Die hin­ge­rich­tete Renais­sance und Stalins Kampf gegen die ukrai­ni­sche Intelligenzija

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Foto der Familie Kru­schel­nyts­kych, Anfang der 30er Jahre.

Die „Hin­ge­rich­tete Renais­sance“ beschreibt die Genera­tion ukrai­ni­scher Schrift­stel­ler und Künst­ler der 1920 und der frühen 1930er Jahre, die unter Stalins tota­li­tä­rem Regime unter­drückt oder sogar hin­ge­rich­tet wurden. In seinem Essay beschreibt Volo­dymyr Yer­mo­lenko, dass schon diese Genera­tion sich als eigen­stän­di­ges kul­tu­rel­les Subjekt sah und den Weg in die eigen­stän­dige Nation suchte.

Für den 13. Mai 1933 um 11 Uhr lud Mykola Chwy­lo­wyj, einer der wich­tigs­ten ukrai­ni­schen sowje­ti­schen Schrift­stel­ler, seine Autoren­kol­le­gen Mykola Kulisch und Oles Dos­vitnyi in sein Apart­ment ein. Gemein­sam mit seiner Frau Julia Umant­sewa wollten sie die Ver­haf­tung seines Freun­des, des Schrift­stel­lers Mykha­jlo Jalowyj, dis­ku­tie­ren. Jalowyjs Fest­nahme war nicht die erste gewesen, Ver­haf­tun­gen anderer ukrai­ni­scher Schrift­stel­ler waren ihr vor­aus­ge­gan­gen. Die repres­sive sowje­ti­sche Obrig­keit war ent­schlos­sen, die ukrai­ni­sche Intel­li­gen­zija in der Sowjet­union aus­zu­lö­schen – diese galt als zu frei­den­ke­risch, um wirk­lich „sowje­tisch“ zu sein.

Bei dem Treffen sprach Chwy­lo­wyj mit seinen Gästen wahr­schein­lich auch darüber, was er auf seinen Fahrten durch die Dörfer in der nahe­ge­le­ge­nen Region Poltawa gesehen hatte: Die Folgen der Hun­gers­not, die das Sta­lin­re­gime gegen ukrai­ni­sche Bauern orga­ni­sierte und die in den Jahren 1932–33 etwa vier Mil­lio­nen Todes­op­fer forderte.

Irgend­wann ließ Chwy­lo­wyj seine Gäste allein und ging in ein anderes Zimmer. Dort blieb er eine ganze Weile. Er schrieb etwas auf zwei Stück Papier.

Dann erschoss er sich.

„Jalowyjs Ver­haf­tung ist eine Hin­rich­tung der gesam­ten Gene­ra­tion“ – das waren seine letzten Worte.

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Chwy­lo­wyj hatte recht. Nach seinem Selbst­mord wurden die meisten seiner Schrift­stel­ler­kol­le­gen ver­haf­tet, so auch Kulisch und Dos­vitnyi, die am Morgen des 13. Mai in seinem Apart­ment gewesen waren. Viele von ihnen wurden 1937 in den Gulags hingerichtet.

Chwy­lo­wyj erschoss sich im Haus „Slowo“ („Wort“), das spe­zi­ell für die ukrai­ni­schen sowje­ti­schen Schrift­stel­ler in Charkiw erbaut worden war. Das Gebäude wurde 1930 in der Form des Buch­sta­ben C errich­tet (dem ersten Buch­sta­ben des Wortes «cлово», “Wort”) und war als „Koope­ra­tive“ das Zuhause meh­re­rer Dutzend ukrai­nisch-sowje­ti­scher Schrift­stel­ler. Es steht immer noch in der vul. Kultury 9 in Charkiw, aber nur wenig erin­nert noch an seine dra­ma­ti­sche Geschichte – ledig­lich eine Gedenk­ta­fel an einer der Wände. Bewoh­ner von etwa 40 der 66 Apart­ments im Haus Slowo wurden Opfer sta­li­nis­ti­scher Repressionen.

Die „Gene­ra­tion“, von der Chwy­lo­wyj sprach, wurde später die „Hin­ge­rich­tete Renais­sance“ genannt – oder „Hin­ge­rich­tete Rege­ne­ra­tion“ – ein Aus­druck, den der pol­ni­sche Intel­lek­tu­elle Jerzy Gie­droyc in den 1950er Jahren erfand, der Her­aus­ge­ber der in Paris erschei­nen­den pol­ni­schen Exil­zeit­schrift Kultura. 

Der ukrai­ni­sche Lite­ra­tur­his­to­ri­ker Jurij Lawri­nenko ver­wen­dete den Aus­druck als Titel einer Antho­lo­gie, die 1959 von Gie­droycs Ins­ty­tut Liter­acki in Paris her­aus­ge­ge­ben wurde.

Der Aus­druck war eine äußerst tref­fende Meta­pher, die beschreibt, dass die kul­tu­relle Renais­sance der Ukraine der 1920er Jahre brutal ver­nich­tet wurde: Der Groß­teil ihrer Ver­tre­ter wurde in die Lager geschickt und getötet und die Zukunft der Ukraine amputiert.

In dem Aus­druck schwingt aber auch das Ver­mächt­nis Mykola Chwy­lo­wyjs selbst mit, für den das Wort „Renais­sance“ eine tiefe, in der Geschichte der euro­päi­schen Kultur ver­wur­zelte Bedeu­tung hatte.

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Acht Jahre vor seinem Selbst­mord hatte Chwy­lo­wyj 1925 einen Essay­band mit dem Titel “Quo Vadis?” («Камо Грядеши?») her­aus­ge­bracht. In einem dieser Essays schrieb er, dass die junge pro­le­ta­ri­sche Kultur in der sowje­ti­schen Ukraine etwas Großes für Europa als Ganzes bedeute. West­eu­ropa habe seine Renais­sance im 15. und 16. Jahr­hun­dert gehabt; nun liefe ein ähn­li­cher Prozess in Ost­eu­ropa ab, so Chwy­lo­wyj. Diesen Prozess nannte er eine „asia­ti­sche Renais­sance“. Gemeint war, dass in der euro­päi­schen Kultur ent­wi­ckelte Werte nun in den Osten expan­dier­ten. Sie würden die öst­li­chen Grenzen Europas durch­bre­chen und das euro­päi­sche kul­tu­relle Erbe nach „Asien“ bringen. Die Ukraine würde dann unter den „Türen“ sein, durch die sich das kul­tu­relle Europa nach Osten bewegen werde.

Mit dem Konzept der „asia­ti­schen Renais­sance“ bemühte sich Chwy­lo­wyj, sowohl ukrai­ni­sche als auch euro­päi­sche kul­tu­relle Tra­di­tio­nen neu zu über­den­ken. Er stellte die ukrai­ni­sche Kultur wesent­lich weniger pro­vin­zi­ell dar als das sowje­ti­sche Dogma es ver­langte. Er ver­suchte die links­ge­rich­tete ukrai­ni­sche Lite­ra­tur der 1920er Jahre in den glo­ba­len Phä­no­me­nen der euro­päi­schen intel­lek­tu­el­len und kul­tu­rel­len Geschichte zu ver­an­kern, vor allem im Konzept der „Renais­sance“ im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts.

Gleich­zei­tig dachte er über die dyna­mi­sche Kapa­zi­tät der euro­päi­schen Kultur selbst nach. Er nahm wirk­lich an, dass die sowje­ti­sche Kultur der 1920er Jahre auf etwas Fri­sches und Neues für den euro­päi­schen Kontext als Ganzes schlie­ßen ließe. Die pro­le­ta­ri­sche Revo­lu­tion gäbe auch Europa eine neue Chance, so glaubte er, und die Ukraine würde eine beson­dere Rolle spielen, gerade weil ihre Kultur früher wie­der­holt aus­ge­merzt worden war. Die Ukraine hatte ihre Aris­to­kra­tie während unter­schied­li­cher Epochen ihrer neueren Geschichte ver­lo­ren, assi­mi­liert von pol­ni­schen oder rus­si­schen Staaten; sie hatte kaum eine eigene Bour­geoi­sie – und Chwy­lo­wyj ver­suchte, diese rie­si­gen Pro­bleme in Vor­teile umzuwandeln.

Gerade weil die Ukraine – sogar im Gegen­satz zu Russ­land – keine aris­to­kra­ti­sche Ver­gan­gen­heit und bür­ger­li­che Gegen­wart habe, könne sie einer wirk­li­chen „Bottom-up-Kultur“ das Wort ertei­len, einer pro­le­ta­ri­schen Kultur, die in der Lage sein würde, etwas radikal Neues zu erschaf­fen, dachte er. 

Diese Sicht­weise auf die sowje­ti­sche Revo­lu­tion in einem glo­ba­len Kontext, als Fort­set­zung einer großen euro­päi­schen Tra­di­tion und nicht als Oppo­si­tion dazu, war etwas, das dem sowje­ti­schen poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Projekt viel mehr Mensch­lich­keit hätte ver­lei­hen können – obwohl sich seine grau­sa­men Seiten schon lange vor dem Sta­li­nis­mus zeigten und die Ukrai­ner das sehr gut wussten.

Nachdem jedoch Stalin in der Sowjet­union die Macht über­nom­men hatte, nachdem er 1929 seine „Große Wende“ ange­kün­digt hatte, konnten Träume von einer huma­nis­ti­schen pro­le­ta­ri­schen Kultur nicht ernst genom­men werden. Der Kon­flikt zwi­schen der Gene­ra­tion Chwy­lo­wyjs und dem Sta­li­nis­mus war unum­gäng­lich: Ihr Welt­bild und ihre Werte waren restlos ver­schie­den. Chwy­lo­wyj träumte davon, dass euro­päi­sche Werte sich in Rich­tung Osten bewegen, Stalin träumte davon, dass sich tota­li­täre sowje­ti­sche Werte in Rich­tung Westen bewegen.

Der Schuss am 13. Mai 1933 im Haus „Slovo“ in Charkiw war nicht nur eine per­sön­li­che Tra­gö­die eines ukrai­ni­schen sowje­ti­schen Schrift­stel­lers. Er  bedeu­tete mehr als die „Hin­rich­tung der gesam­ten Gene­ra­tion“, wie Chwy­lo­wyj es beschrieb. Denn es war einer der Momente, an denen sich zeigte, dass die Sowjet­union nicht die Fort­set­zung eines huma­nis­ti­schen Europas war, sondern dessen schärfs­ter Gegner, sein dunkler dämo­ni­scher Schat­ten, der eines Tages in der Lage sein wird, Europa selbst zu absor­bie­ren – oder zumin­dest einen Teil davon. Sehr bald, schon 1939, und darüber hinaus nach 1945, erlebte Europa, wie ein tota­li­tä­rer Osten sich in Rich­tung Westen bewegte.

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In seiner Debatte der 1920er Jahre hatte Chwy­lo­wyj einen unge­wöhn­li­chen Ver­bün­de­ten: Mykola Serow. Serow war kein „pro­le­ta­ri­scher“ Schrift­stel­ler (er stammte aus einer Lehr­erfa­mi­lie) und kein poli­ti­scher Essay­ist. Er war Alt­phi­lo­loge und ein belieb­ter Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor, His­to­ri­ker der ukrai­ni­schen Lite­ra­tur, Dichter und Über­setz­ter antiker römi­scher und moder­ner euro­päi­scher Lite­ra­tur. Er war außer­dem einer der bedeu­tends­ten Ver­tre­ter der “neo­klas­si­schen Strö­mung“ in der ukrai­ni­schen Dichtung.

1926 schrieb Serow ein Essay, in dem er Chwy­lo­wyjs Argu­ment unter­stützte, „Die eura­si­sche Renais­sance und die Kiefern von Poschechonje“, und führte damit das Konzept einer „eura­si­schen Renais­sance“ ein – kul­tu­rell und his­to­risch zutref­fen­der als Chwy­lo­wyjs Begriff „asia­ti­sche Renais­sance“. Seine Argu­men­ta­tion war aller­dings der Chwy­lo­wyjs sehr ähnlich: „Lassen Sie uns das alte Europa nicht meiden, nicht das bür­ger­li­che Europa und nicht einmal das feudale“, schrieb Serow, und deutete an, dass die junge “ex nihilo” pro­le­ta­ri­sche Kultur das große euro­päi­sche Erbe nicht ver­nach­läs­si­gen solle – auch wenn sie dieses als ideo­lo­gisch fremd erachte.

Mykola Serow wurde im April 1935 ver­haf­tet. Im Novem­ber 1937 wurde er in Sand­ar­moch, einem Gulag in Kare­lien, hin­ge­rich­tet, 1500 km nörd­lich seiner Hei­mat­stadt Kyjiw, zusam­men mit Tau­sen­den anderer Gefan­ge­ner, dar­un­ter einige Dutzend Ver­tre­ter der ukrai­ni­schen Intel­li­gen­zija. Sogar im Lager über­setzte er noch Vergils Aeneis aus dem Latei­ni­schen ins Ukrainische.

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Die meisten der in den 1930er Jahren ver­haf­te­ten ukrai­ni­schen Schrift­stel­ler wurden – man stelle sich vor! – wegen Ter­ro­ris­mus verurteilt.

Das Über­set­zen Vergils aus dem Latei­ni­schen, die Auf­füh­rung von Thea­ter­stü­cken oder die Reform der ukrai­ni­schen Sprache wurden von der dama­li­gen sowje­ti­schen Repres­si­ons­ma­schi­ne­rie als „Ter­ro­ris­mus“ angesehen. 

Gegen Chwy­lo­wyjs Freunde, den Dra­ma­ti­ker Mykola Kulisch (der beim Selbst­mord Chwy­lo­wyjs in dessen Apart­ment zugegen war) und den Thea­ter­re­gis­seur Les Kurbas, wurden beson­ders zyni­sche Anschul­di­gun­gen erhoben. Die OGPU (die Ver­ei­nigte Staat­li­che Poli­ti­sche Ver­wal­tung) beschul­digte Kurbas, den pro­mi­nen­ten Gründer und Regis­seur des moder­nen ukrai­ni­schen Thea­ters Berezil, er habe zur Pre­miere eines Stückes von Mykola Kulisch einen ter­ro­ris­ti­schen Anschlag auf die Führer der kom­mu­nis­ti­schen Partei geplant. Durch Folter und Ein­schüch­te­rung brach­ten die Macht­ha­ber Men­schen dazu, fan­tas­ti­sche Geschich­ten über Kom­plotte zu erfin­den. Autoren und Dra­ma­ti­ker wurden zu radi­ka­len Extre­mis­ten erklärt, die mit Waffen und Spreng­stoff umgehen konnten. Kulisch und Kurbas wurden am selben Tag im Novem­ber 1937 in Sand­ar­moch hin­ge­rich­tet wie Mykola Serow.

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Die Tra­gö­die der 1930er Jahre war weder der Anfang noch das Ende der Geschichte.

Andere Repres­sio­nen gingen ihr voraus. Vor 1933 stand das Jahr 1930, mit dem insze­nier­ten Prozess gegen die SVU, die Union für die Befrei­ung der Ukraine. In dem Prozess wurden jene Schrift­stel­ler und Künst­ler ange­grif­fen, die mit der ukrai­ni­schen Unab­hän­gig­keit von 1917–1921 in Zusam­men­hang standen. Einige der spä­te­ren Reprä­sen­tan­ten der „Hin­ge­rich­te­ten Renais­sance“ – wie Oleksa Sli­sarenko – nahmen tat­säch­lich auf Seiten der Anklage am SVU-Prozess teil. Wie es zu Stalins Zeiten oft geschah, wurden die Anklä­ger bald selbst zu Opfern (auch Sli­sarenko wurde im Novem­ber 1937 in Sand­ar­moch getötet).

Aber das war auch noch nicht das Ende. Im Holo­do­mor kamen etwa 4 Mil­lio­nen ukrai­ni­sche Bauern ums Leben.

In den Jahren 1932–1937 wurde, wie oben erläu­tert, die Mehr­heit der frei den­ken­den links­ge­rich­te­ten Intel­li­gen­zija der Ukraine ver­haf­tet und hingerichtet. 

In den 1930er Jahren begann auch ein langer Prozess des „Lin­gui­zids“, durch den die ukrai­ni­sche Sprache, obwohl formal „erlaubt“ (im Gegen­satz zum Rus­si­schen Reich des späten 19. Jahr­hun­derts), künst­lich der rus­si­schen Sprache ange­nä­hert wurde. Zum Bei­spiel durch Wör­ter­bü­cher, in denen echte ukrai­ni­sche Wörter unter­drückt oder als ver­al­tet oder mund­art­lich mar­kiert wurden, und in denen das erste „ukrai­ni­sche“ Wort, das als Über­set­zung eines rus­si­schen Wortes vor­ge­schla­gen wurde, in der Regel eine künst­li­che Kopie des letz­te­ren war.

Repres­sio­nen hielten aber auch das gesamte 20. Jahr­hun­dert hin­durch an, beson­ders nach der kurz­le­bi­gen „Tau­wet­ter-Periode“ unter Nikita Chruscht­schow. Einige ukrai­ni­sche Künst­ler und Künst­le­rin­nen wurden getötet (wie die Malerin Alla Horska) oder schwer miss­han­delt, was zu ihrem Tod führte (wie der Dichter Wassyl Sym­o­nenko). Andere wurden in die Lager geschickt – wie Wassyl Stus, Wjat­sches­law Tschor­no­wil, Mykola Rudenko, Jewhen Swerst­juk, Myros­law Mary­no­wytsch, Wassyl Lis­so­wyj, Iwan Swit­lyt­schnyj und Dut­zende andere mehr. Wieder andere wurden für „psy­chisch krank“ erklärt, wie Leonid Pljuschtsch oder wegen Homo­se­xua­li­tät vor Gericht gestellt, wie der welt­be­kannte Film­re­gis­seur Sergej Paradschanow.

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Das Studium der Geschich­ten der ukrai­ni­schen lite­ra­ri­schen Renais­sance der 1920er Jahre, und deren „Hin­rich­tung“ in den 1930ern, ist weit mehr als eine lite­ra­tur­ge­schicht­li­che Übung. Es kann wich­tige Hin­weise zum Ver­ständ­nis der gegen­wär­ti­gen Situa­tion geben.

Erstens zeigt es, dass die ukrai­ni­sche natio­nale Bewe­gung ideo­lo­gisch viel­fäl­tig war. Rus­si­sche Pro­pa­ganda ist bemüht, diese Bewe­gung als Varia­tio­nen der „rechts­extre­men“ oder „faschis­ti­schen“ Idee dar­zu­stel­len. Das „Faschismus“-Narrativ wurde schon damals, in den 1930er Jahren ent­wi­ckelt. Noch bevor Schrift­stel­ler wie Serow, Kulisch, Kurbas und Dut­zende andere in nord­rus­si­schen Lagern hin­ge­rich­tet wurden, ver­brei­tete die OGPU „interne“ Berichte, dass sie eine „faschis­ti­sche“ Gruppe unter ukrai­ni­schen Gefan­ge­nen gefun­den habe. Heute wird die Post-Maidan-Ukraine in der rus­si­schen Pro­pa­ganda gern als ein „faschis­ti­scher“ Staat bezeich­net – gerade weil sie viel mehr mit den Schrift­stel­lern gemein­sam hat, die in den 1930ern starben, als mit ihren Mördern.

Die Wahr­heit ist jedoch, dass die 1937 hin­ge­rich­te­ten Schrift­stel­ler alles andere als Faschis­ten waren.

Sie waren links­ge­rich­tete Schrift­stel­ler, über­zeugt, dass die kom­mu­nis­ti­sche Idee wahr sei; oftmals ver­trau­ten sie ihr zu sehr, zumin­dest in den 1920er Jahren. 

Darüber hinaus waren auch die Men­schen auf die sie in den Lagern trafen, die vor ihnen gefan­gen­ge­nom­men worden waren – aktive Figuren der kurz­le­bi­gen ukrai­ni­schen Unab­hän­gig­keit von 1917–1921 – meis­tens links­ge­rich­tet, wenn auch keine dog­ma­ti­schen Kommunisten.

Jahr­zehnte später waren auch ukrai­ni­sche sowje­ti­sche Dis­si­den­ten der 1970er-1980er Jahre wie Wassyl Stus oder Mykola Rudenko alles andere als Faschis­ten. Sie waren Libe­rale – man könnte sagen patrio­ti­sche Libe­rale – und über­zeugt davon, dass die Sowjet­union ein kri­mi­nel­ler Staat sei, weil sie Men­schen­rechte in gewal­ti­gem Umfang ver­letzte. Sie argu­men­tier­ten, die UdSSR müsse sich, nachdem sie die Schluss­akte von Hel­sinki unter­zeich­net hatte, an deren Prin­zi­pien halten.

Also war die ukrai­ni­sche Natio­nal­be­we­gung in den 1910er-1920er Jahren links­ge­rich­tet, was „fort­schritt­lich“ zu sein in ganz Europa bedeu­tete, nämlich sozia­lis­tisch zu sein. In den 1930ern ten­dierte sie eher zum „rechten“ oder sogar „rechts­extre­men“ Spek­trum, als das Denken in ganz Europa auf eine Kon­fron­ta­tion zwi­schen der extre­men Rechten und der extre­men Linken hin­aus­lief. Und in den 1970ern wurde sie liberal – oder men­schen­rechts­ori­en­tiert – als Men­schen­rechts­the­men in ganz Europa began­nen, die kom­mu­nis­ti­sche Idee zu verdrängen.

Die zweite Lehre aus dem Schick­sal ukrai­ni­scher Schrift­stel­ler der 1920er Jahre ist, dass sich das Vor­ge­hen und die Rhe­to­rik sowje­ti­scher und russ­län­di­scher Unter­drü­ckungs­dienste (OGPU, NKWD, KGB oder FSB) seither kaum geän­dert haben. In den 1930ern ver­haf­tete die sowje­ti­sche OGPU den ukrai­ni­schen Thea­ter­re­gis­seur Les Kurbas und bezich­tigte ihn des Ter­ro­ris­mus; in den 2010ern ver­haf­tete der russ­län­di­sche FSB den ukrai­ni­schen Film­re­gis­seur Oleh Senzow und bezich­tigte ihn des Terrorismus.

Und bei der dritten Lehre geht es um Geo­po­li­tik. Chwy­lo­wyj, der sich 1933 in seinem Apart­ment in Charkiw erschoss, träumte von einer „Erwei­te­rung“ euro­päi­scher Werte nach Osten – was er als „psy­cho­lo­gi­sches Europa“ bezeich­nete. Sein Haupt­ar­gu­ment war, dass Europas kul­tu­rel­les Poten­tial, das in seiner vollen Stärke in der Renais­sance des 15. und 16. Jahr­hun­derts zum Aus­druck kam, in Ost­eu­ropa, in einem neuen Land und in einer neuen Kultur wieder funk­tio­nie­ren kann. Er hielt Europas Grenzen nicht für poli­tisch und glaubte, dass euro­päi­sche Werte sich schnel­ler auf andere Teile der Welt aus­wei­ten würden als euro­päi­sche poli­ti­sche Institutionen.

In gewis­ser Hin­sicht hat dieser Gedanke den Euro­mai­dan von 2013–14 in der Ukraine vor­an­ge­trie­ben, sowie den Kampf der Ukrai­ner gegen die rus­si­sche Aggres­sion seither. Er treibt auch die seit August 2020 andau­ern­den Pro­teste in Belarus an. Ihr Haupt­an­trieb ist der Wert der Würde, von zen­tra­ler Bedeu­tung für die Euro­päi­sche Union (siehe Artikel 2 des EU-Ver­trags) – aber nun auch für die ost­eu­ro­päi­schen Gesell­schaf­ten, die an die EU angrenzen.

Die Geschichte der 1920er und 1930er Jahre kann uns lehren, dass „Träume von Europa“ – Träume von der Aus­wei­tung euro­päi­scher Werte nach Ost­eu­ropa – eine Bedro­hung für auto­ri­täre Regimes dar­stel­len, eine Ziel­scheibe für zyni­sche Atta­cken seitens dieser Regimes sein können, dass sie brutal unter­drückt werden können, – aber dann wie­derum, Jahr­zehnte später, wie­der­ge­bo­ren werden können.

Die ukrai­ni­sche „Hin­ge­rich­tete Renais­sance“ der 1920er Jahre, die mit ihrem klaren uni­ver­sa­lis­ti­schen Vektor die ukrai­ni­sche Kultur als Teil der uni­ver­sel­len euro­päi­schen Kultur betrach­tete, ist daher ein wich­ti­ger Anker, um die Ent­wick­lung der Geschichte heute zu ver­ste­hen. Geschichte wie­der­holt sich nicht wirk­lich, bringt aber oft ähn­li­che Kon­stel­la­tio­nen hervor, in denen ähn­li­che Fragen und ähn­li­che Ant­wor­ten for­mu­liert werden.

Werden die „Träume von Europa“ in ost­eu­ro­päi­schen Ländern ihr Ziel errei­chen? Oder werden sie statt­des­sen schei­tern – und die Expan­sion Anti-Europas wird sich gegen das euro­päi­sche Projekt durch­set­zen? Werden sich die Tra­gö­dien der 1930er Jahre heute wiederholen?

Wir wissen die Antwort nicht. Aber die Frage ist von ent­schei­den­der Bedeu­tung. Für die  Gesell­schaf­ten östlich der EU ist es eine Frage von Leben und Tod.

Dieser Text ist im Sam­mel­band „Ukraine ver­ste­hen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ im Novem­ber 2020 erschie­nen, welcher durch das Lysiak-Rud­nytsky Ukrai­nian Studies Pro­gramme des Ukrai­nian Insti­tute geför­dert wurde.

Textende

Portrait von Volodymyr Yermolenko

Volo­dymyr Yer­mo­lenko ist ukrai­ni­scher Phi­lo­soph und Chef­re­dak­teur von UkraineWorld.org.

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