Back to the Roots: Kriegsveteranen als Politikum
Seit März diesen Jahres können die rund 1.200 noch lebenden Veteranen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), also des bewaffneten Flügels der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), das Recht auf den Status „Teilnehmer an Kriegshandlungen“ in Anspruch nehmen. Die Niederlage Poroschenkos bei den Präsidentschaftswahlen hat jedoch die Grenzen von symbolischer Erinnerungspolitik als Mittel zur Mobilisierung aufgezeigt – vorerst.
Das Gesetzesprojekt Nr. 8519 wurde am 6. Dezember verabschiedet und ist Ende März in Kraft getreten. Es ändert das Gesetz „Zum Status von Kriegsveteranen und Garantien ihrer sozialen Absicherung“ dahingehend, dass jene Personen, die im Rahmen bewaffneter Formationen für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert gekämpft haben – darunter explizit die Kämpfer der OUN-UPA –, ein Recht auf Anerkennung als Teilnehmer an Kriegshandlungen haben. De jure haben sie damit Anrecht auf ein umfassendes Netz von rund 40 staatlichen Fürsorgeleistungen und Vergünstigungen.
Bisher konnten OUN-UPA Kämpfer nur dann anerkannt werden, wenn sie 1941–44 auf besetztem ukrainischen Territorium gegen die deutschen Faschisten gekämpft hatten und offiziell rehabilitiert worden sind. Der antisowjetische Partisanenkampf, insbesondere im Zeitraum 1939–41 sowie 1945–56, blieb ausgeklammert. Dies wirft die Frage auf, weshalb die ukrainische Veteranenpolitik so lange von der sowjetischen Meistererzählung vom Großen Vaterländischen Krieg dominiert werden konnte. Dies hat historische und machtpolitische Gründe, die eng miteinander verbunden sind.
Sowjetische Meistererzählung mit Kompromissen
Die bisherige Regelung geht auf einen in der Umbruchphase 89–91 geschlossenen Kompromiss zurück. Auf der einen Seite stand der „Demokratische Block“ (eine nationaldemokratische Sammelbewegung, der auch die Bürgerrechtsbewegung Rukh angehörte) der 1990 in westukrainischen Städten und Landkreisen als klarer Sieger aus den ersten freien Kommunalwahlen hervorgegangen war und die Anerkennung der OUN-UPA Veteranen als Teil einer umfassenderen Kampagne ansah, die darauf abzielte, das westukrainisch-antisowjetische Narrativ als gesamtstaatliche Meistererzählung durchzusetzen. Dies gelang letztlich nur in einigen westukrainischen Regionen selbst, etwa über die Dekommunisierung des öffentlichen Raumes und die eigenmächtige Einführung von Elementen einer Veteranenfürsorge durch westukrainische Lokalregierungen.
Auf der anderen Seite standen die kommunistischen Machthaber – bzw. ab 1991 der erste gewählte Präsidenten der Ukraine, Leonid Krawtschuk, sowie die postsowjetische Nomenklatura. Krawtschuk stand vor der Aufgabe, die teilweise gegensätzlichen westukrainisch-antisowjetischen, sowjetukrainischen und sowjetisch-imperialistischen Narrative in eine gemeinsame, nationalstaatliche Erzählung zu überführen. Dies hatte den ersten Jahren der Unabhängigkeit höchste Priorität, sollte eine integrative – und damit befriedende – Funktion erfüllen und Zustimmung generieren. Unter demokratischen Vorzeichen waren damit vor allem Wählerstimmen gemeint.
Die 90er waren geprägt von wirtschaftlichem Niedergang, vom Zusammenbruch der sozialen Fürsorgesysteme und einer Atomisierung der sozialen Fabrik, gleichzeitig blieb die soziale und mentale Struktur der Sowjetukraine bestehen – und damit in weiten Teilen der Bevölkerung auch die paternalistische Erwartungshaltung gegenüber dem Staat. Dadurch stieg die Bedeutung staatlicher Privilegien in Form von nicht-monetären (und damit inflationsresistenten) staatlichen Leistungen und Rechten (kostenlose Nutzung von ÖPNV, medizinische Unterstützung, Anrecht auf Kuraufenthalt etc.) rapide an.
In diesem Kontext kam den Machthabern jede gegebene loyale soziale Basis entgegen. Die Weltkriegsveteranen hatten mit Beginn der Perestroika zwar ihren ideologischen Überbau verloren, waren jedoch gut organisiert und den OUN-UPA Veteranen zahlenmäßig weit überlegen. Auch kam ihnen die Hinterlassenschaft eines symbolischen Pantheons (Monumente, Feiertage, Rituale, Artefakte, Helden, Mythen) zugute. Diese Sedimente konnten – und wurden – in Form sowjetnostalgischer Anklänge adressiert. Dies erklärt, weshalb man sich im 1993 verabschiedeten Gesetz „Zum Status von Kriegsveteranen und Garantien ihrer sozialen Absicherung“ zwar für das sowjetische Narrativ entschied, die OUN-UPA Veteranen aber auch nicht ganz außen vor lassen wollte.
Veteranenpolitik als Machtpolitik
Der Soziologe Reinhard Bendix schreibt, dass staatliche Wohlfahrtsprogramme eine maßgebliche Strategie des Nation-Building und damit der Herstellung von Legitimität seien. Bei der ukrainischen Veteranenpolitik fallen diese Elemente in besonderer Weise zusammen; die Veteranen „verkörpern“ (im wahrsten Sinne des Wortes) die jeweiligen Narrative, deren Produkt sie sind, nicht nur – sie repräsentieren ihre totale, gegensätzliche Zuspitzung und eignen sich dadurch zur politischen Mobilisierung. Veteranenpolitik ist somit auch als Herrschaftstechnologie zu verstehen, die an der Schnittstelle von Sozial‑, Erinnerungs‑, und Machtpolitik ansetzt und sorgsam zwischen den Narrativen tarieren muss. Einige Beispiele machen das deutlich.
1995 etwa nahm Kutschma die 50. Jahresfeier zum Tag des Sieges zum Anlass, die Fürsorgeleistungen für die – zu diesem Zeitpunkt rund fünf Millionen – Kriegsveteranen zu erhöhen. 2002 – zum 60. Jahrestag der UPA-Gründung – trieb die Regierung von Anatolij Kinach das Thema Rehabilitation als Reaktion auf die Verluste von Wählerstimmen in der Westukraine bei den Parlamentswahlen 2002 voran – freilich nur sehr zögerlich, da man sinkende Zustimmungsraten in den südlichen und östlichen Oblasten fürchtete.
Am Vorabend der Orangen Revolution unterzeichnete Kutschma ein Gesetz, das allen Ukrainern, die bei Ende des zweiten Weltkrieges noch nicht die Volljährigkeit erreicht hatten, den Status „Kind des Krieges“ einräumte – und damit rund acht Millionen Pensionären zusätzliche Unterstützungsleistungen in Aussicht stellte.
2004 spiegelte sich die Multivektorenpolitik von Präsident Juschtschenko innenpolitisch in einer ‚Versöhnungsinitiative‘ zwischen Veteranen der Roten Armee und OUN-UPA-Kämpfern, die er als zwei Seiten desselben Kampfes für die ukrainische Unabhängigkeit darstellen wollte. Eine Schmutzkampagne rückte seine Bemühungen jedoch in ein ultrarechtes Licht und schmälerte seinen Rückhalt im Süden und Osten des Landes.
Bis 2010 stand die Anerkennung insgesamt zehnmal vergeblich auf der Agenda. Während die Ausweitung der Privilegien regelmäßig versprochen wurde – und billig zu haben war, da die Diskrepanz zwischen nominellen und faktisch erhaltenen Leistungen sehr hoch ist –, stießen Kürzungsversuche häufig auf kollektiven Widerstand und wurden aus Angst vor Popularitätsverlust zurückgenommen.
Ein epigonaler Ansatz bei der Kategorisierungspraxis
Entsprechend epigonal nimmt sich die Kategorisierungspraxis bei der Fortschreibung des Gesetzes aus. Dieses funktioniert wie ein Inklusions- bzw. Exklusionsmechanismus im Vorfeld staatlicher Veteranenpolitik. Je nach Bedarf und politischer Konjunktur wird eine neue Anspruchsgruppe ‚angeheftet‘. Die hier besprochene Gesetzesänderung ist bereits die 17. Änderung – in der laufenden Legislaturperiode, wohlgemerkt. Dafür ist jedoch in erster Linie die anhaltende russische Aggression verantwortlich, die einen starken Anpassungsdruck auf die Veteranengesetzgebung ausübt.
Paragraph 4 des Gesetzes definiert Kriegsveteranen als solche, die „an der Verteidigung ihres Vaterlandes oder an kriegerischen Handlungen auf dem Territorium anderer Staaten teilgenommen haben“, und unterteilt sie in drei Unterkategorien: „Kriegsteilnehmer“ (Utschastniki Wijny), „Teilnehmer an Kriegshandlungen“ (Utschastnik Bojowych Diy, UBD) und „Kriegsinvalide“ (Inwalidy Wijny). Kriegsveteranen sind in Hinblick auf den Umfang an sozialstaatlichen Leistungen gleichgestellt.
Die Kategorie der Kriegsteilnehmer umfasst auch nichtbewaffnete Zivilpersonen, die während des zweiten Weltkrieges im ukrainischen Hinterland gearbeitet haben, sowie all diejenigen, die bis 1932 geboren wurden. Auch „Veteranen des Staatdienstes“, die mehr als 25 Jahre in Strafverfolgungsbehörden tätig waren, gehören hierzu.
Die UBD-Kategorie ist enger gefasst. Die jüngste Kohorte bilden nach den UN-, den Afghanistan‑, und den Frontveteranen der Roten Armee die 363,253 ATO-Veteranen (Stand April 2019). Dies ist – wenig verwunderlich angesichts der anhaltenden russischen militärischen Aggression – die einzige Kategorie, die im Zeitraum 2015–2018 ein Wachstum um 16 Prozent zu verzeichnen hat.
Doch auch solche Kombattanten fallen in die Kategorie, die in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit im „Kampf gegen Banditentum“ eingesetzt wurden – ein Euphemismus für den Kampf gegen die bewaffneten Gruppen, die die hier besprochene Gesetzesänderung betrifft. Auch Personen, die an der Niederschlagung des Budapester Aufstands (1956) oder des Prager Frühlings (1968) teilgenommen haben, werden zu dieser Kategorie gezählt, ebenso wie Veteranen des Koreakriegs (1950–53) oder des Einsatzes in Kambodscha (1970). Schließlich findet das Gesetz auch Anwendung bei den Familien und Hinterbliebenen von Gefallenen, bei Tschernobyl-Liquidatoren, ebenso wie bei geschädigten Teilnehmern der Revolution der Würde.
Nähme man noch die „Veteranen der Arbeit“ hinzu – Personen mit einer Arbeitserfahrung von 35 (Frauen) respektive 40 Jahren (Männer) –, käme man auf die beeindruckende Zahl von etwa 10,5 Millionen, also rund einem Viertel der Gesamtbevölkerung, die heute unter den Oberbegriff „Veteran“ fallen.
Die folgende Tabelle schlüsselt die Gesamtzahl der Veteranen nach Unterkategorien auf (Grundlage: Weißbuch der NGO Juristische Hundertschaft, S. 16; ergänzt durch eigene Recherchen):
Anzahl | Unterkategorie |
427,046 [363,253] | Teilnehmer an Kriegshandlungen (UBD) [davon ATO-Veteranen] |
111,768 [5,538] | Kriegsinvaliden [davon ATO-Veteranen] |
436,068 [1,254] | Kriegsteilnehmer [davon ATO-Veteranen] |
161,302 [7,956] | Familienmitglieder von Verstorbenen [davon Hinterbliebene von ATO-Veteranen] |
18 | Personen, die sich besonderer Leistungen vor dem Vaterland verdient gemacht haben |
433 | Geschädigte Teilnehmer der Revolution der Würde |
147 | Hinterbliebene von Personen, die sich besonderer Leistungen vor dem Vaterland verdient gemacht haben |
191,335 | Veteranen der Strafverfolgungsbehörden |
1,345,030
1,153,695 |
Gesamt
Gesamt [abzüglich Veteranen der Strafverfolgungsbehörden] |
Dekommunisierungspolitik als Katalysator
Als Katalysator für die Eingliederung der OUN-UPA Veteranen in das Fürsorgesystem haben sich die im Frühling 2015 verabschiedeten, vom Ukrainischen Institut für Nationales Gedenken (UING) ausgearbeiteten und umstrittenen ‚Dekommunisierungsgesetze‘ erwiesen. Eines dieser Gesetze enthält eine erschöpfende Aufzählung von Gruppen, die sich um den Unabhängigkeitskampf verdient gemacht haben – darunter auch die OUN-UPA.
Wie schon bei den Dekommunalisierungsgesetzen wurde das Gesetz von einem informellen Bündnis aus rechtskonservativen Abgeordneten und ATO-Veteranen initiiert, was zum einen auf die Dominanz dieser Kräfte beim Agenda Setting in diesem Politikfeld hinweist, zum anderen zeigt, dass militärische und erinnerungspolitische Fragen in bestimmten Kreisen eng zusammengedacht werden. Die Gesetzesänderung ist damit als Fortsetzung der erinnerungspolitischen Dekommunisierung zu verstehen, die nun jedoch nach der toponymischen Ebene (die häufig auf eine ‚Westukrainisierung‘ hinausläuft) individuell erlittenes Unrecht in den Fokus rückt.
Dies zeigt sich auch beim Änderungsgesetz zur „Rehabilitation der Opfer des kommunistischen Regimes“, das im März 2018 in Kraft getreten ist. Bislang gestaltete sich schon die Rehabilitierung der OUN-UPA Veteranen als schwierig, da sie auf ein Gesetz vom April 1991 zurückgeht – und somit noch von den kommunistischen Machthabern verabschiedet worden war. So stand die Rehabilitation zwar jenen offen, die „ungerechtfertigter Weise Opfer von Repressionen“ geworden waren, doch in den allermeisten Fällen hatten diese eine formaljuristische Grundlage.
Diese Regelung wurde nun ersetzt. Die Kommissionen, die auf Grundlage eingereichter Beweise über die Rehabilitation zu entscheiden haben, sind dazu angetan, „im Zweifelsfall zugunsten des Geschädigten“ zu entscheiden. Das UING schätzt, dass noch zwischen 10.000 und 100.000 anspruchsberechtigte Personen leben. Für die meisten kommt die Regelung indes zu spät: laut sowjetischer Statistik sind alleine im Zeitraum von 1944–52 fast eine halbe Million Ukrainer Opfer von Repressionen geworden.
Analyse im Kontext der Präsidentschaftswahlen
Die Gesetzesänderung pflegte sich – wenn auch nicht explizit – in die Themensetzung der Wahlkampagne von Präsident Poroschenko ein: Armee, Sprache, Glaube. Die Bedeutung der Anerkennung der Veteranen bei der Wahlentscheidung lässt sich indes nur schwer abschätzen. Der Politikwissenschaftler Oleksiy Jakubin hatte im Vorfeld der Wahlen geschätzt, dass das Gesetz drei bis vier Prozent der Wählerschaft ansprechen könnte. Der Lwiwer Ableger der Veteranenorganisation ‚OUN-UPA Bruderschaft‘ hat seine Loyalität unter Beweis gestellt und in einem offenen Brief zur Wahl Poroschenkos aufgerufen, um „revanchistischen Bemühungen promoskauischer Kräfte“ entgegenzutreten.
Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl zeigen jedoch, dass die nationalkonservative Mobilisierungsstrategie mit ihren ethnokulturellen Untertönen in ihrer Breite einzig in den traditionalistischen soziomoralischen Milieus in der Westukraine verfangen hat – allen voran in der Lwiwer Oblast, der einzigen Region, in der sich Poroschenko in der Stichwahl mit 62,8 Prozent gegenüber Zelenskiy (34,5 Prozent) durchsetzen konnte. Mit Abstrichen gilt dies auch für die Oblasten Ivano-Frankivsk und Ternopil, die im zweiten Wahlgang zwar mehrheitlich für Zelenskiy wählten, doch mit 46,6 respektive 42,5 Prozent eben auch hohe Zustimmung für Poroschenko signalisierten.
In diesem Sinne muss die Anerkennung als Versatzstück einer übergeordneten, ideologisch getriebenen, dabei jedoch regional begrenzten Wahlentscheidung verstanden werden, die erinnerungs- und identitätspolitischen Fragen weiterhin hohe Bedeutung beimisst – im Gegensatz zum landesweiten Trend, der auf die abnehmende gesellschaftliche Relevanz dieser Konfliktlinien hinweist. Auch ein Generationenwandel in Form einer hohen Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung zugunsten Selenskyjs unter den jüngeren Wählern (bis 30 Jahre) dürfte hierbei eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
Damit kehrt die hier beschriebene Form der Veteranenpolitik gewissermaßen zu ihren westukrainischen Wurzeln zurück – und zu den noch verbliebenen, real existierenden Veteranen aus Fleisch und Blut. Bleibt zu hoffen, dass damit bald etwas Ruhe und Besonnenheit in eine Debatte einkehrt, die häufig auf eine einseitige Glorifizierung hinausläuft und verkennt, dass eine wohlverstandene Dekommunisierung nur durch die Abkehr von der binären sowjetischen Logik, die nur Helden oder Verbrecher kannte, möglich ist. Der weitere Umgang mit diesem Thema wird entscheidend vom Ausgang der Parlamentswahlen im Herbst und der Politik des neuen Präsidenten abhängen.
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