Das, was Dich ausmacht
Gedanken über den Krieg, über das, was war und das, was bleibt. Von Volodymyr Yermolenko
Der Krieg entreißt Dir alles, was Dich ausgemacht hat, was immer Deins war. Er lässt Dich allein mit kleinen Überbleibseln von Dir. Denn Du bist nicht Du ohne die Farbe Deiner Wände. Denn Du bist nicht Du ohne die Risse im Asphalt Deines Hofes. Denn Du bist nicht Du ohne das Quietschen einer Schaukel am nächsten Spielplatz. Denn Du bist nicht Du ohne den Blick einer Nachbarin, die immer lacht, wenn sie Deine Kinder sieht.
Die, die ihre Städte verlassen haben, schreiben ihnen Liebesbriefe. Sie googeln sie in den Nachrichten, taggen sie in sozialen Netzwerken, laden sie im Traum zu einem Wiedersehen ein. Was ist aus dem Eckladen in der Seitenstraße geworden, in den ich jeden Morgen gegangen bin? Wer von den Nachbarn ist geblieben, wer ist gegangen und wer ist vielleicht schon zurückgekehrt? Funktionieren die Ampeln an Kreuzungen? Blühen die Aprikosen in Deinem Garten?
Die Menschen sind so unsicher. So entwurzelt. Sie sind jetzt Reisende. Doch plötzlich stellt sich heraus, dass sie ihre Wurzeln in ihrem Land geschlagen haben. Wie Pflanzen, wie Blumen. Sie klammern sich an die Wurzeln der feuchten Ziegel ihrer Gebäude. Froh kehren sie dorthin zurück, wo das Zurückzukehren früher banal oder sogar traurig war. Verwandte oder Freunde, die hier zurückgeblieben sind, sollen mir ein Foto von meinem Hof schicken. Geh in meine Wohnung und sag ihr, dass ich sie liebe.
Unsere Räume, unsere Körper
Aber einige werden nirgendwo hingehen können. Ihre Räume sind amputiert, und sie werden lange brauchen, sich neue zuzulegen. Einen Raum einzurichten ist wie Kinder großziehen. Erst kümmerst Du Dich um sie, dann kümmern sie sich um Dich. Wenn Dein Raum weg ist, merkst Du plötzlich: Du hast keinen Körper mehr. Denn dieses obdachlose, verlorene Stück Materie mit Armen und Beinen kann nicht Dein Körper genannt werden. Es ist zu klein. Zu schwach. Zu wenig menschlich.
Der Krieg lehrt uns, dass wir viel mehr sind, als wir sind. Dass unsere Körper den Raum unserer Häuser und unserer Städte und unseres Landes mit einschließen. Dass unsere Erinnerung viel tiefer geht als die Erinnerung an unsere Lebensjahre. Dass in uns die Geister unserer Verstorbenen sprechen, eingewebt in die Körper derer, die wir künftig zur Welt bringen werden.
Der Krieg lehrt uns, was die Dinge sagen. Dass sie auch das Recht haben, ihre Bedeutung zu ändern. In dieser Welt ist ein Fenster kein Fenster mehr, sondern vielleicht eine Gefahrenquelle. Und Licht ist nicht mehr Licht, sondern ein Wegweiser für den Feind. Und ein Selfie an einem Kontrollpunkt kann jemanden das Leben kosten. Und ein Teller Reisbrei, den ein Freiwilliger für einen Flüchtling zubereitet, ist ein Zeichen der Liebe.
Leben nach dem Zufallsprinzip
Dinge sind zu Texten geworden, die uns neue Geschichten erzählen. Du bewertest die Realität um Dich herum mit einer einfacheren und strengeren Logik: Was hilft uns zu überleben und was kann uns töten? Der Raum ist nicht mehr homogen: Zehn Kilometer nördlich, und Du befindest Dich an einem Ort, an dem Du getötet werden kannst. Die Zeit ist nicht mehr homogen: ein paar Stunden Verspätung, und Du wirst den heutigen Tag vielleicht nicht überleben. Zeit und Raum sind heute Höhen und Tiefen. Jeder baut seine eigenen Pfade darin und keinerlei Satelliten können dabei helfen. Jeder läuft nach dem Zufallsprinzip.
Der Krieg gibt uns ein Gefühl dafür, wie falsch der Individualismus ist. Wie wir in eine Spitzenstickerei kollektiver Körper eingestickt wurden. Wie wir unsere Leute fühlen, wie wir wissen, dass die Menschen auf den Straßen, in den Städten, unter den Ruinen, mit Waffen, im Hintergrund – dass sie wir sind. Und diejenigen, die vor hundert Jahren durch diese Straßen gingen, sie schufen und kämpften – auch wir sind. Und diejenigen, die nach uns kommen, die diese Gegenden wieder aufbauen oder neue Planeten erkunden werden. Sie sind auch wir.
Diese Menschen, diese Dinge, diese Erinnerungen, diese Hoffnungen – das alles lebt mit Dir. Der Krieg entreißt sie Dir, lässt sie Dich aber noch stärker fühlen. Krieg ist ein Zustand beschleunigten Verlusts. Es verstärkt die Chancen, alles zu verlieren, was wir lieben. Alles, was uns ausmacht. Verwandte, Freunde, uns selbst. Aber es kann auch eine Gelegenheit für Gewinn sein.
Das Gesetz der Geschichte
Russland hat diesen Krieg begonnen, weil es sich vor langer Zeit verloren hat. Seine wahnsinnige Destruktivität hat nur ein Ziel: Auch anderen das Gefühl zu geben, verloren zu sein. Auf, dass Verluste zum Gesetz der Geschichte werden. Wenn es sich selbst verloren hat, welches Recht haben dann andere, auf sich aufzupassen?
Aber Russland ist für uns schon lange kein Gesetz mehr. Und egal wie schmerzhaft unsere Verluste sind, wir passen auf uns auf und entwickeln uns weiter. Wir können uns nicht verlieren, weil wir uns bereits gefunden haben.
Wir haben gefunden, wovon wir leben, was immer uns ausmacht, was immer Teil von uns sein wird. Dein Wald, Dein Stück Land, Dein Dorf, Dein Kontrollpunkt, Deine Lieben, Deine Zukunft. Das werden wir nicht verlieren. Denn uns macht das aus, was wir zu verteidigen bereit sind. Das, was auch immer wir uns bemühen, bei uns zu behalten.
Ins Deutsche übersetzt von Christian Weise.
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