Warum die neue Koalition eine neue Russlandpolitik braucht
Die deutsche Außenpolitik hat bisher zu viel Rücksicht auf Russland genommen, was vor allem zu Lasten der dazwischen liegenden Länder ging. Die neue Bundesregierung sollte die Macht Moskaus eindämmen und vor allem der Ukraine mehr Bedeutung schenken. Von Jan Claas Behrends
Die Zeit der Koalitionsverhandlungen in Berlin und die innenpolitische Lähmung der Biden-Administration hat der Kreml in den vergangenen Wochen dazu genutzt, seine aggressive Politik gegenüber der Ukraine weiter zu verschärfen. Bereits im Sommer hatte ein programmatischer Essay von Wladimir Putin den Ton für den Rest des Jahres 2021 vorgegeben: in diesem Text erklärte der russische Präsident, dass die Ukraine nur eine westliche Erfindung sei, eine antirussische Provokation und kein legitimer Staat. Jetzt im Herbst folgt eine erneute militärische Mobilisierung Russlands an den Grenzen der Ukraine, die das State Department so beunruhigt, dass Washington seine Verbündeten vor dem russischen Aufmarsch warnt. An der polnisch-belarusischen Grenze eskaliert die Lage ebenfalls; erstmals erreicht ein hybrider Grenzkonflikt einen NATO-Staat. Das ist ebenfalls eine neue, gefährliche Dimension. Insgesamt ergibt sich zum Regierungswechsel in Deutschland östlich der Europäischen Union eine ähnlich bedrohliche Lage wie zuletzt 2014/15 beim russischen Einmarsch in den Donbas. Die neue Regierung in Berlin ist sofort gefordert.
Zeitgleich mit dem aggressiven Auftreten in der Außenpolitik verstärkt die russische Regierung die Repressionen nach innen. Im Wochentakt wurden zuletzt Journalisten und ihre Publikationen von den Behörden zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Zahlreiche deutsche NGOs mussten in den vergangenen Monaten ihre Arbeit in Russland einstellen, weil das Regime sie zu „unerwünschten Organisationen“ erklärte – darunter auch das Zentrum Liberale Moderne. In der vergangenen Woche eröffnete die Moskauer Generalstaatsanwaltschaft schließlich ein Verbotsverfahren gegen die Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich bereits seit der Perestroika für eine Aufarbeitung der Verbrechen Stalins einsetzt und die russische Politik stets kritisch begleitet. Memorial ist eine national und international anerkannte Institution. Mit dem Angriff auf Memorial hat die Unterdrückung der russischen Zivilgesellschaft eine neue Qualität erreicht. Und die Erfahrung lehrt: auf innere Repression folgt in Russland äußere Aggression. Die Zerstörung der Freiheit in Russland bekommen zuerst seine direkten Nachbarn wie die Ukraine zu spüren – das wurde bereits nach den Protesten von 2011 gegen Putin deutlich. Die verschärften Maßnahmen des Kremls gegen Opposition und Zivilgesellschaft sind zudem Teil der Mobilisierung der Bevölkerung für den Konflikt mit dem Westen – ein Konflikt, der nach dem sowjetischen Machtverständnis der Machthaber keinen Dissens im Inneren erlaubt. In Putins Wagenburg gilt die union sacrée, für jeglichen Dissens wird die Luft knapper. Dies ist die Ausgangslage zu Beginn der neuen Koalition. Sie sollte Berlin zu einer schonungslosen Bestandsaufnahme veranlassen.
Containment statt Partnerschaft
Wo stehen Deutschland und Europa im Umgang mit Putins Russland nach 16 Jahren Angela Merkel?
Sicherheitspolitisch sind Deutschland und Europa deutlich schlechter aufgestellt als zu Beginn der Ära Merkel. Es herrscht Krieg im Donbas und Russland hat seine Machtposition gegenüber der Europäischen Union seit dem Amtsantritt Putins – militärisch, aber auch in Energiefragen – immer weiter ausgebaut. Wir sind schwach und erpressbar. Seit der Annexion der Krim 2014 haben sich die Regierungen der Bundeskanzlerin nicht zu einer grundlegenden Revision ihrer Russlandpolitik durchringen können. Weiterhin hoffen Kanzleramt und Auswärtiges Amt auf Wohlwollen im Kreml, darauf, dass Moskau uns hilft Probleme zu lösen, die es bei Lichte betrachtet doch häufig selbst geschaffen hat. Eine neue Regierung sollte sich endlich eingestehen: Putins Russland definiert sich bereits seit langem durch seine Gegnerschaft zum Westen und seinen Werten. Der Konflikt mit liberalen Demokratien, die Zerstörung offener Gesellschaften ist in Russland Staatsräson. Deshalb kann dieses Land kein Partner sein. Im Gegenteil: wir müssen alles daransetzen, seinen Einfluss auf Deutschland und Europa zukünftig einzudämmen. Wie im Kalten Krieg ist containment eine erfolgreiche Strategie der Konfliktkontrolle. Ohne eine europäisch koordinierte Eindämmung russischer Macht behält der Kreml weiterhin seine Eskalationsdominanz und genießt freie Hand, neue Konfliktherde anzufachen. Die letzten Jahre bieten zahlreiche Beispiele dafür, dass europäische Passivität und deutsche Sorglosigkeit dem Kreml Handlungsmöglichkeiten eröffnet.
Merkels ruhige Hand war eine schwache Hand
Angela Merkels ruhige Hand gegenüber Russland war eine schwache Hand. Die Pflege persönlicher Beziehungen zum Machthaber war eine schlechte Strategie. Merkels Alleingänge haben Deutschland isoliert und heute tritt sie in Moskau als Bittstellerin auf – eine undankbare Rolle, die aus den geopolitischen Realitäten resultiert, die sie mitgeschaffen hat. Für die Koalitionäre einer Regierung Scholz stellt sich die Frage, ob sie den Mut zum Neubeginn auch in der Sicherheitspolitik haben, die im Wahlkampf kaum vorkam, jedoch für Frieden in Deutschland und Europa große Bedeutung hat. Alle drei Koalitionsparteien kennen die „Putinversteher“ und Pazifisten in ihren Reihen, die sich gegen einen Neubeginn der Russlandpolitik und ein robusteres Auftreten gegenüber Moskau wehren werden. Doch ein Kurswechsel ist seit langem überfällig. Insbesondere gegenüber der Ukraine ist ein reset deutscher Außenpolitik notwendig – zu gravierend waren die Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit.
Die verschiedenen Regierungen Merkel haben mit ihrer Fixierung auf Russland und dem bedingungslosen Festhalten an Nord Stream2 – trotz fortgesetzter russischer Aggressionen – viel Vertrauen bei unseren östlichen Nachbarn zerstört. Das gilt wiederum besonders für die Ukraine, die am direktesten unter der deutschen Sonderbeziehung zu Moskau leidet. Beide Nord Stream Leitungen sind strategische Projekte, die Moskau zur wirtschaftlichen und geopolitischen Schwächung der Ukraine und zur engeren Vernetzung mit Deutschland initiierte. Die wider besseren Wissens von deutscher Seite verbreitete Behauptung, es handle sich um rein ökonomische, privatwirtschaftliche Projekte wurde in der Ukraine zu keinem Zeitpunkt geglaubt. So viel Naivität kann sich ein direkter Nachbar Russlands nicht leisten. Das Land hat schließlich seit drei Jahrzehnten erfahren, wie Moskau immer wieder Gas als Ressource in bilateralen Konflikten einsetzt. Unter Bundeskanzlerin Merkel hat Deutschland nicht nur beide Nord Stream Pipelines vollendet, sondern auch noch große Teile seiner Gasspeicher an Gazprom verkauft – ein sicherheitspolitisches Waterloo, dessen Konsequenzen wir erst langsam verstehen und dessen Kosten die Verbraucher tragen.
Eine neue Bundesregierung wird sich nicht nur darum bemühen müssen, die energiepolitische Abhängigkeit von Moskau zu verringern – ihr Ziel muss es zugleich sein, bei unseren Partnern in Osteuropa wieder Vertrauen aufzubauen. Schon jetzt lässt sich sagen: nach 16 Jahren Merkelscher Russlandpolitik wird das kein leichtes Unterfangen. Das Ansehen Berlins ist in Polen oder dem Baltikum auf einem Tiefpunkt.
Weiter gilt es auch, einige Tabus deutscher Ostpolitik zu hinterfragen. Besonders gegenüber der Ukraine hat Berlin de facto ein Vetorecht Moskaus über Kyjiws Entscheidungen akzeptiert. So blockierte und blockiert Berlin eine europäische Perspektive für die Ukraine, die Aufnahme in die NATO und die Ausstattung mit und Lieferung von Waffen zur Verteidigung ihrer Souveränität. Im Minsker Prozess akzeptierte Berlin zudem die Fiktion, dass Russland im Donbas nicht der Aggressor, sondern eine unbeteiligte Macht ist. In allen diesen zentralen Politikfeldern stellt sich Berlin bisher gegen die Wünsche einer souveränen Ukraine. In der Logik des Konfliktes bedeutet dies, dass die frühere Bundesregierung de facto die Position Moskaus unterstützt. Die zivile Unterstützung, die Deutschland der Ukraine im Reformprozess leistet, wird zwar anerkannt, aber sie reicht nicht aus, um ihre Souveränität langfristig zu sichern. Statt der Ukraine sollte es zukünftig der Kreml sein, der Zumutungen zu tragen hat.
Zaghaftigkeit und moralische Ermahnungen führten ins Abseits
Es gibt gute Gründe, auf sensiblen Feldern wie Waffenlieferungen und Bündniserweiterung keine voreiligen Entscheidungen zu fällen. Jedes Engagement, jede Zusage will gut überlegt sein. Dennoch zeigt sich, dass andere Staaten wie die USA und das Vereinigte Königreich vor dem Hintergrund von nunmehr sieben Jahren russischer Aggression dazu übergehen, die Ukraine konkreter zu unterstützen. Deutschland scheint – wieder einmal – den Anschluss zu verlieren. Letztlich werden wir in der Region nur an Gewicht gewinnen, wenn wir auch bereit sind, Partei für unsere eigene Werte zu ergreifen und uns zu engagieren. Die Politik der Zaghaftigkeit und der moralischen Ermahnungen an alle Seiten hat Berlin ins Abseits geführt. Auf dem Boden des Völkerrechts, der Interessen unserer Verbündeten und unserer eigenen Werte sollte eine neue Bundesregierung den Mut aufbringen, für die Souveränität der Ukraine einzustehen und ihr neue Perspektiven zu eröffnen. Denn in Osteuropa gilt: wer NATO-Mitglied, der lebt in Frieden, wer nicht im Bündnis ist, ist häufig Opfer der Aggression seiner stärkeren Nachbarn. Die NATO-Erweiterung hat nicht Probleme geschaffen, sondern zahlreichen Staaten in der Region Frieden und Sicherheit beschert. Hier ist in der deutschen Politik dringend ein Perspektivwechsel nötig – es besteht kein Grund, reflexhaft die russische Sichtweise zu übernehmen.
Doch Sicherheitspolitik ist nur eine Facette des Engagements einer neuen Berliner Regierung. Es gibt zahlreiche andere Gebiete, auf denen ebenfalls kaum Fortschritte erzielt wurden. Die Ukraine muss eine erste Adresse für den Austausch in der Wirtschaft, der Ökologie und der Wissenschaft werden. Jugend und Sport können als Brücken zwischen unseren Nationen dienen. Die gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte des 20. Jahrhunderts sollte zu einer unserer gemeinsamen Prioritäten werden. Auf allen diesen Gebieten warten auf verschiedene Ressorts der neuen Regierung große Aufgaben. Wichtig wird jedoch, dass der künftige Kanzler den Mut zum Handeln besitzt, den seine Vorgängerin vermissen ließ. Deutschland und Europa dürfen sich nicht weitertreiben lassen, sie sollten die Probleme im Osten des Kontinents mutig angehen, um Europa zu einem sichereren Ort zu machen.
Angela Merkels unausgesprochene Akzeptanz einer russischen Einflusssphäre in Osteuropa und ihre Sonderbeziehung zu Vladimir Putin haben Deutschland und der Ukraine geschadet. Aufgabe der nächsten Bundesregierung sollte ein Neustart der deutschen Russlandpolitik sein. Dabei können wir uns am realistischen Ansatz unserer Nachbarn und Verbündeten wie Litauen, Lettland oder Polen orientieren. Sie sind schon weiter als die deutsche Politik.
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