Jus­tiz­re­form in der Ukraine: fest­ge­fah­ren, ange­schla­gen und aufgegeben

Justizreform vorm Ende?
© Shut­ter­stock, Krysja

Die ehr­gei­zi­gen Refor­men der ukrai­ni­schen Straf­voll­zugs­be­hör­den sind ein­ge­stellt und die Jus­tiz­re­form kam noch nicht einmal aus den Start­lö­chern. Was sind die Gründe? Und kann Abhilfe geschaf­fen werden? Eine Analyse von Mykhailo Zhernakow

Warum ist die Jus­tiz­re­form in der Ukraine ins Stocken geraten?

Der Geset­zes­ent­wurf Nr. 1008 war einer der ersten Geset­zes­ent­würfe, die Prä­si­dent Selen­skyj dem neu­ge­wähl­ten Par­la­ment letzten Herbst vor­legte. Das Par­la­ment stimmte im Oktober für den Entwurf und er trat als Gesetz 193-IX in Kraft. Ziel war unter anderem eine Erneue­rung der Instan­zen, die für das Schei­tern der Jus­tiz­re­form unter der vor­he­ri­gen Admi­nis­tra­tio­nen ver­ant­wort­lich waren – die Kom­mis­sion für hohe rich­ter­li­che Qua­li­fi­ka­tion (KHRQ) und der Hohe Jus­tiz­rat (HJR). Das Gesetz entließ alle amtie­ren­den Mit­glie­der der KHRQ. Neue Mit­glie­der sollten mit Hilfe unab­hän­gi­ger inter­na­tio­na­ler Exper­ten gewählt werden- ähnlich wie im Falle der kürz­lich erfolg­ten (und gelun­ge­nen) Bildung des spe­zia­li­sier­ten Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richts.

Der Prozess der Annahme des Geset­zes­ent­wurfs war jedoch weder trans­pa­rent noch inte­gra­tiv, was Aus­wir­kun­gen auf seine Qua­li­tät hatte. Neben den fort­schritt­li­chen Maß­nah­men umfasste das Gesetz auch eine Reihe schwer­wie­gen­der Mängel und gefähr­li­cher Maß­nah­men, wie zum Bei­spiel die äußerst kon­tro­verse Ver­klei­ne­rung des neu geschaf­fe­nen Obers­ten Gerichts­hofs. Die EU und andere west­li­che Partner der Ukraine drück­ten darüber ihre Besorg­nis aus. Später äußerte die Venedig-Kom­mis­sion in ihrer Stel­lung­nahme scharfe Kritik an der Ver­klei­ne­rung, während sie gleich­zei­tig für die Erneue­rung der Jus­tiz­be­hör­den grünes Licht gab.

Die größte Schwä­che des Geset­zes 193-IX bestand darin, dem Hohen Jus­tiz­rat (HJR) zu viel Auto­ri­tät über den Umset­zungs­pro­zess der Reform zu geben, der­sel­ben Insti­tu­tion, die im Ergeb­nis selbst umfang­reich erneu­ert werden musste. Kurz darauf sabo­tierte der HJR die Umset­zung des Geset­zes voll­stän­dig: Er been­dete die Mit­wir­kung der inter­na­tio­na­len Exper­ten in der Wett­be­werbs­kom­mis­sion, die die KHRQ neu auf­le­gen sollte und schaffte es nicht, recht­zei­tig drei Mit­glie­der für die Inte­gri­täts- und Ethik­kom­mis­sion zu dele­gie­ren, die die Inte­gri­tät der Mit­glie­der im HJR über­prü­fen sollte. Darüber hinaus ging der HJR sogar so weit, die inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen für diese Sabo­tage ver­ant­wort­lich zu machen.

Diese Situa­tion zeigte einmal mehr, dass Rezepte für rich­ter­li­che „Selbst­ver­wal­tung“, die in sta­bi­len Demo­kra­tien funk­tio­nie­ren, in Trans­for­ma­ti­ons­län­dern wie der Ukraine bes­ten­falls frag­wür­dig sind. 

Nach den jus­tiz­be­zo­ge­nen Ver­fas­sungs­än­de­run­gen von 2016 setzt sich der HJR „zum Groß­teil aus von Rich­tern gewähl­ten Rich­tern“ zusam­men. Von den 21 Mit­glie­dern werden zehn vom Kon­gress der Richter gewählt, während der Prä­si­dent des Obers­ten Gerichts­hofs kraft seines Amtes als Mit­glied fun­giert. Der Prä­si­dent, das Par­la­ment, Rechts­an­wälte, Staats­an­wälte und Rechts­ge­lehrte ent­sen­den die übrigen: jeweils zwei Mit­glie­der. Die Venedig-Kom­mis­sion bewer­tete diese Ände­rung als „sehr positiv” und stellte fest, dass die Ent­schei­dung sämt­li­cher Ange­le­gen­hei­ten bezüg­lich rich­ter­li­cher Lauf­bah­nen durch den HJR ein „sehr posi­ti­ves und will­kom­me­nes Zeichen“ sei, „um die Unab­hän­gig­keit der Richter zu garan­tie­ren“; hoch­ran­gige EU-Vertreter*innen äußer­ten sich wie­der­holt ähnlich.

Die Wirk­lich­keit erwies sich aller­dings als völlig anders, nicht nur bezüg­lich der Erneue­rung der Justiz, sondern auch bezüg­lich der Unab­hän­gig­keit eben­je­ner Richter, die der HJR garan­tie­ren sollte. Abge­se­hen davon, dass der HJR einige höchst frag­wür­dige Richter in ihrem Amt beließ und sogar ans Oberste Gericht beför­derte, setzt er auch Richter, die gegen die Inter­es­sen mäch­ti­ger Poli­ti­ker ent­schei­den, sys­te­ma­tisch unter Druck.

Ein der­ar­ti­ges Ver­hal­ten ist der Zusam­men­set­zung des HJR geschul­det. Der Judi­ka­tive (der am wenigs­ten ver­trau­ens­wür­di­gen öffent­li­chen Insti­tu­tion in der Ukraine) vor der Neu­be­set­zung ihrer Reihen eine solche Selbst­ver­wal­tung ein­zu­räu­men, war eine schlechte Idee, denn die belas­te­ten Richter würden nicht für jeman­den stimmen, der bereit wäre, sie zu ent­las­sen. Aller­dings haben die Mecha­nis­men der Ernen­nung wenig mit der Selbst­ver­wal­tung der Justiz zu tun. Als der Kon­gress der Richter das letzte Mal über vier neue Mit­glie­der abstimmte, wählte er Mit­glie­der aus, die im Voraus mit hohen poli­ti­schen Amts­trä­gern abge­spro­chen waren. Bei allen vier gab es Pro­bleme mit der Inte­gri­tät, und zwei weitere aktu­elle Mit­glie­der wurden auf ver­fas­sungs­wid­rige Weise bestimmt.

Zwei kürz­lich getrof­fene Ent­schei­dun­gen des Ver­fas­sungs­ge­richts (VG) haben die Situa­tion noch verschärft.

Eine Ent­schei­dung, die am 18. Februar 2020 in Kraft trat, hob Teile der Jus­tiz­re­form von 2016 auf. Sie erklärte die Auf­lö­sung des „alten“ Obers­ten Gerichts und die Senkung der monat­li­chen Pen­si­ons­be­züge für pen­sio­nierte Richter, die sich der Eig­nungs­prü­fung nicht unter­zo­gen hatten, für ver­fas­sungs­wid­rig. Diese Ent­schei­dung führt zur Ernen­nung von neun zusätz­li­chen Rich­tern, die der „alten Garde“ ange­hö­ren und sich gewei­gert hatten, sich der Über­prü­fung der Bewerber*innen für das „neue“ Oberste Gericht zu unter­zie­hen. Außer­dem werden die Zah­lun­gen an die pen­sio­nier­ten Richter erheb­lich erhöht, wodurch der Staats­haus­halt in einer schwie­ri­gen wirt­schaft­li­chen Situa­tion zusätz­lich belas­tet wird.

Am 11. März ver­ab­schie­dete das VG eine Ent­schei­dung zur Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit von Gesetz 193-IX. Damit hob das Gericht die Ver­rin­ge­rung der Rich­ter­zahl am Obers­ten Gericht auf, wie von der Venedig-Kom­mis­sion emp­foh­len. Gleich­zei­tig erklärte es die HJR-Ethik­kom­mis­sion und die Redu­zie­rung der KHRQ auf zwölf Mit­glie­der mit wenig über­zeu­gen­der Argu­men­ta­tion für ver­fas­sungs­wid­rig (wodurch der Rat für öffent­li­che Inte­gri­tät, eine offi­zi­elle zivil­ge­sell­schaft­li­che Kom­mis­sion für die Inte­gri­tät der Justiz, viel weniger Ein­fluss erhielt als geplant).

Dieser Ansatz kann durch die Zusam­men­set­zung des VG und die Art, wie es gebil­det wird, erklärt werden. Im Moment haben neun der fünf­zehn Mit­glie­der des VG einen juris­ti­schen Hin­ter­grund. Daher haben ihre Ent­schei­dun­gen zum Status von Rich­tern und gericht­li­cher Ver­gü­tung einen erheb­li­chen Ein­fluss auf die Kar­rie­ren und die finan­zi­elle Stel­lung ihrer Ver­wand­ten, Fami­li­en­mit­glie­der und ehe­ma­li­gen Kol­le­gen sowie in gewis­ser Weise auf ihre eigenen. Somit urteilt das VG ten­den­zi­ell zu Gunsten der amtie­ren­den Richter und der „Judi­ka­tive-GmbH“ im All­ge­mei­nen, was beinahe zwangs­läu­fig Ent­schei­dun­gen gegen jede wirk­same Jus­tiz­re­form nach sich zieht. Außer­dem ist das Aus­wahl­ver­fah­ren trotz der ver­fas­sungs­recht­li­chen Auflage, dass alle Richter am VG nach wett­be­werb­li­chen Aspek­ten aus­ge­wählt werden müssen, tat­säch­lich immer noch weit­ge­hend poli­ti­siert. Es bleibt dennoch unklar, ob diese Ent­schei­dun­gen mit dem Büro des Prä­si­den­ten koor­di­niert waren, und wenn ja, in welchem Ausmaß.

Weitere Ent­wick­lun­gen

Trotz des erheb­li­chen Kol­la­te­ral­scha­dens gibt es immer noch eine Mög­lich­keit, die Reform zu retten. 

Da die Fristen abge­lau­fen sind und eine Reihe von Maß­nah­men für ver­fas­sungs­wid­rig erklärt wurden, ist es unmög­lich, das Gesetz 193-IX korrekt umzu­set­zen, ohne es zu ändern.

Seit Dezem­ber letzten Jahres erwägt das Büro des Prä­si­den­ten einen Geset­zes­ent­wurf, der die Reform­blo­cka­den auf­he­ben soll. Die Geset­zes­än­de­rung zielt darauf ab, eine Reihe von Emp­feh­lun­gen der Venedig-Kom­mis­sion umzu­set­zen. Außer­dem ent­fernt sie den HJR aus dem Reform­pro­zess, da klar erkenn­bar war, dass er sich in der jet­zi­gen Zusam­men­set­zung gegen jede wirk­same Ände­rung stellen wird.

Die inter­na­tio­na­len Partner der Ukraine begrüß­ten diese Initia­tive. Aller­dings zögerte der Prä­si­dent, die Ände­run­gen ein­zu­füh­ren – trotz der drin­gen­den Not­wen­dig­keit einer Neu­be­set­zung der Jus­tiz­be­hör­den und trotz wie­der­hol­ter Rufe aus der Zivilgesellschaft.

Diese Kom­pli­ka­tion hat auch eine per­so­nelle Dimen­sion. Es gab eine bedeu­tende Ver­än­de­rung im Büro des Prä­si­den­ten, dem wich­tigs­ten Ent­schei­dungs­trä­ger der Reform. Infol­ge­des­sen gibt es in besag­tem Büro keinen lei­ten­den Reform­be­für­wor­ter mehr; die der­zei­ti­gen Amts­trä­ger bemühen sich ten­den­zi­ell um weniger umfang­rei­che und eher tech­ni­sche Lösun­gen, etwa indem sie den HJR über­zeu­gen möchten, den Wett­be­werb für die KHRQ zu starten, ohne dabei die Zusam­men­set­zung des HJR selbst zu verändern.

Doch obwohl das Fehlen der KHRQ ein Problem dar­stellt, ist der alte, unre­for­mierte HJR, der nur den Status quo retten will und alle wirk­sa­men Ände­run­gen in der Justiz sabo­tiert, ein wesent­lich grö­ße­res Problem. Sollten seine jet­zi­gen Amts­trä­ger im Amt bleiben und die Kon­trolle über die Umset­zung des Geset­zes behal­ten, so wird die Reform niemals greifen.

Emp­feh­lun­gen

Die Ukraine kann es sich nicht leisten, bezüg­lich der Jus­tiz­re­form wei­ter­hin Augen­wi­sche­rei zu betrei­ben. Aus diesem Grund ist es nicht hin­nehm­bar, sich auf etwas anderes als die wirk­same Reform der Jus­tiz­or­gane, ins­be­son­dere des HJR, zu einigen.

Es ist äußerst wichtig, die Geset­zes­än­de­run­gen zu ver­ab­schie­den, die den HJR von der Umset­zung der Reform, d.h. von der Bildung der Aus­wahl­kom­mis­sion für die KHRQ und der HJR-Ethik­kom­mis­sion, aus­schlie­ßen. Außer­dem ist es sehr wichtig, dass der Zivil­ge­sell­schaft eine bedeu­tende Rolle in der Reform zukommt. Der Rat für öffent­li­che Inte­gri­tät sollte auf­recht­erhal­ten und gestärkt werden. Bei der Beur­tei­lung der Bewerber*innen für das Rich­ter­amt und für Posi­tio­nen in Jus­tiz­be­hör­den sollte die Zivil­ge­sell­schaft mit der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft zusammenarbeiten.

Darüber hinaus sind weitere Jus­tiz­re­for­men nötig, um die Dau­er­haf­tig­keit der Ver­än­de­run­gen zu gewähr­leis­ten. Prä­si­dent Selen­skyj sollte Geset­zes­än­de­run­gen ein­füh­ren (mög­li­cher­weise in Form von Ver­fas­sungs­än­de­run­gen), die eine Neu­auf­lage des HJR vor­se­hen und ein neues Ver­fah­ren für seine Bildung bieten. Nach der posi­ti­ven Erfah­rung mit der Auswahl von Rich­tern für das Hohe Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richt sollten inter­na­tio­nale Exper­ten eine Kan­di­da­ten­liste für den HJR erstel­len, sodass die poli­ti­schen Organe und Jus­tiz­be­hör­den, die poli­ti­schem Ein­fluss unter­lie­gen, nur HJR-Mit­glie­der aus dem Pool ver­trau­ens­wür­di­ger Bewerber*innen aus­wäh­len könnten. Vertreter*innen der Zivil­ge­sell­schaft sollten in diesem Gremium für die Über­gangs­zeit die Mehr­heit der Sitze halten.

Das Par­la­ment sollte einen trans­pa­ren­ten und inte­gra­ti­ven Wett­be­werb für Ernen­nun­gen ans Ver­fas­sungs­ge­richt eta­blie­ren sowie den legis­la­ti­ven Boden berei­ten für Refor­men der juris­ti­schen Aus­bil­dung und des Zugangs zu juris­ti­schen Berufen, um die Pro­fes­sio­na­li­tät und Inte­gri­tät zukünf­ti­ger Anwälte zu garantieren.

Der Artikel erschien im Rahmen des Pro­jek­tes www.3dcftas.eu/ua.

Über­set­zung aus dem Eng­li­schen von Meike Temberg.

Textende

Portrait von Mikhailo Zhernakov

Mikhailo Zher­na­kov ist Direk­tor der DeJuRe-Stif­tung, einer Orga­ni­sa­tion zur För­de­rung der Rechts­staat­lich­keit in der Ukraine.

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