Will Putin einen großen Krieg?
Eskalation an der Frontlinie – Welche Auswirkungen haben die aktuellen Ereignisse auf die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland?
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Seit Januar 2021 bahnt sich eine stärkere militärische Eskalation im Donbass an. Russland sammelt demonstrativ militärische Ausrüstung an der russisch-ukrainischen Grenze, verlegt Truppenverbände und stärkt seine militärische Präsenz auf der besetzten Krim. Was steckt hinter diesen Entwicklungen? Und welche Szenarios erscheinen denkbar?
Wozu eine Eskalation?
Die fortschreitende Verschlechterung der Sicherheitslage im Donbass muss als Teil einer Reaktion Russlands auf die sich verändernde politische und diplomatische Situation im Verhandlungsprozess betrachtet werden.
Erstens ist die Russische Föderation daran interessiert, Druck auf Präsident Selenskyj auszuüben, um ihn auf diese Weise zu Kompromissen zu bewegen. Die Aussichten auf Kompromisse haben sich seit August 2020 zunehmend verschlechtert. Insbesondere das Waffenstillstandsabkommen im Juli 2020 sollte die Ukraine zu politischen Zugeständnissen bewegen.
Während der Waffenstillstand für die Ukraine ein erster Schritt in Richtung Sicherheit darstellte, war er für Russland vor allem ein Vorspiel für politische Kompromisse, auf die er schon länger hofft. Zumal es weder in Minsk, noch in der Normandie zu nennenswerten Zugeständnissen gekommen war, hatte die russische Seite weitere humanitäre und sicherheitspolitische Maßnahmen wie die Entfernung von Minen, die Auflösung von Truppen, Gefangenenaustausche, den unbegrenzten Zugang zu den besetzten Gebieten für das Rote Kreuz oder die Öffnung neuer Checkpoints in den Städten Schtschastja und Solote blockiert. Alle Versuche zur Umsetzung des Minsker Abkommens waren bisher erfolglos.
Zweitens ist der Rückgriff auf militärische Maßnahmen als ein Versuch Russlands zu verstehen, eine Revision bzw. eine Aktualisierung des Minsker Abkommens zu verhindern. Es handelt sich dabei um eine Reaktion auf die neue Taktik Kyjiws. Konkret versuchen die ukrainischen Unterhändler ihre Idee durchzusetzen, die Entwaffnung, Demilitarisierung und Kontrolle der Grenzen noch vor den Wahlen in den besetzten Gebieten und der vollständigen Umsetzung der Regelungen über den „Sonderstatus“ zu vollziehen. Dadurch ist für Russland eine diplomatische Sackgasse entstanden, die es nun durch undiplomatische Mittel aufzulösen versucht.
Die Einhaltung des Waffenstillstands bringt für Russland keine weiteren Vorteile mehr mit sich. Tatsächlich nutzt dieser vor allem der ukrainischen Seite. Diese Annahme wird durch einen genaueren Blick auf den deutsch-französischen „Friedensplan“ bestätigt, der die sogenannten Implementierungspakete für das Minsker Abkommen enthält und an russische Medien geleakt wurde. Die russischen und ukrainischen Ergänzungsvorschläge zur deutsch-französischen Ursprungsversion sind ebenfalls durchgesickert.
In diesen Vorschlägen findet sich erstmals die Idee der Selenskyj-Administration, die Kontrolle über die Grenzen noch vor allen anderen Maßnahmen, Entwaffnung in der Region inbegriffen, zurückzuerlangen. Alle politischen Maßnahmen sollen schrittweise und de-facto in Abhängigkeit vom Fortschritt bezüglich der Sicherheitsklauseln eingesetzt werden. Diese Logik widerspricht dem russischen Ansatz und will einem Umschwenken der Verhandlungen zuvorkommen.
Drittens ist die Situation auch als eine Form der politischen Einschüchterung eines „kollektiven Westens“ zu verstehen. Nicht nur die Ukraine, sondern auch die Vermittler aus der Normandie, die USA, Großbritannien und andere einflussreiche NATO-Partner gehören zur Zielgruppe der gegenwärtigen Eskalation.
Selbst wenn reale Pläne für eine Eskalation existieren, so sollen die Manöver doch vor allem die militärische Potenz Russlands demonstrieren. Einerseits stehen sie in einem Zusammenhang mit der jüngsten rhetorischen Radikalisierung Washingtons gegenüber Russland. Für Präsident Putin ist es wichtig, die Grenzen der Unterstützung der USA für die Ukraine auszutesten. Andererseits sind auch die gestiegenen Spannungen in den EU-Russland-Beziehungen ein Grund, entlang der russisch-ukrainischen Grenze die „Muskeln spielen zu lassen“.
Darüber hinaus ist ein kurzfristiges Ziel Russlands in Europa die Fertigstellung von Nord Stream 2. Die gegenwärtige militärische Einschüchterung des Westens kann auch damit erklärt werden. Es handelt sich um einen Versuch, neue Barrieren und Sanktionen durch den Westen zu verhindern. Präsident Bidens Haltung hinsichtlich der Nachteile von Nord Stream 2 ist wesentlich radikaler als die in der EU existierenden Ansätze. Russland könnte also die Fertigstellung von Nord Stream 2 im Blick haben, indem es dem Westen eine Eskalation in Aussicht stellt.
Die gegenwärtige Bedrohungslage ist auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen. Diese sind offensichtlich nicht nur in den Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland zu suchen. Das Eskalationsszenario soll nicht nur der Ukraine Zugeständnisse abringen, sondern ebenso dem Westen. Zudem könnte auch der innenpolitische Legitimationsdruck Präsident Putins eine Rolle spielen.
Was wird als nächstes passieren?
Nichtsdestotrotz bedeuten diese Signale nicht automatisch, dass die Region auf eine unausweichliche Aggression zusteuert. Zwei Szenarios verdienen eine genauere Betrachtung.
Das erste basiert auf der Annahme, dass die Entwicklungen als Teil einer gegen die Ukraine und ihre westlichen Partner gerichteten, großangelegten politischen Einschüchterungstaktik zu verstehen sind, wobei es Russland mehr um die Angst vor der Aggression, als um die Aggression selbst geht.
Das zweite Szenario geht davon aus, dass eine neue Invasion unmittelbar bevorsteht und die Vorbereitungen durch die kommende militärische Übung „Sapad 2021“ verschleiert werden sollen.
Im Falle einer direkten Invasion auf dem Territorium der Ukraine wird die Offensive mit großer Wahrscheinlichkeit aus drei verschiedenen Richtungen starten, und zwar von der Krim, den besetzten Teilen des Donbass und aus der Region um Charkiw. In diesem Szenario liegt es nahe, dass die Reaktion des Westens aus neuen Sanktionen, der Stilllegung von Nord Stream 2 und verstärkten Bemühungen zur Unterstützung der Ukraine bestehen wird, wobei noch unklar ist, welche in Frage kommen. Zudem sind politische Zugeständnisse der Ukraine und ihrer westlichen Partner nicht garantiert.
Die direkte Invasion würde sicherlich einige Vorteile für Russland mit sich bringen. Dazu zählen die Verschiebung der Aufmerksamkeit der russischen Bevölkerung auf die „Verteidigung russischer Landsleute“ in der Ukraine, die Besetzung neuer Territorien (insbesondere im Süden und Südosten der Ukraine; möglicherweise in dem Bestreben, das Problem der Wasserknappheit auf der Krim zu lösen) und die Stärkung der eigenen Verhandlungsposition gegenüber dem Westen.
Dennoch ist höchst fraglich, ob Russland durch ein solches Szenario an Gewicht gewinnen oder verlieren wird. Mithin erscheint das Invasionsszenario zwar denkbar, aber weniger wahrscheinlich als eine Eskalation ohne eine großflächige Offensive.
Ein anderes Szenario geht von der Wiederaufnahme des Grabenkrieges im Donbass aus, jedoch ohne Veränderungen der Frontlinie oder Angriffe in neue Richtungen. In diesem Fall würde die aktuelle militärische Aktivität auf einen Waffenstillstand wie zuvor hinauslaufen, jedoch mit einer verbesserten Verhandlungsposition für Russland. Die Rationalität dieses Szenarios erscheint für Russland vielversprechend. Doch darf nicht vergessen werden, dass Rationalität nicht das Hauptargument im Russisch-Ukrainischen Krieg ist.
Um die Wahrscheinlichkeit einer neuen Invasion beurteilen zu können, dürfen nicht ausschließlich Informationen aus Russland und Bewegungen militärischer Ausrüstung herangezogen werden. Auch indirekte Hinweise sind zu berücksichtigen.
Konkret gemeint sind damit Indikatoren wie die Entsendung mobiler Krankenhäuser zur russisch-ukrainischen Grenze, die Mobilisierung von Einwohnern der besetzten Gebiete des Donbass und „legislative“ Maßnahmen, die durch die Besetzung von Entscheidungsorganen möglich werden.
Zum jetzigen Zeitpunkt wurde keine dieser Maßnahmen getroffen. Es ist lediglich die Mobilisierung von 200 Personen in der sogenannten „Donezker Volksrepublik“ angekündigt worden, was eher symbolischen Charakter hat, und weniger auf ernstzunehmende Vorbereitungen auf eine neue Stufe des Krieges schließen lässt. Ohne medizinische Soforthilfe ist ein Angriff unwahrscheinlich.
Ohne Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht von Bewohnern aus den besetzten Gebieten erscheint eine breit angelegte Offensive ebenfalls fraglich.
Gleichzeitig könnten die Aktivitäten in und um den Donbass ein Ablenkungsmanöver darstellen, mit dessen Hilfe Russland die Aufmerksamkeit von den Entwicklungen auf der Krim weglenken will, wo es weiterhin Truppen und militärische Ausrüstung hin- und herschiebt. Aus strategischer Perspektive ist die Südukraine von Odessa bis Mariupol nach wie vor ein Interessenschwerpunkt der Russischen Föderation.
Mithin erscheinen beide Szenarios zum jetzigen Zeitpunkt denkbar, obschon die Wiederaufnahme des Grabenkrieges im Donbass im Lichte der Vor- und Nachteilsabwägung für Russland wahrscheinlicher wirkt. Es ist sehr gut möglich, dass Russland auf diese Weise Grenzen austesten will, insbesondere in Bezug auf die USA und die NATO, und die eigene Verhandlungsbasis mittels militärischer Muskelspiele stärken will.
Dennoch sollte das Invasionsszenario nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die endgültige Entscheidung könnte in hohem Maße von den Signalen des Westens hinsichtlich seiner Unterstützungsbereitschaft für die Ukraine und seines Willens zu neuen Sanktionen gegen Russland abhängen. Je stärker diese Signale sind (finanzielle und militärische Unterstützung inbegriffen), desto größer werden die Kosten des Invasionsszenarios für Russland sein.
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