Mykolajiw lebt!
Ständiger Raketenbeschuss, Ausfälle bei der Wasserversorgung und Mobilfunkverbindung – die Stadt Mikolajiw steht im Zentrum russischer Angriffe. Doch die Menschen vor Ort lassen sich nicht unterkriegen. Ein Lagebericht von Volodymyr Zayats
Die Situation in der Stadt Mykolajiw bleibt angespannt. Da die gewünschten Erfolge an der Front ausbleiben, setzen die russischen Truppen immer mehr auf wahllosen Raketenbeschuss von Wohngebieten und Infrastruktureinrichtungen. Am 12. Mai zerstörte die ukrainische Artillerie eine große Menge feindlicher Ausrüstung in der Region Cherson, woraufhin sich die russischen Besatzungstruppen in der Nacht mit massivem Beschuss durch Mehrfachraketensysteme (MLRS) „revanchierten“. Während des Beschusses wackelten die Hauswände und die Fenster flogen aus Rahmen. Mehrere Wohnhäuser, eine Pressanlage und andere Infrastruktureinrichtungen wurden beschädigt. Es gab mindestens 15 Verletzte.
Am Wochenende darauf gab es tagsüber starken Raketenbeschuss. In einigen Gebieten fielen Strom und Internet aus. Inzwischen kann niemand mehr genau sagen, wie viele Einschläge es gab und zu welchen Zeitpunkten es zu Beschuss kam. Die Raketen fliegen nur zwei bis drei Minuten und dies bringt alle Bewohner der Stadt in große Gefahr. Zuletzt wurden vor allem auch Wohngebäude zerstört oder teilweise beschädigt. Natürlich hört jeder auf den Luftalarm und niemand ignoriert ihn – wie es in den ersten Wochen des Krieges der Fall war. Jeder weiß inzwischen, dass er sterben kann. Die größte Gefahr bleibt, dass der Luftalarm nicht funktioniert, wenn es zu Beschuss durch MLRS-Systeme kommt.
Oft brechen Brände aus. Unsere tapferen Feuerwehrleute und Pyrotechniker arbeiten rund um die Uhr, um die Folgen all dieser Treffer zu beseitigen. Feindliche Angriffe auf das Kraftwerk sind häufiger geworden, sodass es Unterbrechungen bei der Stromversorgung und der Mobilfunkkommunikation gibt. Trotzdem werden Lebensmittel regulär an Geschäfte geliefert. Alle Grundbedürfnisse können gedeckt, alles kann gekauft werden und die Preise sind nicht sehr gestiegen.
Probleme bei der Wasserversorgung
Die Situation mit der Wasserversorgung verbessert sich allmählich. Seit dem 12. April ist die Leitung, durch die Wasser (vom Fluss Dnipro im Gebiet von Cherson) in die Stadt geleitet wird infolge heftiger Schlachten im Gebiet von Mykolajiw beschädigt. Dies hat die bereits problematische Situation erheblich erschwert. Die Stadtbehörden haben jedoch alle Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass die Menschen die Möglichkeit haben, Wasser zu erhalten. Brunnen wurden in der Stadt gegraben, Wasser wurde von Feuerwehrautos, Lastwagen und Straßenbahnen geliefert.
Freiwillige, insbesondere aus Odesa und anderen Städten, haben uns Wasser in Flaschen und eine Kläranlage geliefert, damit die Stadtbehörden die Wasserversorgung so schnell wie möglich wieder garantieren können. Seit dem 14. Mai stellt die Stadt allmählich die Wasserversorgung wieder her, aber es ist technisches Wasser und man kann es noch nicht trinken. Laut dem Bürgermeister von Mykolajiw stammt das Wasser aus dem Fluss Südlicher Bug, gut gereinigt gelangt es dann in das System. Trinkwasser ist in Geschäften oder kostenlos an mobilen Wasserspenderstationen in der Stadt erhältlich.
Viele Einwohner, die einen eigenen Brunnen haben, teilen das Trinkwasser mit anderen Bewohnern. Die Stadtverwaltung verspricht, ihnen die Stromkosten zu erstatten. Vor einigen Tage kamen Vertreter der Präsidialverwaltung in die Stadt und sprachen mit dem Bürgermeister, dem Gouverneur der Region Mykolajiw und Freiwilligen. Sie forderten die Einwohner auf, stark zu sein und nicht aufzugeben, und versprachen, die gesamte Infrastruktur, die zerstört wurde, nach dem Sieg wieder aufzubauen.
Bewohner meisten die Herausforderungen
Die Kraftstoffversorgung ist nach wie vor stark eingeschränkt. In der ganzen Ukraine gibt es zu wenig Benzin, aber vor allem die Region um Mykolajiw ist betroffen, weil die russischen Besatzungstruppen fast die gesamte Infrastruktur und alle Ölraffinerien zerstört haben. Leider übersteigt die Nachfrage bisher das Angebot und das gesamte gelieferte Benzin wird in Windeseile verkauft. Daher steigen immer mehr Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel oder Fahrrad um oder gehen zu Fuß.
Trotz des ständigen Beschusses arbeiten die Bewohner der Stadt weiter. Alle helfen bei den Aufräumarbeiten nach den Bombenangriffen. Geschäfte, Apotheken, Banken und Supermärkte sind geöffnet. Viele Menschen gehen jeden Tag zur Arbeit, einige fahren sogar mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt zum Arbeitsplatz.
Die Bürger lassen sich nicht entmutigen.
Alle Freiwilligenorganisationen in der Stadt sind unermüdlich im Einsatz. Alle Bedürftigen können nun Lebensmittel, Brot, Fleischkonserven, Hygieneartikel, Medikamente und Trinkwasser erhalten. Freiwillige Helfer versuchen, Lebensmittel an ältere und behinderte Menschen zu verteilen. Jeden Tag arbeiten Hunderte von Reparaturteams in der Stadt, die die verheerenden Folgen des Beschusses beseitigen und sich um Reparaturen von Stromleitungen und kaputten Gas- und Wasserleitungen kümmern.
Die Stadt leert sich
Gleichzeitig verlassen immer mehr Bewohner die Stadt und die Region. Laut Statistik sind es bereits ein Drittel der Einwohnerschaft, aber nach eigenen Beobachtungen kann man sagen, dass mehr als die Hälfte der Einwohner die Stadt verlassen hat. Und das, obwohl die Versorgung momentan gesichert ist: Das Krankenhaus nimmt Patienten auf. Die Stadt ist gut befestigt und bereit für mögliche Entwicklungen an vorderster Front. Die Menschen gewöhnen sich allmählich an den Beschuss und die Schwierigkeiten, die ihnen in den letzten zwei Monaten zugefallen sind.
Jeder glaubt an den Sieg, jeder hilft der Armee. Die Stadt lebt.
Und trotz der Gefahr durch den ständigen Beschuss kehren viele Menschen in die Stadt zurück: Dem einen geht das Geld aus, ein anderer will kein mehr Flüchtling sein, wieder andere besitzen einen kleinen Garten und wollen dort Gemüse und Obst anpflanzen. Die wenigsten wollen ihr Eigentum zurücklassen.
Holz für die Front
Leider verliert die Stadt momentan etwas von ihrem Grün. Alle Bäume auf den zentralen Straßen wurden gefällt, damit das Holz für die Bedürfnisse der Armee – insbesondere den Bau von Schützengräben – genutzt werden kann. Das war nötig, denn Mykolajiw liegt in der Steppe. In unserer Nähe gibt es keine Wälder, nur künstlich angelegte Kiefernwälder. Die Pappeln im Stadtzentrum waren bereits alt, sie wären in den nächsten Jahren ohnehin gefällt worden.
Das Stadtbild hat sich sehr verändert. Auch viele Werbetafeln sind verschwunden. Die Straßen sind ungewöhnlich leer geworden. Dafür können wir uns sicher sein, dass unsere Verteidiger nachts nicht in den Schützengräben erfrieren. Und nach dem Krieg wird es möglich sein, neue schöne Bäume zu pflanzen. Auch im Umland tut sich etwas. Zwei Dörfer im Gebiet von Mykolajiw haben sich der ukrainischen Initiative „Gärten des Sieges“ angeschlossen. Obstbäume wurden gepflanzt sowie Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Karotten und Rüben.
Kriegskinder
Für die Kinder ist die Situation am schwierigsten. Die Schulen haben auf Fernunterricht umgestellt. Jeden Tag geben die Lehrer online Unterricht und versuchen, die Kinder zu unterstützen und zu ermutigen. Natürlich vermissen sich alle sehr – besonders jene, die die Stadt verlassen haben. Gerade hat die Einschreibung der I‑Dötze (Erstklässler) für das Schuljahr 2022/2023 in unserer Stadt begonnen. Viele Bewerbungen sind bereits am ersten Tag eingegangen, was die Hoffnung schafft, dass bald Frieden kommt und alles zu einem friedlichen Leben zurückkehren wird.
Ich selbst bin Schulleiter. Ich arbeite aus der Ferne, unterrichte Kinder und halte Sitzungen mit Kollegen ab. Die gesamte Dokumentation erfolgt jetzt online, was die Arbeit unter Kriegsbedingungen erleichtert. In meiner Freizeit engagiere ich mich aktiv in der Freiwilligenarbeit. Ich möchte nicht gehen – ich werde hier gebraucht.
So geht es vielen. Jeder geht seiner Aufgabe nach: Die einen schützen die Stadt, andere engagieren sich ehrenamtlich, manche unterrichtet Kinder, ein paar reparieren Ausrüstung und wieder andere backen Brot. Jeder arbeitet für den Sieg!
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