Babyn Jar: Kann Eintauchen in die Geschichte eine Lösung sein?
Die Kontroverse um Babyn Jar zeigt, dass die Suche nach angemessenem Gedenken an die Opfer des Holocausts längst nicht abgeschlossen ist. Aktuelle Ausstellungen in Kyjiw laden zum „Eintauchen“ in die Geschichte(n) einer der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts ein. Gleichzeitig wird die Debatte um eine Neugestaltung des Erinnerungsortes im Kontext des Konflikts mit Russland ausgetragen, schreibt Elisabeth Bauer.
2021 wurden nicht nur 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert, ein anderes rundes Jahresgedenken erinnerte an die systematische Auslöschung desselben: die Massenerschießungen von Babyn Jar. Am 29. und 30. September 1941 organisierten die NS-Besatzer in einer Schlucht am Kyjiwer Stadtrand das zahlenmäßig größte antisemitisch motivierte Massaker in einem so kurzen Zeitraum. An zwei Tagen wurden 33.771 Menschen im Zuge des Ostfeldzugs systematisch vernichtet. Nachdem die jüdische Bevölkerung Kyyjiws weitestgehend ausgelöscht war, töteten die Nazis und ihre lokalen Kollaborateure vermehrt andere Minderheiten wie Roma, psychisch Kranke, Rotarmisten, ukrainische Nationalisten, Gegner des NS-Regimes sowie einfache Zivilisten – so erhöhte sich die Zahl der in der Schlucht Babyn Jar Ermordeten im Laufe der Besatzungszeit auf 70.000 bis 100.000, manche Quellen sprechen von 200.000. Einheiten der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes waren für die Verfolgung und Vernichtung der lokalen Bevölkerung, vor allem der jüdischen, zuständig. Auch das Sonderkommando 4a, die Polizei-Bataillone 45 und 303, Teile des Polizei-Regiments „Russland Süd“ sowie Teile der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN) als Hilfspolizei waren an den Massenerschießungen in Babyn Jar – auf Deutsch “Weiberschlucht” – beteiligt. Die Wahl war nicht zufällig auf diesen Ort gefallen: Die Schlucht, unweit des Stadtzentrums gelegen, ließ sich gleichzeitig als Erschießungsstelle und Massengrab nutzen.
Die „russische“ Initiative: Spiegel und Kristalle
Heute liegt am Fuß des noch nachzuempfindenden Abhangs von Babyn Jar ein rundes, flaches Metallpodest. Hohle Stelen, bei Dunkelheit von innen heraus beleuchtet, ragen baumstammartig in die Höhe. Das begehbare, spiegelnde Objekt wird phasenweise in summende Vibration versetzt, die im eigenen Körper nachklingt: Es übersetzt die erschütternde Abstraktheit der unzähligen Menschenleben, an diesem Ort maschinenhaft niedergeschossen, in wahrnehmbare elektrische Schwingung. Auf der Metallfläche verteilte Löcher bilden das Kaliber der hier eingesetzten Gewehre ab. Auf Ukrainisch verlesene Opfernamen, Archivaufnahmen jiddischer Melodien aus der Vorkriegszeit und pastorale Gesänge schallen über das „Spiegelfeld“.
Es ist eine der ersten Installationen, die seit 2020 schrittweise eröffnet wurden. Im Zuge des 80. Jahresgedenkens der Babyn Jar-Tragödie im Herbst 2021 wurde am Ort des Geschehens auch die vierzig Meter lange, drei Meter hohe „Klagemauer“ der Künstlerin Marina Abramovic vorgestellt: Aus ukrainischer Kohle und brasilianischen Quarzkristallen zusammengesetzt, soll sie eine symbolische Verlängerung der Klagemauer in Jerusalem darstellen, Raum für Erinnerung und Reflexion bieten. Die Interaktion mit den Kristallspitzen, in Höhe von Kopf, Brust und Bauch angebracht, soll „die Verbindung von privatem und kollektivem Gedächtnis durch Körpererfahrung“ wiederherstellen – so heißt es in der Beschreibung. Ein drittes Objekt, das der Erinnerungslandschaft wie ein Fremdkörper aufgesetzt worden ist: die “Symbolische Synagoge” aus ukrainischer Eiche in Form einer aufgestellten Thora, die geöffnet und geschlossen werden kann, bedeckt von einem bunten Symbolsystem und hebräischen Gebetssprüchen, die sich an traditionellen Synagogen der Westukraine orientieren sollen. Die Ausstellungsarchitektur des deutsch-schweizerischen Büros Manuel Herz Architects wurde bei den Dezeen Awards 2021 auf die Shortlist gesetzt.
Hinter den Objekten steht das Babyn Yar Holocaust Memorial Center (BYHMC), das angetreten ist, das Gedächtnis des Ortes zu erschließen und eine Sprache für die Geschichte von Babyn Jar zu finden. Die „private Initiative“ geht paradoxerweise auf eine Entscheidung des ehemaligen Staatspräsidenten Petro Poroschenko und Bürgermeister Vitali Klitschko im Jahr 2016 zurück, den russischen Investoren Michail Friedman, German Khan und Pavel Fuchs, freie Hand zu erteilen; die drei Co-Initiatoren sollen durch ihre Geschäfte enge Beziehungen zum Kreml pflegen. Auch Viktor Pintschuk, ukrainischer Oligarch und Kulturmäzen, der im Stadtzentrum der ukrainischen Hauptstadt das populäre Museum und Kunstvermittlungszentrum Pinchuk Art Center unterhält, ist unter den Hauptinvestoren. Mittlerweile steht ein Teil des Regierungsapparats inklusive Präsident Wolodymyr Selenskyj hinter dem Projekt; Bürgermeister Klitschko, die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch oder Joschka Fischer gehören dem Aufsichtsrat der Stiftung an.
Transformationen des Vergessens
Der Erinnerungsdiskurs um Babyn Jar kann in drei Phasen eingeteilt werden. Die Zeit unmittelbar nach den Verbrechen bzw. nach Ende der deutschen Okkupation Kyjiws 1943, als die wenigen Augenzeugen, die aus Babyn Jar fliehen konnten, vor laufender Kamera Rechenschaft ablegten und der Bau eines ersten Denkmals im Gespräch war, kann als die erste betrachtet werden. Die sowjetische ist die zweite, insgesamt von einer Politik des Vergessens gekennzeichnet, jedoch gleichzeitig von inoffiziellen, individuellen und protestartigen Erinnerungsinitiativen. Mit Erlangung der Unabhängigkeit der Ukraine beginnt die aktuelle Phase, geprägt von der Suche nach einer angemessenen Erinnerungssprache.
Die sowjetische Geschichtsschreibung, von antijüdischen und antikosmopolitischen Stimmungen geprägt, kannte keinen Holocaust – und so erinnert die Inschrift des ersten, in den 1970ern aufgestellten staatlichen Denkmals nicht an systematisch ermordete Jüdinnen und Juden, sondern an das kollektivierte „sowjetische Volk“. Anstatt das Schicksal der jüdischen Bürger Kyyjiws, die der nationalsozialistischen Ideologie zufolge komplett vernichtet werden sollten, explizit zu würdigen und Babyn Jar als Symbol für den Holocaust anzuerkennen, wurde die Topographie von Babyn Jar seit den 1950er Jahren bebaut: ein stalinistischer Wohnkomplex, eine Straße, ein Park. 1959 fragte der russische Schriftsteller Viktor Nekrassow in der Liternaturnaja Gazeta in seinem Artikel “Wieso ist das nicht gemacht worden?” empört:
„Ist das denn möglich? Wem konnte das in den Sinn kommen – eine Schlucht von 30 Metern Tiefe zuzuschütten und am Ort der größten Tragödie herumzutollen und Fußball zu spielen? Nein, das darf man nicht zulassen! Wenn ein Mensch stirbt, beerdigt man ihn, und auf seinem Grab errichtet man ein Denkmal.“
In den 1950ern wurde Babyn Jar tatsächlich “zugeschüttet”, indem man den Abraum der benachbarten Ziegelfabrik in die Schlucht leitete. Aufgrund fahrlässiger Baufehler kam es am 13. März 1961 nach starken Regenfällen zu einem Dammbruch, mit dem sich das Schlammwasser in umliegende Bezirke und über Wohnhäuser mitsamt ihrer Bewohner und Bewohnerinnen ergoss. Der Versuch, den Erinnerungsraum von Babyn Jar zu fluten, mündete in der Kureniwka-Katastrophe, die wohl weit über 145 Menschen in den Tod riss.
Neue Formen der Erinnerung
Das BYHMC präsentiert sich als Forschungszentrum, digitale Plattform und den Planungen zufolge auch bald als Museum am historischen Ort des Geschehens. Schon jetzt können auf der Webseite 3D-Modelle, Archive aus teilweise erstmalig digitalisierten Fotografien, Texten und Zeitzeugen-Berichten sowie das Dokumentationsprojekt unter Leitung des ukrainischen Regisseurs Sergej Loznitsa eingesehen werden. Die „weltweit vollständigste“ Database an Opfernamen wurde veröffentlicht.
Als 2019 bekannt wurde, dass der russische Filmemacher Ilja Chrschanowski (Ilya Khrzhanovsky), Schöpfer des skandalumwitterten Mega-Filmprojekts “DAU” die künstlerische Leitung des BYHMC übernehmen würde, waren Protestrufe aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Medien zu vernehmen; als im April 2020 ein “unfertiger” Konzeptentwurf durch ein Leak in die ukrainische – und von dort in die internationale – Presse gelangte, wurde lautstark Chrschanowskis Rücktritt gefordert. Wie schon bei DAU wird einerseits die interne Arbeitsweise des Künstler-Kurators kritisiert, andererseits sein von vielen als totalitär bezeichneter Umgang mit Geschichte und Kunst. „Unser Ziel ist, (die Erinnerung an die Tragödie) von etwas Abstraktem in etwas Lebendiges zu verwandeln, in etwas mit emotionaler Wirkung, in etwas, das Empathie auslösen kann“ – beschreibt Chrschanowski das kreative Konzept auf der Webseite. Die meisten Projekte unter seiner Aufsicht bedienen sich immersiver Strategien, um Holocaust-Geschichte zu vermitteln, etwa das „Interaktive Tagebuch“, ein dokumentarisch-künstlerisches Projekt, basierend auf realen Lebensgeschichten. Das Frage-Antwort-„Spiel“ macht von Archivfotos Gebrauch, um die Realität der Opfer des Genozids abzubilden, und verspricht, in die Leben der Protagonisten „eintauchen“ und das historisch-psychologische Verständnis vertiefen zu können.
Kritik zu diesen Formen immersiver Geschichtsvermittlung kommt etwa von Kateryna Chujeva, Präsidentin des International Council of Museums (ICOM) Ukraine, einer NGO, die sich für einen ethischen Museumskodex einsetzt. Chujeva warnt vor Strategien der „Re-Traumatisierung“, der sich das BYHMC bediene: „Wenn der Mensch, um sich über die Bedeutung, Wichtigkeit, Komplexität und Tragik von Geschichtsprozessen bewusst zu werden, psychologisch oder physisch in sie eintauchen muss – dann ist das Re-Traumatisierung.“ In einer ethischen Museumspraxis dürfe so etwas nicht zugelassen werden.
„Es ist weder möglich noch wünschenswert, den Holocaust für historisch Interessierte real werden zu lassen; wir können uns nicht in das Holocaust-Universum als gelebte Erfahrung hineinversetzen“, schreibt Jessica Rapson in Topographies of Suffering (2015). Während „Begegnungen“ mit der Vergangenheit durch Erinnerungstexte (Literatur, Landschaften, Denkmäler, Massengräber) wichtig seien, sei jeder Anspruch auf totalisierende Objektivierung und Beherrschung der Vergangenheit unangemessen.
„How possibly could one intervene in such a place?“
Was in der Debatte um die Entstehung eines Museumskomplexes auf dem Gelände von Babyn Jar nicht übersehen werden darf: Auf dem Papier existieren staatliche Regelungen, die das Bauen auf der geschützten Denkmalzone verbieten; erlaubt sind lediglich mobile, vorübergehend errichtete Pavillons. Drei Mal wurde also bereits gegen die Bauverordnung verstoßen, ein seit Monaten, als ob im Bau befindliches Objekt soll zum „Holocaust-Disneyland“ des BYHMC hinzukommen.
Ein bewegungsloser Kran hängt über einer Baugrube, der Sichtschutz zeigt Modellierungen des zukünftigen Museums “Kurgan” nach einem Entwurf des Berliner Architekturbüros SUB. Hier soll die Geschichte der Massenerschießungen mithilfe von 3D-Technologie „reproduziert“ werden. Im Zentrum des Entwurfs steht das Erdreich als physische Erinnerungsschicht, die – zumindest in diesem Grundgedanken herrscht auf allen Seiten Einigkeit – höchst achtsam behandelt werden muss. „Die Erde zeichnet Geschichte nach, hat tiefgreifende Bedeutung“, sagt SUB-Architekt Andrea Faraguna bei der Projektpräsentation. „How possibly could one intervene in such a place?“, lautet eine zentrale Frage in der Diskussion um die Neugestaltung des historischen Babyn Jar-Geländes. Die vom BYHMC verfolgten räumlichen Eingriffe durch den entstehenden Museums-Begräbnishügel sowie die bereits eröffnete Synagoge wird von der Architektin Marina Otero Verzier als „confident but humble“ – selbstbewusst aber bescheiden – beschrieben. Die architektonische Intervention müsse respektvoll vonstatten gehen, aber die Stärke haben, jene zu repräsentieren, die an diesem Ort brutal zum Schweigen gebracht wurden.
Die „staatliche“ Initiative: Kampf um die Erinnerung
Einst hatten Dissidenten wie Ivan Dzuiba, Viktor Nekrassow oder Anatoli Kusnezow gegen das Verbrechen des gezielten Vergessens und „Nicht-Nennens“ protestiert; seit den Neunzigern kämpfen sie bzw. ihre „Nachkommen“ gegen die Tatenlosigkeit der Politik, wenn es um die Schaffung eines einheitlichen Erinnerungsnarrativs sowie den Schutz des Erinnerungsortes angesichts schleichender Privatisierungsversuche von Babyn Jar geht. Während politische, religiöse und ethnische Gruppierungen ihren Anspruch auf Erinnerungszeichen in Babyn Jar artikulieren, werden die Rahmen einer nationalen Erinnerungspolitik in der Ukraine nur zögerlich ausgehandelt. Davon zeugt die ungeordnete Symbollandschaft, in der sich das Areal bis heute präsentiert, bestückt von über dreißig Denkmälern, bestimmten Opfergruppen oder Einzelpersonen gewidmet. Hinter jedem Monument steht ein bestimmter Blick, eine bestimmte Lesart der Geschichte.
In den Neunzigern nimmt auch die Initiative “Babyn Jar” Gestalt an – ihrem Selbstverständnis nach die staatliche, ukrainische Erinnerungsinitiative, aus der ukrainisch-jüdischen Dissidentenbewegung hervorgegangen. Eine historische Schutzzone, ein nationales Denkmal, ein staatliches Museum – das sind die Aufgaben, denen sich die Initiative angenommen hat. Das Komitee „Babyn Jar” beruft sich auf Institutionen wie The Association of Jewish Organizations and Communities (VAAD), ukrainische wie internationale Forschungseinrichtungen, aber auch die dem rechten Lager nahestehende Organisation Ukrainischer Nationalisten. Nach jahrelangem Engagement, umfassenden Studien der historischen Topographie von Babyn Jar (davon zeugt etwa die Publikation “Babyn Jar: Macht, Mensch, Geschichte”) wird 2005 ein weiträumiges Areal zum denkmalgeschützten Reservat bestimmt; zwei Jahre später wird ihm nationaler Status zugesprochen. Mit diesem Etappensieg um den rechtsstaatlichen Schutz des Erinnerungsortes, so hofft man, konnte die interessengeleitete Bebauung gestoppt werden. Doch selbst die Ernennung zur denkmalgeschützten Zone und dem in diesem Rahmen festgesetzten Bebauungsverbot hindert private Initiativen nicht daran, weitere Vorstöße zu unternehmen. 2002 war ein erstes amerikanisches Projekt für ein jüdisches Zentrum auf dem Gelände des einzigen erhaltenen Friedhofs verhindert worden; 2006 macht eine städtische Initiative den Vorstoß, ein jüdisches Religionszentrum und Museum zu errichten – ein Grundstein wird aufgestellt.
Sinnkonflikt: Zwei Initiativen – zwei Museen?
2016 nehmen zwei Konzeptentwürfe parallel zueinander Form an – erstellt von jenen Initiativen, die bis heute in Opposition zueinander gelesen werden. Dabei handelt es sich bei dem privaten um das tonangebende, international in Kritik geratene Projekt. Den Grundsatz des Bauverbots, als zentrales Anliegen im Konzeptpapier der staatlichen Initiative genannt, hat es bereits mehrfach gebrochen. Das “Konzept einer komplexen Memorialisierung von Babyn Jar”, auf Anordnung des Präsidenten von einer Arbeitsgruppe unter Aufsicht der Akademie der Wissenschaften (NAN) erarbeitet, wird 2018 vom Ministerkabinett bestätigt. Ein Jahr später werden die Konzepte zur “Erweiterung der Grenzen des nationalen Geschichts- und Gedenkreservats” sowie “für ein Museum der Geschichte von Babyn Jar” von ukrainischen wie ausländischen Wissenschaftlichern rezensiert und im Oktober 2021 der Öffentlichkeit präsentiert.
Der Entwurf des ukrainischen Projektes schlägt auch ein ukrainisches Gedächtnismodell vor: Entstehen soll ein Erinnerungspark, der alle Tragödien von Babyn Jar abbildet, ein Museum über Babyn Jar und eines über den Holocaust – letztere außerhalb der Schutzzone. “Der Erinnerungspark ist unsere Antwort auf die chaotische Bebauung, die auch in diesem Moment auf dem Territorium Babyn Jars fortgesetzt wird”, sagt Tatjana Pastushenko, leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte (NAN) und Sekretärin der Arbeitsgruppe. Es soll ruhig der Toten gedacht werden können; anstatt auf dem historischen Areal zu bauen, sollen sowohl Orte der Massenerschießungen als auch ehemalige Friedhöfe gekennzeichnet werden. Die beiden Ausstellungskonzepte, in einem Museumskomplex zusammengeführt, verbinde die Geschichte der Massenerschießungen von Babyn Jar.
“Die Erinnerung eines solchen Ortes muss in Zusammenarbeit mit dem Staat, wissenschaftlichen und gemeinnützigen Institutionen geschehen – und darf kein kooperatives Projekt sein, verschlossen vor jedem öffentlichen Einfluss”, findet Pastushenko.
Auch Vitalyi Nachmanovich, Ethnologe, Historiker und stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgruppe, sagt in der Geschichtszeitschrift „Istorichna Prawda“, dass es Aufgabe einer staatlichen Initiative sein müsse, die fragmentierte Erinnerungslandschaft zu ordnen und die Bedeutung von Babyn Jar auszuhandeln. Die Frage sei, wer sich dieser Aufgabe annehme: Der ukrainische Staat im Austausch mit ukrainischen Wissenschaftlern und der ukrainischen Gesellschaft oder „ausländische Wohltäter unter Nachsehen des Staats und einer hilflosen Gesellschaft”.
Warum wird ein Ort maßlosen historischen Leids – je nach Auslegung – einerseits zum Zentrum nationalstaatlicher Mythenbildung, andererseits zum Austragungsort hybrider Kriegsführung ernannt? „Faktisch ist eine künstliche Konfrontation zweier Erinnerungsinstitutionen, zweier Erinnerungspolitiken, zweier Einstellungen zur Erinnerung entstanden“, sagt Kateryna Chujeva. Es fehlt also nicht nur an einer gesamtgesellschaftlichen Verständigung über ein gemeinsames historisches Gedächtnis, sondern auch an einer staatlichen Autorität, die Orientierung in Fragen der Vergangenheitsbewältigung bieten würde.
Erinnerungskrieg: “Das ist die Kapitulation“
Erinnerungskriegen ist gemein, dass sie sich in abstrakter Distanz zu ihrem Gegenstand abspielen und meist sind es Mittel mythologisierender Narration, denen sich die um das Gut „ihrer“ historischen Wahrheit konkurrierenden Parteien bedienen. So wird auch der erinnerungspolitische Konflikt von Babyn Jar auf repräsentativer – symbolischer, (global-) politischer – Ebene ausgetragen. In diesem Falle schlägt er sich ebenso in der historisch-physischen Topographie nieder: Gebaut wird, obwohl über die Zukunft des Ortes weiterhin Uneinigkeit herrscht.
Die Anhänger der ukrainischen Initiative sind überzeugt: Das “russische Projekt” ist ein Hebel im hybriden Krieg Russlands gegen die Ukraine. Khrzhanovsky und die wichtigsten Stakeholder stünden für eine verzerrte, post-sowjetische Lesart der Geschichte von Babyn Jar und des Holocausts. In dieser Perspektive werden alle ukrainischen Zeitgenossen ohne Differenzierung als Kollaborateure – oder im zeitgenössischen russischen Politjargon: als “Faschisten” – dargestellt. Indem “Russland” freie Hand im Bau eines Museums an diesem Gedenkort erteilt wurde, so die Befürchtung, wird dem Gedächtnis von Babyn Jar auch ein russisches Geschichtsnarrativ eingeschrieben.
Anfang 2021 hatte Bürgermeister Klitschko im Kyjiwer Stadtparlament für das russische Projekt und die Zuweisung dreier Grundstücke auf dem Gelände von Babyn Jar an die “russische” Initiative geworben; eine Abstimmung wurde mehrmals verschoben und endete in einem Skandal. Ein vom Institut für Menschenrechts- und Informationspolitik der Werchowna Rada eingebrachter Gesetzesentwurf wurde verabschiedet, der die Unzulässigkeit der russischen Initiative besiegeln sollte.
Trotzdem sieht es schlecht aus für die lokale Initiative. Wie im Juni 2021 bekannt wurde, hatte der staatliche Eigentumsfond am 29. April die Möglichkeit einer Vermietung des einzigen erhaltenen historischen Gebäudes in der Schutzzone von Babyn Jar prüfen lassen: der ehemaligen Kanzlei des jüdischen Luk’yanov-Friedhofs, die seit 2017 mit staatlichen und privaten Mitteln restauriert wird. Laut ukrainischem Konzept ist sie für die Museen vorgesehen. Laut Josef Zissels, ehemaliger Dissident und Kopf der jüdisch-nationalistischen Bewegung, hat Premierminister Denys Schmyhal dem Vermietungsgesuch zugestimmt – und so befindet sich auch dieses Gebäude nun in der Einflusssphäre russischer Sponsoren. Anatolyi Podol’skyi, Co-Autor des Konzeptpapiers, bezeichnet den Fall in der „Istorichna Prawda“ als „Kapitulation“ – als Beweis, dass die höchsten Staatsbeamten kapitulierten, für das Putin-Regime arbeiteten. „Jetzt kann man nicht mehr von historischen oder erinnerungsbezogenen Aspekten sprechen, sondern nur noch von politischen. Unser Staat sieht nun aus wie die Serviceeinheit eines privaten pro-russischen Projekts.”
Erinnerungspolitik: Ringen um die Vergangenheit
„Wir lernen erst jetzt aus dem schwarz-weißen Kaleidoskop auszutreten, wo alle Sowjets schlecht sind und alle Ukrainer gut. Da sehe ich eine Entwicklung. Aber bezüglich einiger Punkte – selbst für den symbolischen Raum – haben wir keine Antwort“, sagte Anton Drobovich, Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung, in einer Diskussionsrunde am Tag des 80. Jahresgedenkens. Wenn es um die „Gerechten der Weltnationen“, Kollaborationen ukrainischer Nationalisten mit den Nazis, zivile Denunziationen oder Analysen von Überlebensstrategien während der Besatzungszeit gehe, wolle man auf Regierungsebene keine eindeutige Position übernehmen: „Der Staat hat in Fragen des Gedenkens an Babyn Jar keine Subjektivität.“
Ob ein kritischer Umgang mit dem komplexen Gedächtnis von Babyn Jar möglich ist, hängt jedoch wesentlich davon ab, ob eine gesamtgesellschaftliche Diskussion ebenjener strittigen Fragen geführt wird. Während das Geschichtsnarrativ im Putin-Russland jegliche sowjetische Kollaboration während der doppelten Besatzungsphase mit den Nazis ausschließt, stehen Fragen der Interpretation und Bewertung der Rolle der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) bzw. der Bandera-Fraktion (OUN‑B) im Zentrum der nationalen Erinnerungspolitik. Neben dem alles “Sowjetische” aus der ukrainischen Realität tilgen wollenden “Dekommunisierungs-Gesetz” werde auch eine offizielle Affirmation der OUN – und eine Verzerrung der von dieser ultranationalen Bewegung vertretenen ethnozentrischen Werte – auf breiter gesellschaftlicher Ebene erfolgreich vorangetrieben, erklärt der in Kyjiw lebende Politikwissenschaftler Andreas Umland. Angesichts eines von Russland geführten hybriden Krieges ist aus ukrainischer Sicht die Formierung eines starken, nationalen Geschichtsnarrativs relevant. Zentraler Motor dieser erinnerungspolitischen Entwicklungen ist das Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung, das hinter der staatlichen Initiative wie auch der Neueröffnung des Museums der Russischen Aggression steht.
Unterdessen hat sich die Kriegsrhetorik im Erinnerungsdiskurs längst festgesetzt – auf beiden Seiten. Josef Zissels, Vertreter der staatlichen Initiative, hebt die gesetzwidrige Funktion des russischen Projekts und seine Rolle im hybriden Krieg hervor. “Wenn der hybride Krieg mit dem Sieg der Ukraine zu Ende geht, werden das unsere Trophäen sein.”
Invasion Kyjiws “wie in Sewastopol”?
Wie ist es der russischen Initiative gelungen, ukrainische und internationale Intellektuelle, sowie Politiker wie Ronald Lauder, Natan Sharansky oder Patrick Desbois (der Autor des Buches “Holcaust durch Kugeln”), in den Aufsichtsrat zu holen und ausländische Regierungen – auch die Bundesregierung ist im Gespräch – dazu zu bringen, sich neben kremlnahen Stakeholdern finanziell zu beteiligen? Der ukrainisch-amerikanische Historiker Yohanan Petrovsky-Shtern ist überzeugt, dass dafür “Ignoranz, Prestige und Geld” verantwortlich seien – besonders letzteres, denn für das BYHMC wurden rund 100 Millionen Dollar veranschlagt. Sein Urteil über Chrschanowski ist harsch: „Er mag gebildet und talentiert und vielleicht ein guter Profi sein, aber er ist ein Zyniker ersten Ranges – eine Marionette im Hybridkrieg gegen die Ukraine.”
Die Annahme, dass der Gedächtnisraum von Babyn Jar zur Projektionsfläche im Krieg Russlands gegen die Ukraine avanciert, passt zu Umlands Analyse russischer subversiver Kriegsstrategien:
„Purposeful manipulation with topics of national memory, recent history, and interethnic relations, not least in Polish mass media and social networks, is part and parcel of Russia’s so-called hybrid war against Kyiv. The Kremlin’s attack on the Ukrainian nation is executed, with a multitude of military and non-military, hard- and soft-power instruments, on a daily basis. It actively exploits controversial historical issues and aims to destroy the Ukrainian state from within rather than from outside.“ (Andreas Umland, The Ukrainian government’s Memory Institute against the West, New Eastern Europe, 7.3.17)
Petrovsky-Shtern spricht gar von einer möglichen Invasion Kyjiws durch Russland “wie in Sewastopol” – eine Bedrohung, die wenig abstrakt anmutet in Zeiten, in denen russische Truppen kampfbereit entlang der Grenzen mit Belarus und Russland stehen. Es brauche vielleicht nur eine Provokation und Kyjiw könnte besetzt werden.
Der Bruder der Schriftstellerin Katja Petrowskaja, die ihre mit Babyn Jar verknüpfte Familiengeschichte in ihren Roman Vielleicht Esther einfließen ließ, an die Öffentlichkeit: “Sie müssen verstehen, dass Herr Putin und sein Hilfsmann Vladislav Surkov drei oder vier Oligarchen als ihre Spielfiguren benutzen (…). Indem sie dies zulassen, ermöglichen die Ukrainer den imperialen Ideologen der Ukraine ihre eigene – irreführende und schädliche – Vision aufzuzwingen“, so Petrovsky-Shtern im Interview.
Das BYHMC weist solche Vorwürfe zurück: „Die Aufgabe des Projektes besteht darin, ein innovatives Museum für die Ukraine zu bauen, das ein Beispiel für andere Länder werden könnte. Ein traditionelles Holocaust-Museum wäre eine Niederlage“, sagt Geschäftsführer Ruslan Kavatsjuk im Rahmen einer Gesprächsrunde, die beide Initiativen unter dem Titel „Wenn Museen Schauplätze von Erinnerungskämpfen werden“ an einen Tisch gebracht hatte.
Zu viel Lärm in Babyn Jar
Dass in der heutigen Ukraine Gedenkorte auch ohne Skandal entstehen können, zeigt die Grundsteinlegung eines neuen Holocaust-Denkmals in Odesa im Oktober 2021. In einem leerstehenden Munitionslager waren hier im Oktober 1941 rund 25.000 Menschen von rumänischen Truppen, die die Schwarzmeerstadt gemeinsam mit der deutschen Wehrmacht besetzt hatten, ermordet – genauer: verbrannt – worden. Der geplante Gedenkkomplex geht auf eine Initiative von LibMod-Gründerin Marieluise Beck zurück – und greift das langjährige Engagement der lokalen jüdischen Gemeinde auf. Der unscheinbare in den Neunzigern aufgestellte Gedenkstein war bisher das einzige Erinnerungszeichen, das auf das Massengrab und seine tragische Geschichte verweist. Noch dieses Jahr soll er ins neue Mahnmal nach dem Entwurf eines Odesaer Architekturstudios integriert werden.
Den Opfern von Babyn Jar ein würdevolles Denkmal zu setzen, das den Symbolcharakter des Ortes als lokales wie universelles Mahnmal trägt; ein Museum zu errichten, das als staatliche Bildungs- und Forschungseinrichtung die Geschichte des Ortes vermittelt – diese Schritte in mehrheitlicher Übereinkunft zu gehen hat sich bisher als unmöglich erwiesen. Stattdessen wird die geschichtspolitische Debatte um den neuen Erinnerungskomplex – gerade in Zeiten des wieder eskalierenden Konflikts mit Russland – auf eine geopolitische Ebene katapultiert. Wo um ein Erinnerungsmonopol gerungen wird, sind auch historische Verzerrung und eigennützige Manipulation nicht mehr weit.
Am Text mitgearbeitet hat Yelizaveta Landenberger. Sie studiert Philosophie und Slawistik in Berlin und übersetzt literarische Texte.
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