Angriff auf die ukrainische Energieinfrastruktur: trotz massiver Zerstörungen kein Erfolg für Putin
Die russischen Angriffe sollten die Energieversorgung der Ukraine großflächig und dauerhaft unterbrechen – und die ukrainische Bevölkerung demoralisieren. Warum dies trotz immenser Zerstörungen nicht gelungen ist und wie groß die Schäden sind, analysieren Ihor Piddubnyi und Inna Sovsun.
Innerhalb eines Jahres hat Russland knapp 700 Marschflugkörper und fast 100 Angriffsdrohnen auf die ukrainische Energieinfrastruktur abgefeuert. Rechnet man die ballistischen Raketen hinzu, dürfte die Zahl der Abschüsse weit über 1.000 liegen. Das bedeutet: Jeden Tag treffen durchschnittlich zwei bis drei Raketen oder Drohnen ein Kraft- oder Umspannwerk.
Mit der systematischen Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur hat Russland im Oktober 2022 nach militärischen Rückschlägen und angesichts des nahenden Winters begonnen. Die Angriffe zielen auf Stromerzeugungsanlagen, Übertragungsnetze sowie Verteilungsanlagen für die Endverbraucher, um Städte und Dörfer durch großflächige Stromausfälle zeitgleich von der Energieversorgung abzuschneiden.
Immense Schäden an Kraftwerken
Obwohl aus Geheimhaltungsgründen keine detaillierten Informationen über die Zerstörungen vorliegen, ist das Ausmaß – soweit bekannt – eindrücklich. Nach Angaben der Regierung wurden alle Wärmekraftwerke, ein Großteil der Kraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK-Anlagen) sowie sämtliche Wasserkraftwerke beschädigt. Die KWK-Anlagen stellen normalerweise bis zu 50 Prozent des Stromverbrauchs der Ukraine sicher – und sind besonders wichtig, um Spitzenlasten zu decken, da mehr als die Hälfte des Stroms durch Kernkraftwerke erzeugt wird, die als Grundlastkraftwerke nicht flexibel sind.
Hinzu kommt, dass erhebliche Kapazitäten aufgrund der Besatzung ungenutzt bleiben. Dies betrifft insbesondere das Kernkraftwerk Saporischschja – das größte Kernkraftwerk Europas –, das nach wie vor von russischen Truppen kontrolliert wird: ein weltweiter Präzedenzfall für die militärische Besitznahme einer betriebsfähigen Nuklearanlage.
Auswirkungen auf erneuerbare Energien
Auch der ukrainische Sektor für erneuerbare Energien, der europaweit den sechsten Platz bei den bestehenden Kapazitäten und den vierten Platz bei neuen Anlagen belegt, wurde durch den russischen Angriffskrieg schwer getroffen. Nach Angaben des Sekretariats der Energiecharta wurde etwa ein Viertel der erneuerbaren Energien in den besetzten Gebieten erzeugt, und etwa sechs Prozent aller ukrainischer Anlagen sind beschädigt oder vollkommen zerstört.
Hohe Kosten für den Wiederaufbau der Energieinfrastruktur
Experten beziffern die Schäden dieser großflächigen Zerstörungen auf 6,8 Milliarden Euro. Doch die Kosten für den Wiederaufbau eines umfassenden und geeigneten Systems werden um ein Vielfaches höher liegen, da die zerstörten Anlagen zum Teil aus Sowjetzeiten stammen und mit neuen, kostenintensiven Gerätschaften und modernen Technologien wiederaufgebaut werden müssen. Hinzu kommen die finanziellen Einbußen der Energieversorger: Einkommensverluste aufgrund sinkender Nachfrage durch Massenauswanderung und erzwungene Betriebsschließungen, Reparatur- und Instandsetzungskosten, die Unmöglichkeit, Anlagen in den besetzten Gebieten zu nutzen, Probleme bei der Begleichung von Schulden und schließlich die Verzögerung des Anlaufens neuer Projekte.
Putins Versuch, einen mehrwöchigen totalen Stromausfall zu provozieren, ist misslungen
All dies hat jedoch nicht dazu geführt, den ukrainischen Energiesektor in einen mehrwöchigen totalen Stromausfall zu stürzen. Die überwiegende Mehrheit der Ukrainer war und ist jedoch von zum Teil mehrtägigen Ausfällen der Strom‑, Heizungs- und Wasserversorgung betroffen. Die Bevölkerung in den Frontstädten leidet besonders, da diese in Reichweite der russischen Artillerie liegen oder die russischen Besatzungstruppen bei ihrem Rückzug – wie in Cherson geschehen –, verbrannte Erde hinterlassen.
Doch die Ukrainerinnen und Ukrainer zeigen, dass sie bereit sind, all diese Unwägbarkeiten durchzustehen. So hielt eine Lehrerin Unterricht in der Kälte vor einem Supermarkt ab, Schüler lernen in Geschäften oder anderen Orten mit einem Internetsignal. Die Ukraine hat alle Vorschläge und Gedankenspiele, die Russland Zeit schenken würden, sich neu aufzustellen und auf eine weitere Offensive vorzubereiten, entschieden zurückgewiesen. Auch hier zeigt sich eine weitere Fehleinschätzung Putins.
Resiliente Verteidigungsarchitektur für den ukrainischen Energiesektor
Ein Kernelement der resilienten Architektur zur Verteidigung des ukrainischen Energiesektors sind die Abwehrstreitkräfte: Die Luftabwehr konnte etwa 75 Prozent aller Marschflugkörper und iranischen Angriffsdrohnen abschießen. Das von Deutschland bereitgestellte Flugabwehrsystem IRIS‑T wurde sehr positiv aufgenommen und hat sich beim Schutz des ukrainischen Luftraumes als äußerst wirksam erwiesen. Allerdings ist der akute Mangel an moderner Luftabwehrtechnik in der Ukraine nach wie vor spürbar.
Mitarbeiter der ukrainischen Energieversorger riskieren ihr Leben
Auch die ukrainischen Energietechniker leisten einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung. Sie arbeiten in ständiger Gefahr, beschossen zu werden, können sich jedoch meist nicht schützen, da sie an ihrem Arbeitsplatz gebraucht werden oder zerstörte Transformatorenstationen auf freiem Feld reparieren müssen. Auch die Instandsetzungsteams in den befreiten Gebeten riskieren ihr Leben, und einige Arbeiter wurden bereits durch Minen getötet. Insgesamt wurden im letzten Jahr 98 ukrainische Energietechniker infolge des Krieges getötet und doppelt so viele verletzt.
Ohne die Hilfe der Freunde und Partner der Ukraine im Ausland, darunter Deutschland als einem der größten Unterstützer, wären jedoch weder der physische Schutz der Energieanlagen vor Angriffen noch die notwendigen Reparaturen an den Anlagen oder die Notstromversorgung von Krankenhäusern, Kindergärten und Schulen möglich gewesen.
„Die Energieversorgung ist nur garantiert, wenn militärische Bedrohung und Angriffe Russlands enden“
Es ist wichtig zu verstehen, dass der stete Zufluss von Transformatoren, Wandlern, Kabeln und Generatoren lediglich die Folgen und nicht die Ursachen bekämpft. Selbst ein dezentrales, unterirdisch verlegtes oder betonummanteltes Stromnetz wäre nicht vollständig vor physischer Zerstörung geschützt. Solange die russischen Truppen große Energieanlagen kontrollieren und in der Lage sind, Hunderte von Raketen auf zivile Infrastruktur abzufeuern, liegt die Lösung des Problems in weiter Ferne.
Die Energieversorgung ist letztendlich nur garantiert, wenn die militärische Bedrohung und Angriffe durch Russland enden. Solange Russland keine endgültige Niederlage in der Ukraine erfährt und seine aggressiven imperialen Ambitionen gegenüber unabhängigen Ländern nicht aufgibt, werden wir nicht in der Lage sein, über Resilienz und Sicherheit im Energiesektor zu sprechen – genauso wenig wie über jeden beliebigen anderen Sicherheitsaspekt für die gesamte demokratische und freie Welt.
Die Ukraine, aber auch Europa, stehen kurz davor, die schwierigsten Monate der Energieversorgung bewältigt zu haben, doch bereits heute ist die große Herausforderung der nächste Winter. Die Ukraine bereitet sich schon jetzt darauf vor – und hofft darauf, auch die Zukunft der Energieversorgung als ein Teil der europäischen Familie zu gestalten.
Inna Sovsun ist Mitglied der Werchowna Rada. Sie ist Vorsitzende des Unterausschusses für europäische Integration im Ausschuss für Energie, Wohnungswesen und Versorgungsbetriebe. Inna Sovsun war Erste stellvertretende Ministerin für Bildung und Wissenschaft der Ukraine (2014–2016). Im Parlament konzentriert sich Sovsun auf die grüne Transformation des ukrainischen Energiesektors im Rahmen des European Green Deal, Bildung sowie LGBTQ+-Rechte und Gendergleichberechtigung. Sovsun ist Dozentin an der Kyiv School of Economics und an der Kyiv-Mohyla Academy.
Igor Piddubnyi arbeitet als Analyst für Energie- und Wirtschaftsfragen im Team der ukrainischen Parlamentsabgeordneten Inna Sovsun. Außerdem ist er Analyst an der Kyiv School of Economics, wo er sich mit den kriegsbedingten Verlusten und Schäden im Energiesektor, dem Agrarsektor sowie der Dezentralisierung und lokalen Selbstverwaltung beschäftigt.
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