprochen. Junge Minister, die das Land reformieren wollten, verließen entnervt das Kabinett. Der von ihm eingesetzte Generalstaatsanwalt – einst der prominenteste politische Häftling neben Julija Tymoschenko – schonte immer offensichtlicher die Großen. Ohne den Druck von G7, IWF und der EU kamen Reformen nur zögerlich voran. Der Krieg belastet das Land und die Transformation eines industriellen Dinosauriers ist schmerzhaft.
Eine durchwachsene Bilanz, könnte man sagen. Poroschenko ein Garant für Stabilität. Aber die Ukraine wollte mehr. Sie wollte einen Aufbruch, einen weiteren Aufbruch sollte man sagen. Manche hier nennen die Wahl des Neuen einen dritten Maidan – einen Maidan an der Wahlurne.
Selenskyjs Personalpolitik riecht nach Vetternwirtschaft
Selenskyj hat die ersten Schritte gemacht. Der neue Präsident kam zu Fuß in die Rada, das Parlament in Kyjiw. Keine großräumig abgesperrten Straßen wie in Moskau, wenn Wladimir Putin durch menschenleere Straßen geschleust wird. Mehr noch: Wer heute in den Amtssitz des Präsidenten will, trifft nicht mehr auf Absperrungen und Passkontrollen. Der Zugang ist für Bürgerinnen und Bürger frei. Ein Präsident ohne Barrieren und mit hochgekrempelten Ärmeln. Das ist bürgernah. Das kommt gut an. Keinen Zweifel ließ der neue Präsident an der EU-Orientierung des Landes. Aber die Erinnerung an Präsident Janukowitsch, der jahrelang das EU-Assoziationsabkommen verhandelt, um es nach einem Rapport in Moskau platzen zu lassen, sitzt tief.
Dazu kommt die Komponente Ihor Kolomojskyj. Ein Oligarch, der entscheidend dazu beitrug, die Industriestadt Dnipro gegen den russischen Vorstoß zu verteidigen, wohl nicht nur aus edlen Motiven. Es ging auch darum, seine Pfründe und den Abfluss seines zusammengerafften Reichtums in den Westen zu sichern. Ein Kolomojskyj, das ahnt hier jeder, steht für maximale Bereicherung. Eine Zivilklage in den USA geht von der sagenhaften Summe von 480 Milliarden Dollar aus, die gewaschen und außer Landes gebracht wurden: Wen wundern da noch kaputte Straßen und der chronische Mangel an Investitionen im Land. Der Kandidat Selenskyj zeigte seine berühmte Serie Diener des Volkes, die ein verkappter Wahlkampf war, im Kolomojskyj-Fernsehen. Und dieser kehrte nach der Wahl flugs aus dem Exil zurück: Hatte ihm da ein neuer Präsident Sicherheit versprochen?
Und Russland? Zwar gab es nicht einmal ein Angebot, die gekaperten Seeleute freizulassen, auch sonst kein Zeichen einer Annäherung. Aber das könnte sich ändern. Das künftige Verhältnis des Präsidenten zum Kreml muss sich erst noch herausstellen.
Er kann ein Aufbruch sein
Also schauen wir auf die Tatsachen: Die erste Personalentscheidung des neuen Präsidenten betraf die Präsidialadministration. Besetzt wurde sie mit dem Anwalt Kolomojskyjs, einem früheren Mitarbeiter der Janukowitsch-Regierung, der qua geltendem Gesetz für zehn Jahre von jedem politischen Amt ausgeschlossen bleiben müsste. Flugs definierte der Präsident den Posten zu einem „nicht politischen“ um. Stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung ist hingegen ein Mann mit Reputation, der ehemalige Sherpa der Minsk-Verhandlungen zum Frieden in der Ostukraine. Ein erfahrener, westlich orientierter Diplomat. Er gilt als potenzieller neuer Außenminister.
Ebenfalls irritierend die Neubesetzung des SBU, des ukrainischen Sicherheitsdienstes. Dem Gesetz nach muss der Vorsitz an einen Mitarbeiter aus der Institution mit Dienstrang gehen. Gewählt hat Selenskyj einen Jugendfreund und Geschäftspartner. Über Nacht wurde der mit dem Dienstgrad eines Leutnants versehen. Inzwischen wurde bekannt, dass der neue Chef des Auslandsnachrichtendiensts im letzten Jahr ein Einkommen von 31.000 Dollar deklariert hat. Seine Tochter hat aber im gleichen Jahr Geschenke ihres Vaters in Höhe von 500.000 Dollar angegeben. Auch andere Vertraute aus Selenskyjs Umgebung werden in Schlüsselpositionen berufen. Freunde und Vertraute als Entourage des Präsidenten – das ist ein Netzwerk der Macht, das an die St.-Petersburg-Connection in Moskau erinnert.
Aufbruch oder Kleptokratie?
Die Liste für die anstehende Parlamentswahl ist aufgestellt. „Join us“, war auf der Website der Partei Diener des Volkes zu lesen – „Nimm teil an unserer Bewegung“. Selenskyj hat Emmanuel Macron kopiert. Jeder, der nicht mit der alten politischen Klasse verbandelt war, konnte und sollte sich bewerben. Entschieden hat die Parteispitze, darunter der 35-jährige Dmytro Rasumkow. Er war als junger Mann ein Parteigänger von Janukowitsch, doch das darf als Jugendsünde durchgehen.
In Teilen der Zivilgesellschaft sieht man diese Liste mit Wohlwollen. Viele IT-Spezialistinnen, Medienleute, Künstlerinnen, aber auch Leute aus dem Umfeld Kolomojskyjs. Viele repräsentieren eine junge Mittelschicht, die im Land entsteht. Werden sie käuflich sein? Im Land der korrupten Oligarchen ist diese Frage essenziell. Selenskyj stellte die Aufhebung der Immunität und damit die Strafverfolgung von Rada-Mitgliedern in Aussicht. Es bleibt abzuwarten, ob diese Ankündigung ernst gemeint ist. Nicht nur die potenzielle Korrumpierbarkeit, auch die Unerfahrenheit der künftigen Fraktion Diener des Volkes muss Sorgen machen. Hält der Hype um Selenskyj bis zum 21. Juli an, so kann er mit 150 oder mehr Abgeordneten in die Rada einziehen. Alle neu – alle unerfahren, eher ohne eine inhaltliche Klammer, außer, dass regiert werden soll.
Fazit: Selenskyj kann ein Aufbruch sein. Doch ein Aufbruch – selbst wenn er Rückhalt in der Bevölkerung hat – muss nicht in Demokratie münden. Ob es Selenskyj gelingt, das Land zu einen, liegt nicht nur in seiner Hand. Der Kreml lässt den Krieg weitergehen und arbeitet damit nach Kräften am Scheitern des neuen Präsidenten. Und der Westen ist bigott: Nord Stream 2 macht die Ukraine verletzlicher, der Ersatz der russischen Direktlieferungen von Erdgas durch den Reimport aus dem Westen kostet das Land Milliarden. Dem Kreml wird der Europarat zu Füßen gelegt. Die Annexion der Krim, der Krieg im Osten – war da was?
Wer also ist der neue Präsident? Das fragt sich dem Vernehmen nach auch die russische Staats- und Regierungsspitze. Nichts fürchten die Herren im Kreml mehr als eine prosperierende Ukraine. Nichts ist für Wladimir Putin beunruhigender als ein charismatischer, moderner Präsident in Kyjiw, der seine Architektur der Macht zum Einsturz bringen könnte. Ein demokratischer Selenskyj, das wäre ein Segen für die Ukraine. Ein Selenskyj, der Macht und Gewissenlosigkeit einer kleptokratischen Klasse deckt – das wäre das Schlimmste für das geplagte Land.
Der Artikel erschien zuerst bei ZEIT Online.
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