Angriff auf die ukrai­ni­sche Ener­gie­infra­struk­tur: trotz mas­si­ver Zer­stö­run­gen kein Erfolg für Putin

Das Rie­sen­rad im Kyjiwer Stadt­teil Podil wird durch einen Gene­ra­to­ren betrie­ben, Foto: Danylo Anto­niuk /​ Imago Images

Die rus­si­schen Angriffe sollten die Ener­gie­ver­sor­gung der Ukraine groß­flä­chig und dau­er­haft unter­bre­chen – und die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung demo­ra­li­sie­ren. Warum dies trotz immenser Zer­stö­run­gen nicht gelun­gen ist und wie groß die Schäden sind, ana­ly­sie­ren Ihor Piddubnyi und Inna Sovsun.

Inner­halb eines Jahres hat Russ­land knapp 700 Marsch­flug­kör­per und fast 100 Angriffs­droh­nen auf die ukrai­ni­sche Ener­gie­infra­struk­tur abge­feu­ert. Rechnet man die bal­lis­ti­schen Raketen hinzu, dürfte die Zahl der Abschüsse weit über 1.000 liegen. Das bedeu­tet: Jeden Tag treffen durch­schnitt­lich zwei bis drei Raketen oder Drohnen ein Kraft- oder Umspannwerk.

Mit der sys­te­ma­ti­schen Zer­stö­rung der ukrai­ni­schen Ener­gie­infra­struk­tur hat Russ­land im Oktober 2022 nach mili­tä­ri­schen Rück­schlä­gen und ange­sichts des nahen­den Winters begon­nen. Die Angriffe zielen auf Strom­erzeu­gungs­an­la­gen, Über­tra­gungs­netze sowie Ver­tei­lungs­an­la­gen für die End­ver­brau­cher, um Städte und Dörfer durch groß­flä­chige Strom­aus­fälle zeit­gleich von der Ener­gie­ver­sor­gung abzuschneiden.

Immense Schäden an Kraftwerken

Obwohl aus Geheim­hal­tungs­grün­den keine detail­lier­ten Infor­ma­tio­nen über die Zer­stö­run­gen vor­lie­gen, ist das Ausmaß – soweit bekannt – ein­drück­lich. Nach Angaben der Regie­rung wurden alle Wär­me­kraft­werke, ein Groß­teil der Kraft­werke mit Kraft-Wärme-Kopp­lung (KWK-Anlagen) sowie sämt­li­che Was­ser­kraft­werke beschä­digt. Die KWK-Anlagen stellen nor­ma­ler­weise bis zu 50 Prozent des Strom­ver­brauchs der Ukraine sicher – und sind beson­ders wichtig, um Spit­zen­las­ten zu decken, da mehr als die Hälfte des Stroms durch Kern­kraft­werke erzeugt wird, die als Grund­last­kraft­werke nicht fle­xi­bel sind.

Hinzu kommt, dass erheb­li­che Kapa­zi­tä­ten auf­grund der Besat­zung unge­nutzt bleiben. Dies betrifft ins­be­son­dere das Kern­kraft­werk Sapo­rischschja – das größte Kern­kraft­werk Europas –, das nach wie vor von rus­si­schen Truppen kon­trol­liert wird: ein welt­wei­ter Prä­ze­denz­fall für die mili­tä­ri­sche Besitz­nahme einer betriebs­fä­hi­gen Nuklearanlage.

Aus­wir­kun­gen auf erneu­er­bare Energien

Auch der ukrai­ni­sche Sektor für erneu­er­bare Ener­gien, der euro­pa­weit den sechs­ten Platz bei den bestehen­den Kapa­zi­tä­ten und den vierten Platz bei neuen Anlagen belegt, wurde durch den rus­si­schen Angriffs­krieg schwer getrof­fen. Nach Angaben des Sekre­ta­ri­ats der Ener­gie­charta wurde etwa ein Viertel der erneu­er­ba­ren Ener­gien in den besetz­ten Gebie­ten erzeugt, und etwa sechs Prozent aller ukrai­ni­scher Anlagen sind beschä­digt oder voll­kom­men zerstört.

Hohe Kosten für den Wie­der­auf­bau der Energieinfrastruktur

Exper­ten bezif­fern die Schäden dieser groß­flä­chi­gen Zer­stö­run­gen auf 6,8 Mil­li­ar­den Euro. Doch die Kosten für den Wie­der­auf­bau eines umfas­sen­den und geeig­ne­ten Systems werden um ein Viel­fa­ches höher liegen, da die zer­stör­ten Anlagen zum Teil aus Sowjet­zei­ten stammen und mit neuen, kos­ten­in­ten­si­ven Gerät­schaf­ten und moder­nen Tech­no­lo­gien wie­der­auf­ge­baut werden müssen. Hinzu kommen die finan­zi­el­len Ein­bu­ßen der Ener­gie­ver­sor­ger:  Ein­kom­mens­ver­luste auf­grund sin­ken­der Nach­frage durch Mas­sen­aus­wan­de­rung und erzwun­gene Betriebs­schlie­ßun­gen, Repa­ra­tur- und Instand­set­zungs­kos­ten, die Unmög­lich­keit, Anlagen in den besetz­ten Gebie­ten zu nutzen, Pro­bleme bei der Beglei­chung von Schul­den und schließ­lich die Ver­zö­ge­rung des Anlau­fens neuer Projekte.

Putins Versuch, einen mehr­wö­chi­gen totalen Strom­aus­fall zu pro­vo­zie­ren, ist misslungen

All dies hat jedoch nicht dazu geführt, den ukrai­ni­schen Ener­gie­sek­tor in einen mehr­wö­chi­gen totalen Strom­aus­fall zu stürzen. Die über­wie­gende Mehr­heit der Ukrai­ner war und ist jedoch von zum Teil mehr­tä­gi­gen Aus­fäl­len der Strom‑, Hei­zungs- und Was­ser­ver­sor­gung betrof­fen. Die Bevöl­ke­rung in den Front­städ­ten leidet beson­ders, da diese in Reich­weite der rus­si­schen Artil­le­rie liegen oder die rus­si­schen Besat­zungs­trup­pen bei ihrem Rückzug – wie in Cherson gesche­hen –, ver­brannte Erde hinterlassen.

Doch die Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner zeigen, dass sie bereit sind, all diese Unwäg­bar­kei­ten durch­zu­ste­hen. So hielt eine Leh­re­rin Unter­richt in der Kälte vor einem Super­markt ab, Schüler lernen in Geschäf­ten oder anderen Orten mit einem Inter­net­si­gnal.  Die Ukraine hat alle Vor­schläge und Gedan­ken­spiele, die Russ­land Zeit schen­ken würden, sich neu auf­zu­stel­len und auf eine weitere Offen­sive vor­zu­be­rei­ten, ent­schie­den zurück­ge­wie­sen. Auch hier zeigt sich eine weitere Fehl­ein­schät­zung Putins.

Resi­li­ente Ver­tei­di­gungs­ar­chi­tek­tur für den ukrai­ni­schen Energiesektor

Ein Kern­ele­ment der resi­li­en­ten Archi­tek­tur zur Ver­tei­di­gung des ukrai­ni­schen Ener­gie­sek­tors sind die Abwehr­streit­kräfte: Die Luft­ab­wehr konnte etwa 75 Prozent aller Marsch­flug­kör­per und ira­ni­schen Angriffs­droh­nen abschie­ßen. Das von Deutsch­land bereit­ge­stellte Flug­ab­wehr­sys­tem IRIS‑T wurde sehr positiv auf­ge­nom­men und hat sich beim Schutz des ukrai­ni­schen Luft­rau­mes als äußerst wirksam erwie­sen. Aller­dings ist der akute Mangel an moder­ner Luft­ab­wehr­tech­nik in der Ukraine nach wie vor spürbar.

Mit­ar­bei­ter der ukrai­ni­schen Ener­gie­ver­sor­ger ris­kie­ren ihr Leben

Auch die ukrai­ni­schen Ener­gie­tech­ni­ker leisten einen wich­ti­gen Beitrag zur Siche­rung der Ener­gie­ver­sor­gung. Sie arbei­ten in stän­di­ger Gefahr, beschos­sen zu werden, können sich jedoch meist nicht schüt­zen, da sie an ihrem Arbeits­platz gebraucht werden oder zer­störte Trans­for­ma­to­ren­sta­tio­nen auf freiem Feld repa­rie­ren müssen. Auch die Instand­set­zungs­teams in den befrei­ten Gebeten ris­kie­ren ihr Leben, und einige Arbei­ter wurden bereits durch Minen getötet. Ins­ge­samt wurden im letzten Jahr 98 ukrai­ni­sche Ener­gie­tech­ni­ker infolge des Krieges getötet und doppelt so viele verletzt.

Ohne die Hilfe der Freunde und Partner der Ukraine im Ausland, dar­un­ter Deutsch­land als einem der größten Unter­stüt­zer, wären jedoch weder der phy­si­sche Schutz der Ener­gie­an­la­gen vor Angrif­fen noch die not­wen­di­gen Repa­ra­tu­ren an den Anlagen oder die Not­strom­ver­sor­gung von Kran­ken­häu­sern, Kin­der­gär­ten und Schulen möglich gewesen.

„Die Ener­gie­ver­sor­gung ist nur garan­tiert, wenn mili­tä­ri­sche Bedro­hung und Angriffe Russ­lands enden“

Es ist wichtig zu ver­ste­hen, dass der stete Zufluss von Trans­for­ma­to­ren, Wand­lern, Kabeln und Gene­ra­to­ren ledig­lich die Folgen und nicht die Ursa­chen bekämpft. Selbst ein dezen­tra­les, unter­ir­disch ver­leg­tes oder beton­um­man­tel­tes Strom­netz wäre nicht voll­stän­dig vor phy­si­scher Zer­stö­rung geschützt. Solange die rus­si­schen Truppen große Ener­gie­an­la­gen kon­trol­lie­ren und in der Lage sind, Hun­derte von Raketen auf zivile Infra­struk­tur abzu­feu­ern, liegt die Lösung des Pro­blems in weiter Ferne.

Die Ener­gie­ver­sor­gung ist letzt­end­lich nur garan­tiert, wenn die mili­tä­ri­sche Bedro­hung und Angriffe durch Russ­land enden. Solange Russ­land keine end­gül­tige Nie­der­lage in der Ukraine erfährt und seine aggres­si­ven impe­ria­len Ambi­tio­nen gegen­über unab­hän­gi­gen Ländern nicht aufgibt, werden wir nicht in der Lage sein, über Resi­li­enz und Sicher­heit im Ener­gie­sek­tor zu spre­chen – genauso wenig wie über jeden belie­bi­gen anderen Sicher­heits­aspekt für die gesamte demo­kra­ti­sche und freie Welt.

Die Ukraine, aber auch Europa, stehen kurz davor, die schwie­rigs­ten Monate der Ener­gie­ver­sor­gung bewäl­tigt zu haben, doch bereits heute ist die große Her­aus­for­de­rung der nächste Winter. Die Ukraine berei­tet sich schon jetzt darauf vor – und hofft darauf, auch die Zukunft der Ener­gie­ver­sor­gung als ein Teil der euro­päi­schen Familie zu gestalten.

Inna Sovsun ist Mit­glied der Wer­chowna Rada. Sie ist Vor­sit­zende des Unter­aus­schus­ses für euro­päi­sche Inte­gra­tion im Aus­schuss für Energie, Woh­nungs­we­sen und Ver­sor­gungs­be­triebe. Inna Sovsun war Erste stell­ver­tre­tende Minis­te­rin für Bildung und Wis­sen­schaft der Ukraine (2014–2016). Im Par­la­ment kon­zen­triert sich Sovsun auf die grüne Trans­for­ma­tion des ukrai­ni­schen Ener­gie­sek­tors im Rahmen des Euro­pean Green Deal, Bildung sowie LGBTQ+-Rechte und Gen­der­gleich­be­rech­ti­gung. Sovsun ist Dozen­tin an der Kyiv School of Eco­no­mics und an der Kyiv-Mohyla Academy.

Igor Piddubnyi arbei­tet als Analyst für Energie- und Wirt­schafts­fra­gen im Team der ukrai­ni­schen Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ten Inna Sovsun. Außer­dem ist er Analyst an der Kyiv School of Eco­no­mics, wo er sich mit den kriegs­be­ding­ten Ver­lus­ten und Schäden im Ener­gie­sek­tor, dem Agrar­sek­tor sowie der Dezen­tra­li­sie­rung und lokalen Selbst­ver­wal­tung beschäftigt.

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