Krimtataren: Besetzte Heimat
Vor 78 Jahren hat Stalin mindestens 200.000 Krimtataren aus ihrer Heimat Krim deportieren lassen. Heute sind die Krimtataren wieder den Repressionen der russischen Besatzer ausgesetzt. Ein Blick auf die wichtigsten Entwicklungen seit der russischen Annexion 2014. Von Alim Aliev
Am 24. Februar 2022 startete Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Doch der Krieg fing eigentlich schon im Februar 2014 an, als bewaffnete „Grüne Männchen“ mit starkem russischem Akzent die Werchowna Rada und den Ministerrat der Autonomen Republik Krim überfielen. In der Nacht zum 27. Februar 2014 wurden ukrainische Flaggen abgenommen und durch russische Trikoloren ersetzt. Später bestätigte Wladimir Putin, dass es sich bei den „Grünen Männchen“ um russische Soldaten handelte.
Damit begann die Besetzung der Krim durch Russland.
Noch einen Tag zuvor, am 26. Februar, demonstrierten Vertreter der Krimtataren am Parlament der Krim für die territoriale Integrität der Ukraine. An der Kundgebung nahmen rund 20.000 Krimtataren und pro-ukrainische Demonstranten sowie 4.000 Menschen mit russischem Wurzeln teil. Zwar gab es Auseinandersetzungen mit Separatisten. Doch am Abend trennten sich die Anhänger einer geeinten Ukraine mit einem Gefühl des Sieges. Dies sollte die letzte demokratische Großdemonstration auf der Krim sein. Später leitete die russische Besatzungsjustiz auf der Krim ein fabriziertes und politisch motiviertes Verfahren gegen die Organisatoren der Demonstration ein. Gegen Akhtem Chiygoz und sieben weiteren Vertretern des Medschlis der Krimtataren wurden Strafverfahren wegen der „Organisation und Teilnahme an Massenunruhen“ eingeleitet.
Einige Tage nach der Demonstration, am 3. März 2014, hielt der Krimtatar Reschat Ametov auf dem Lenin-Platz in Simferopol eine Mahnwache gegen die russische Besetzung der Krim. Dabei wurde er von Unbekannten in Tarnuniform entführt. Nach einer Woche fand man seine Leiche mit Folterspuren in einem Wald.
Reschat Ametov wurde das erste Opfer der russischen Besatzer.
Russische Repressionen
Diese beiden Fälle wurden zur „Visitenkarte“ der russischen Repressionen auf der Krim. Seit der russischen Besetzung der Krim wurden mehr als 2.000 Menschenrechtsverletzungen gemeldet. Die überwiegende Mehrheit betraf Krimtataren oder pro-ukrainische Aktivisten. Es gab willkürliche Hausdurchsuchungen, Entführungen, Tötungen sowie Versammlungsverbote.
Laut der Menschenrechtsorganisation Crimea SOS sitzen derzeit 115 politische Gefangene auf der Krim hinter Gittern. 15 Menschen gelten als vermisst und sechs wurden aus politischen Gründen ermordet. Diese Gewalttaten sind nur die Spitze des Eisbergs. Die russische Besatzungsmacht will de facto einen Teil von Europa kolonialisieren. Die Verletzung des humanitären Völkerrechts lässt sich an folgenden Beispielen illustrieren:
1. Die Militarisierung der Krim
Die Krim hat sich von einem beliebten Touristenort in eine Militärbasis verwandelt. Dutzende militärische Einrichtungen, die unter der Ukraine stillgelegt worden waren, wurden unter der russischen Besatzung reaktiviert. Zudem verlegt Russland Militärgeräte und Soldaten auf die Krim. Darüber hinaus militarisiert Russland das Bewusstsein und die Köpfe der Menschen auf der Krim, was schon im Kindesalter beginnt. So müssen in Kindergärten an besonderen „Feiertagen“ Sankt-Georgs-Bänder und stilisierte Uniformen der Sowjetarmee getragen werden. In Schulen gibt es paramilitärische Organisationen, im Unterricht wird die Ukraine als Feindbild gezeigt und Russlands Invasion der Krim verherrlicht.
2. Verbot nationaler Institutionen und Unterdrückung der Meinungsfreiheit
Im April 2016 stuften die Besatzungsbehörden den Medschlis als extremistische Organisation ein und verboten ihn. Der Medschlis bildet zusammen mit dem Kurultay die Selbstverwaltung der Krimtataren. Sie sind seit mehr als 25 Jahren das Aushängeschild des gesellschaftlichen Lebens auf der Krim und haben ihre Wurzeln in der Tataren-Bewegung in der Sowjetunion. Grund für das Verbot ist die Ablehnung der russischen Besatzung durch den Medschlis und den Kurultay. Durch das Verbot gerät praktisch jeder Tatare ins Visier der Besatzungsmacht und läuft Gefahr, verfolgt zu werden.
Die Volksführer Mustafa Dzhemilev und Refat Chubarov wurden mit einem Einreiseverbot für die Krim belegt. Ihre Stellvertreter, darunter Akhtem Chiygoz, wurden strafrechtlich verfolgt und verhaftet. Ein anderer Repräsentant, Ilmi Umerov, wurde beschuldigt, die Integrität Russlands verletzt zu haben und in einer psychiatrischen Klinik in Simferopol zwangsbehandelt. Ende 2017 wurden Chiygoz und Umerov in einem Gefangenenaustausch mit der Türkei freigelassen und nach Kyjiw gebracht. Ervin Ibragimov, ein Mitglied des Bachtschyssaraj Medschlis gilt als vermisst seit er im Mai 2016 von der russischen Polizei entführt wurde.
Weitere Opfer der russischen Besatzungsmacht sind der Journalist Nariman Jelal sowie die Brüder Asan und Aziz Akhtemov. Unter dem Vorwurf der Sabotage wurden Jelal und die Brüder Akhtemov im September 2021 verhaftet und gefoltert. Zuvor nahm der Journalist Jelal an der Krim-Plattform teil, einer internationalen Konferenz in Kyjiw, bei der es um die De-Okkupation der Krim ging. Vermutlich will sich Russland an dem bekannten Journalisten für dessen Teilnahme an der Konferenz rächen. Jelal drohen bis zu 20 Jahren Haft.
Nachdem Russland die Vertretungen der Krimtataren, Medschlis und Kurultay verboten hatte, gründete die Besatzungsmacht alternative, pro-russische Organisationen. Diese finden unter den Krimtataren jedoch keine Resonanz und haben auf der Krim nur eine marginale Bedeutung.
Eine ähnliche Situation ist in den Medien zu beobachten. Vor der Besetzung gab es auf der Krim ein Dutzend unabhängiger Medien, die nach journalistischen Standards arbeiteten. Nach 2014 mussten diese nach Kyjiw fliehen, weil ihnen die russische Medienaufsicht Roskomnadzor Sendelizenzen verweigerte. Betroffen waren Rundfunksender wie Black Sea Television and Radio Company, ATP, Radio Maidan oder die Nachrichtenagentur QHA. Auch viele unabhängige Journalisten verließen die Halbinsel. Diejenigen, die auf der Krim blieben, arbeiteten unter Pseudonymen weiter oder wechselten den Beruf. Unabhängige Medien wurden durch krimtatarische und ukrainischsprachige Medien ersetzt, die größtenteils russische Propaganda verbreiten.
3. Bevölkerungsaustausch
Ukrainische Nichtregierungsorganisationen schätzen, dass etwa 50.000 Menschen vor der russischen Besatzungsmacht von der Krim geflohen sind. Viele haben sich in den Oblasten Kyjiw, Cherson oder Lwiw niedergelassen. Es gab einen „Brain Drain“ von der Krim, der sich qualitativ bemerkbar macht. Bei den Binnenflüchtlingen handelt es sich nämlich um gut ausgebildete Menschen, junge Berufstätige, Studenten, Geschäftsleute, Journalisten und gesellschaftspolitische Persönlichkeiten.
Krimtataren, die sich politisch engagieren, werden als Terroristen und Extremisten gebrandmarkt. Sie werden von der Besatzungsmacht beschuldigt, an verbotenen religiösen und politischen Veranstaltungen teilzunehmen und von der Halbinsel vertrieben. Die Krimtataren haben jedoch seit Sowjetzeiten immer nur friedlichen Widerstand geleistet.
Umgekehrt versucht Russland die Krim durch die Umsiedlung der eigenen Bevölkerung zu kolonialisieren. Seit der Besetzung der Krim wurden mindestens 500.000 russische Beamte, Mitarbeiter der Sicherheitsdienste, Geschäftsleute und Rentner auf der Halbinsel angesiedelt. Dieses Muster wiederholt Russland seit Jahrhunderten. Schon während der ersten Annexion der Krim 1783 versuchte Zarin Katharina II. die indigene Bevölkerung der Krimtataren zu verdrängen (damals waren 95 Prozent der Menschen auf der Krim Tataren). Auch Stalin ließ 1944 Tausende Tataren nach Russland deportieren.
4. Schaffung einer neuen „russischen Identität“
Die russische Besatzungsmacht will die historischen und kulturellen Verbindungen der Halbinsel zur Ukraine zerstören. Das geschieht zum Beispiel durch erzwungene Teilnahme an politischen Kundgebungen und Wahlen, Ausstellung von russischen Pässen, Umschreibung der Geschichte der Krim und Propaganda an den Schulen. Im öffentlichen Diskurs verwendet Russland den Terminus „Krimvolk“ – ein Begriff, der alle Bewohner der Krim unabhängig ihrer Herkunft vereint. Dadurch soll die Identifikation der Krimtataren mit ihrer Kultur verhindert werden. Diese Praxis wurde schon in der Sowjetunion angewandt, wo der Begriff „Sowjetvolk“ die nationalen Identitäten der Völker der Sowjetunion verdecken sollte.
Auch das materielle und immaterielle Erbe der Krimtataren will Russland auslöschen. Kulturgüter der Tataren, die nicht in die russische Ideologie passen, werden zerstört oder verunstaltet. Ein Beispiel dafür ist der Khan Palast in Bachtschissarai, der von den russischen Behörden umgebaut wurde und so sein traditionelles Gesicht verlor. Durch eine so genannte „Restaurierung“ wurden die authentischen, handgefertigten Dachfliesen (Tatarka) durch moderne spanische Fabrikfliesen ausgetauscht und die ursprüngliche Befestigung auf Tonbasis ersetzt. Auch eine Moschee des Großkhans wurde bei „Restaurierungen“ beschädigt und in der Stadt Chersones haben auf einer archäologischen Ausgrabungsstätte, die als Weltkulturerbe auf der UNESCO-Liste steht, Bauarbeiten begonnen.
Bis 2014 gab es auf der Krim noch sieben ukrainischsprachige Schulen – alle wurden von der russischen Besatzungsmacht geschlossen. Ähnlichen Repressionen ist die ukrainisch-orthodoxe Kirche ausgesetzt: Priester werden verfolgt und Kirchengebäude beschlagnahmt.
Die krimtatarische Sprache, die laut UNESCO zu den gefährdeten Sprachen der Welt gehört, wird lediglich als Wahlfach auf weiterführenden Schulen unterrichtet, wobei nur drei Prozent der Schüler Zugang zu dem Unterrichtsfach haben. Eltern haben sich deshalb zu Initiativen zusammengeschlossen, um Schüler privat zu unterrichten.
Nach vorn schauen
Obwohl im Jahr 2014 eine „dunkle Zeit” anbrach, versuchen die Krimtataren, ihre Identität zu bewahren und ihre Rechte zu schützen. Angehörige politischer Gefangener, Anwälte, Bürgerjournalisten und Aktivisten haben sich auf der Krim einer Solidaritätsbewegung angeschlossen. Sie begleiten Gerichtsprozesse, dokumentieren Hausdurchsuchungen oder bieten Rechtsberatung an. Die Bewegung „Bizim Balar” hilft Kindern von etwa 200 politischen Häftlingen. Mehrere unabhängige Medieninitiativen berichten über Kultur und Gesellschaft der Krimtataren.
Und auch die Ukraine versucht die Krimtataren zu unterstützen. Kyjiw initiierte 2021 die „Krim-Plattform”, eine internationale Koordinierungsstelle mit dem Ziel der De-Okkupation der Krim. Außerdem erkannte die Regierung die indigenen Völker der Krimtataren, Karaiten und Krimtschaken an. Es wurden eine Strategie zur Entwicklung der krimtatarischen Sprache verabschiedet und Projekte im Bereich der Kultur‑, Bildungs‑, und Informationspolitik geschaffen. Die Integration von Binnenflüchtlinge aus den besetzten Gebieten wird verbessert. Und nicht zuletzt hat die Ukraine die Verabschiedung internationaler rechtlicher Dokumente, Resolutionen und Beschlüsse zur Verurteilung der zeitweisen Besetzung der Krim initiiert und Sanktionen gegen das Putin-Regime begrüßt.
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