Zwei Jahre „Zeitenwende“ und alles beim Alten? Interview mit Winfried Schneider-Deters
Was hat sich seit der Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz vor gut zwei Jahren verändert? Der Ukraineexperte Winfried Schneider-Deters kritisiert im Interview die zögerliche Unterstützung der Scholz-Regierung und erklärt, warum ein Sieg der Ukraine für das Ende des russischen Neoimperialismus und die europäische Sicherheit notwendig ist.
Winfried Schneider-Deters baute in den 1990er Jahren das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kyjiw auf. Seit der Orangen Revolution im Jahr 2004 beschäftigt er sich intensiv mit der Innen- und Außenpolitik des Landes. Den Beginn des russischen Angriffskrieges erlebte Schneider-Deters gemeinsam mit seiner Familie in der Nähe von Kyjiw. Im Jahr 2023 erschien bei ibidem sein Buch „Russlands Krieg in der Ukraine – Deutsche Debatten um Frieden, Faschismus und Kriegsverbrechen, 2022–2023“, in dem er sich aus dem Kriegswinter 2022/2023 in Kyjiw in die deutsche Debatte über Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine einschaltet.
Herr Schneider-Deters, in Ihrem Buch lassen Sie die deutschen Kapitulationsaufrufe und vermeintlichen Friedensinterventionen der letzten zwei Jahre noch einmal kritisch Revue passieren: Vom „Friedensmanifest“ von Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht über den offenen Brief „Frieden schaffen!“ von Peter Brandt und anderen SPD-Altkadern bis hin zum Essay von Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung, um nur einige zu nennen. Warum war Ihnen das wichtig?
Mich hat dieser Defätismus in Deutschland gestört. Verhandlungen mit Putin halte ich für völlig sinnlos. Und selbst wenn er sich darauf einlässt, dann nur zum Schein, um mit Frieden zu locken, damit die Waffenlieferungen aufhören. Das ist doch alles offensichtlich. Diese ganzen Aufrufe zu Verhandlungen und Kompromissen haben mich einfach persönlich geärgert.
Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Es ist die Unfähigkeit, Veränderungen anzuerkennen, nach dem Motto: ‚Ich habe mich ein Leben lang dieser Idee hingegeben und will sie auch jetzt nicht aufgeben. Das bin ich, dieser Gedanke ist ein Teil von mir, und ich kann doch nicht einfach ein Stück von mir wegwerfen!’ Aber man kann. Man muss wirklich sein Gehirn reinigen, wenn sich die Umstände so radikal ändern.
Warum gab es am 24. Februar 2022 in der deutschen Politik und Gesellschaft noch so viel Nachholbedarf?
Ja, wie ist das zu erklären? Zum einen natürlich mit den 70 Jahren Frieden, relativ gesprochen, die wir schon so verinnerlicht hatten, dass wir glaubten, Kants „ewiger Friede“ sei ausgebrochen. Dann ist da natürlich die Scholz-SPD, in der ich übrigens auch seit vielen Jahren Mitglied bin, in der dieser Glaube an die Aussöhnung mit Russland ja ein übergeordnetes Ziel schlechthin ist. Das war auch nicht falsch. In den frühen 2000er Jahren konnte man noch an die Möglichkeit glauben, mit Putin ein europäisches Sicherheitssystem und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen.
Sie selbst haben es so gesehen?
Ja, ich war auch sehr naiv und ein Verfechter des Ausgleichs mit Russland, das gebe ich zu. Ich bin sehr viel in Russland gereist, hatte auch sehr viele Bekannte und Freunde dort. Das heißt, ich war – auf dieser menschlichen Ebene – sehr prorussisch eingestellt. Also, ich verstehe die Leute sehr gut, die ich da kritisiere. Aber, dass es auch nach Beginn der Invasion immer noch so viele gibt, die Verhandlungen mit diesem Massenmörder und Kriegsverbrecher fordern, verstehe ich überhaupt nicht.
Sie haben in den 1990er Jahren das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kyjiw aufgebaut, waren selbst auf dem Maidan und publizieren seit über 15 Jahren über die Ukraine. Und trotzdem hat sich diese innere Zeitenwende, die Sie gerade beschrieben haben, auch für Sie erst am 24. Februar 2022 endgültig manifestiert?
Ja, das war ein tiefer Einschnitt. Nach diesem Überfall auf die Ukraine schwöre ich all dem ab, was ich bis dato über Russland geschrieben habe. Ich erwähne das, weil es mir noch manchmal vorgehalten wird. Wenn so ein Krieg, in dem inzwischen Hunderttausende gestorben sind, Millionen auf der Flucht sind, ganze Städte niedergebrannt wurden, nicht zu einem kompletten Umdenken führt, was dann? Früher konnte man vielleicht noch sagen: „Putin ist das eine, das russische Volk ist das andere.“ Heute kann man das nicht mehr trennen. Die russische Bevölkerung wurde durch die Propaganda so stark indoktriniert, dass sie, mit wenigen Ausnahmen, diesen offenen Überfall auf das Nachbarland gutheißt. Wie man da noch prorussische oder putinistische Gedanken hegen und propagieren kann, ist für mich unverständlich.
Am 27. Februar 2022 hat Olaf Scholz seine Zeitenwende-Rede gehalten. Wie bewerten Sie die Rede heute, zwei Jahre später?
Am Anfang habe ich mich über Scholz geärgert. Er hat eine „Zeitenwende“ ausgerufen, aber den großen Worten sind keine Taten gefolgt. Er wollte den Leopard-Panzer nicht liefern und so weiter. Dieses Zögern wurde in Deutschland zum Teil gutgeheißen und euphemistisch als Nachdenklichkeit und Besonnenheit umschrieben. Es sei richtig, ein bisschen zu liefern und abzuwarten, was auf dem Schlachtfeld damit passiert. Was für eine Dummheit!
Welche Folgen hatte dieses „Scholzing” für den bisherigen Kriegsverlauf? Hätte beispielsweise die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive von August bis November 2022 weiter an Schwung gewinnen können, wenn von Anfang an konsequent Waffen geliefert worden wären?
Ja, ich sehe die Schuld für die jetzige Situation eindeutig bei den westlichen Unterstützerstaaten. Es wären viel weniger Soldaten gestorben, übrigens auch auf russischer Seite. Der Krieg wäre vielleicht schon vorbei. Aber inzwischen hat Scholz seine eigene Zeitenwende eingeholt. Deutschland ist heute der größte europäische Militärhilfegeber. In seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2024 gab Olaf Scholz zu, dass der Westen die ukrainischen Streitkräfte nicht genügend unterstützt. Andererseits verweigert er selbst die Lieferung des deutschen Lenkflugkörpers „Taurus“ an die Ukraine.
Deutschland findet sich möglicherweise bald in einer Führungsrolle wieder, falls Trump wiedergewählt wird oder das Hilfspaket im Repräsentantenhaus endgültig scheitern sollte. Wäre Scholz bereit für diesen nächsten Schritt?
Scholz scheint sich dessen bewusst zu sein, aber er wünscht sich diese Vorreiterrolle natürlich nicht. Aber wenn die Republikaner im Repräsentantenhaus nicht mitmachen, dann gibt es keine amerikanischen Waffen mehr. Das heißt, Scholz muss in Europa dafür trommeln, dass die Rüstungsindustrie hochgefahren wird. Aber er selbst muss auch endlich die richtigen Waffen liefern, die er hat. Das ist der Taurus.
Warum liefert Scholz zu wenig, zu langsam, nicht konsequent?
Wir haben alle immer noch Angst davor, dass die Ukrainer mit dem Taurus nach Moskau fliegen. Die Ukraine hat sich bisher strikt an die Vereinbarung gehalten, keine vom Westen gelieferten Waffen auf russischem Territorium einzusetzen. Natürlich, die Brücke von Kertsch, die würden sie wahrscheinlich mit so einer Taurus-Rakete zerstören. Aber wenn die Ukrainer die Brücke auf der ukrainischen Seite zerstören, ist das völkerrechtlich völlig in Ordnung. Das Ziel, die Nachschubwege und die Kommandozentralen hinter der russischen Linie zu zerstören, ist Teil des ukrainischen Sieges – und der russischen Niederlage.
Was bedeutet ein ukrainischer Sieg für Sie?
Ich glaube, dass dieser Krieg so lange geführt werden muss, bis die russische Armee besiegt ist. Das heißt, dass die Ukrainer so viel Widerstand leisten müssen, dass sich die Russen gezwungen sehen, sich hinter die Grenze zurückziehen. Und dafür muss der Westen alle verfügbaren Waffen und Waffensysteme an die Ukraine liefern – alleine wird sie das nicht schaffen. Die Ukrainer sterben nicht nur für ihre eigene Freiheit, sondern auch für die Freiheit Europas, für Demokratie und eine regelbasierte Ordnung, für alles, was uns lieb und teuer ist. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, warum diese Niederlage Russlands wichtig ist.
Welchen?
Dieser Neoimperialismus, der Putin beseelt, der beseelt große Teile der russischen Bevölkerung und ist tief im russischen Bewusstsein verankert. Russland muss von diesem psychopathischen Größenwahn befreit werden. Ich glaube, dass eine Niederlage, auch wenn sie auf ukrainischem Boden stattfindet, zu einem Umdenken führen könnte. Oder zumindest zu einem Verzicht darauf, in Zukunft noch mehr Land erobern zu wollen, statt sich um die Entwicklung des eigenen Landes zu kümmern. Diese Vorstellung kann nur ein Ende finden, wenn Russland in diesem Krieg gegen die Ukraine eine Niederlage erlebt.
Glauben Sie an die innere demokratische Selbstheilungskraft der Russen, auch ohne den äußeren Impuls einer Niederlage?
Ich persönlich wäre froh, wenn es nur auf Putin ankäme und nach ihm ein anderes Russland käme. Aber wie lange hat es zum Beispiel gedauert, bis der heimliche Nationalsozialismus nach 1945 überwunden war? Der lebte doch in vielen Menschen weiter. Es musste erst eine ganz neue Generation heranwachsen, bis Deutschland dieses Kapitel überwunden hatte. Aber es gibt immer noch Stimmen, die sagen, Putin ist nicht mehr jung, vielleicht stirbt er bald – und das wäre ein großes Glück für Russland. Dann würden die demokratischen Kräfte wieder die Oberhand gewinnen, die neoimperialistischen Instinkte würden zurückgedrängt und man könnte dort anknüpfen, wo man vor dem Krieg stehengeblieben war. Ich halte das für höchstunwahrscheinlich. Die Selbstheilungskräfte der Russen haben nicht funktioniert.
Was würde ein Sieg Russlands bedeuten?
Wenn Russland die ganze Ukraine besetzt, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis nach Moldau und dem Baltikum gegriffen wird. Das liegt in der Natur von Leuten wie Putin. Was hat Hitler in München nicht alles geschworen? Was Putin denkt, wissen wir inzwischen. Seine absurden historischen Ergüsse sind nicht erst seit dem Interview mit Tucker Carlson bekannt. Und was er denkt, kann er auch anstreben, weil er der unbestrittene Herrscher Russlands ist. Das ist also nicht das Hirngespinst irgendeines rechtsextremen Philosophen, sondern desjenigen, der in Russland ganz praktisch die alleinige, absolute Macht hat. Und deshalb ist die Gefahr real, dass er, nachdem er die Ukraine „geschluckt” hat, sich weiter in der Nachbarschaft ausbreitet.
Erkennt man diese Gefahr mittlerweile in Deutschland?
Ich glaube, dass die Bedrohung, die von Putin über die Ukraine hinaus für Europa ausgeht, immer noch nicht richtig wahrgenommen wird. In den Medien und politischen Debatten wird mittlerweile zwar regelmäßig konstatiert, dass der Angriff auf die Ukraine auch ein Angriff auf Europa ist. Aber dass die Gefahr real ist und Putin weiterhin das Ziel verfolgt, zumindest den Teil Europas, den schon die Zaren und die Sowjetunion beherrscht haben, wieder in den Moskauer Orbit einzugliedern, wird noch nicht ausreichend gesehen.
Schließen Sie einen Angriff auf Deutschland aus?
Russische Soldaten malen nicht nur ein „Z” auf ihre Panzer, sondern schreiben auch „nach Berlin“ drauf. Sollen die Raketen doch auf den Reichstag fallen – das ist ein Denken, das in der russischen Armee gefördert, gepflegt und gewollt wird und von den Hetzern im russischen Fernsehen geschürt. Die Russen, die jetzt gegen die Ukraine kämpfen, bekommen vom Patriarchen Kirill einen göttlichen Segen, und ihre Sünden werden ihnen erlassen, wenn sie Ukrainer töten. Wer das nicht ernst nimmt und meint, das sei nur Propaganda und Putin gehe es nur um Machterhalt, wer diese außenpolitische Komponente vergisst oder nicht sehen will, der ist einfach beschränkt.
Ist die deutsche Gesellschaft bereit, sich dieser realen Gefahr zu stellen?
Wenn die USA als Waffenlieferant ausfallen und Deutschland einspringen muss, dann kostet das viel Geld. Wir haben ohnehin Haushaltsprobleme, und wenn es dann an die eingemachten Interessen der deutschen Bevölkerung geht, wenn es etwa keine Rentenerhöhung mehr gibt oder Einschnitte im Sozialhaushalt, dann glaube ich, werden viele sagen: ‚Was geht uns der Krieg in der Ukraine an?’.
Was würden Sie dem als Alternative entgegensetzen?
Ich glaube, es ist an der Zeit, dass der Bundeskanzler nicht „nur“ von den ukrainischen Opfern spricht, sondern auch von den materiellen Opfern, die die deutsche Gesellschaft bringen muss. Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Wohlstand zunächst einmal nicht steigt, sondern vielleicht sogar sinkt, weil eben Waffen produziert und in die Ukraine geliefert werden müssen. Auch, dass wir selbst in Gefahr sind, ist noch nicht ausreichend angekommen. Ich bezweifle fast, dass das jemals in der deutschen Gesellschaft ankommen wird. Denn wir hängen zu sehr an dem, was wir haben und an dem Glauben fest, ‚das wird schon gut gehen‘.
Besteht also die Gefahr, dass die Zeitenwende stecken bleibt?
Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass diese Kriegsmüdigkeit und auch die Kosten des Krieges für die Gesellschaften der Unterstützerländer der Ukraine zu hoch werden – und sich die Regierungen, demokratisch wie sie sind, an dem orientieren, was ihre Gesellschaften wollen.
Also genau Putins Kalkül?
Richtig. Sein Kalkül, dass er den längeren Atem hat, dass der Westen irgendwann aufgibt. Dann kann die Ukraine froh sein, wenn sie nur den Donbas, Cherson und die Gebiete rechts des Dnipro verliert. Aber dabei bleibt es vielleicht ein, zwei, drei Jahre – dann holt sich Putin den Rest.
Wie würde sich dieses Szenario auf die Sicherheitslage in Europa auswirken?
Wenn sich nicht allgemein die Einsicht durchsetzt, dass eine 180-Grad-Wende stattgefunden hat, dass wir uns jetzt in Kriegszeiten befinden und daraus Konsequenzen, auch persönliche, gezogen werden müssen – dann hat Putin gewonnen. Dann etabliert er wieder ein System abhängiger Staaten unter der Kuratel Moskaus. Die Zeiten, in denen es nach dem Zweiten Weltkrieg – relativ gesehen – ruhig aufwärts ging, sind vorbei. Das war eine ganz andere Zeit als die, die wir jetzt erleben.
Steuern wir also auf einen Dritten Weltkrieg zu – oder befinden wir uns bereits in einem hybriden Dritten Weltkrieg und haben es nur noch nicht bemerkt?
Es geht darum, ihn zu verhindern. Es geht darum, den Mann zu stoppen, der ihn anzetteln wird, wenn er kann. Und das geht nur durch eine militärische Niederlage Russlands in der Ukraine. Ich schreibe schon wieder an einem neuen Buch: „Europäische Sicherheit – nicht mit, sondern gegen Russland“. Ich beschäftige mich darin vor allem mit Sicherheitsfragen der Zukunft.
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