Bodenreform in der Ukraine – Probleme und Perspektiven
Im Lauf der letzten beinahe zwanzig Jahre war die Freigabe des Marktes für landwirtschaftlich genutzte Bodenflächen eines der umstrittensten Themen in der ukrainischen Agrarpolitik. Die Ukraine gehört noch immer zu den wenigen Ländern der Welt (neben Belarus, Nordkorea, China, Kuba und einigen anderen) ohne freien Bodenmarkt. Sowohl Experten als auch die Produzenten von Agrarerzeugnissen streiten über die Vor- und Nachteile einer Bodenreform.
Nachdem 2019 in der Ukraine eine neue Regierung an die Macht gekommen ist, hat die Diskussion über die Freigabe des Marktes eine neue Intensität erreicht. Die kürzliche Erklärung des Premier-Ministers Olexij Hontscharuk über die Öffnung des Bodenmarktes für landwirtschaftlich genutzte Flächen ab 1. Oktober 2020 hat die Agrargemeinschaft stark aufgewühlt und veranlasst, die Debatten sachlicher zu führen. An der Diskussion beteiligen sich nationale und internationale Experten, Vertreter der Agrarverbände, der privaten Agrarunternehmen, der Wissenschaft und Politik.
Historische Voraussetzungen für die Entstehung des Bodenmarktes
Der gesamte Bodenfonds der Ukraine beträgt 60,4 Mio. Hektar. Die landwirtschaftlichen Ländereien haben einen Anteil von 42,7 Mio. Hektar (70,8%), darunter Ackerland mit 32,5 Mio. Hektar (53,9%). Wälder und sonstige Waldflächen umfassen mit 10,6 Mio. Hektar 17,6% der Gesamtfläche. Diese Daten zeigen deutlich die hauptsächlich landwirtschaftliche Nutzung des Bodens in der Ukraine. Dementsprechend hat die Lösung der Bodenfragen eine besonders hohe Priorität im Vergleich zu anderen Bereichen der wirtschaftlichen Entwicklung. Das gilt insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass etwa 20% der arbeitsfähigen Bevölkerung der Ukraine in der Landwirtschaft beschäftigt sind und die Landwirtschaft 2018 19% des BIP (843 Mrd. Hryvnja) sicherte. Es kommt noch hinzu, dass die Exporterlöse für Agrarerzeugnissen 39% (18,6 Mrd. Hryvnja) des Gesamtexports des Landes ausmachten.
Die Frage der Bodenreform stellte sich in der modernen Ukraine erstmals nach der Erlangung der Unabhängigkeit Anfang der 1990er Jahre. Die wichtigsten Ziele waren damals der Übergang vom staatlichen Bodenmonopol zum Privateigentum und die Reformierung der landwirtschaftlichen Betriebe – der früheren Kollektivwirtschaften. Der erste Schritt wurde mit der Verabschiedung des Bodengesetzbuches der Ukraine und des Beschlusses der Werchowna Rada der Ukraine „Über die Bodenreform“ vom 18. Dezember 1990 unternommen. In der Präambel des Beschlusses wurde betont, die Bodenreform sei ein Bestandteil der Wirtschaftsreformen, die in der Ukraine im Zusammenhang mit dem Übergang von der Staats- zur Marktwirtschaft durchgeführt werden. Anschließend folgte ein Gesetzgebungsprozess; staatliche Verfahren wurden eingeführt, die das Recht auf kollektives und privates Eigentum an Grund und Boden sowie das Recht auf dauerhafte Nutzung des Bodens festlegten.
1992 wurde die neue Fassung des Bodengesetzbuches der Ukraine verabschiedet. Darin wurden drei Formen des Eigentums an Grund und Boden festgeschrieben: Privateigentum, Kollektiveigentum und Staatseigentum. Das Gesetzbuch legte zwei Arten der Nutzung von Grund und Boden fest: dauerhafte (ohne Festlegung eines Termins) und vorübergehende (kurzfristige bis zu drei Jahren, langfristige bis zu fünfundzwanzig Jahren). Auf diese Weise wurde mit der Aufteilung der Böden des kollektiven Eigentums und deren Übergabe in Privateigentum begonnen, wobei ausschließlich Bürger der Ukraine Bodenanteile beanspruchen konnten.
Im Rahmen der Parzellierung der Böden entstand der Begriff des Bodenanteils. Im Prozess der Aufteilung der etwa 12.000 großen kollektiven landwirtschaftlichen Unternehmen (der sogenannten Kolchosen) wurden etwa 6,7 Mio. Hektar Bodenanteile in privates Eigentum überführt, wobei die Durchschnittsgröße eines Anteils etwa 4,2 Hektar betrug. Die Größe des Anteils, der zugeteilt wurde, hing von einer Reihe von Faktoren ab, in erster Linie von der Qualität und der Zweckbestimmung der Böden.
Allerdings wurde kein Termin festgelegt, bis wann die Bürger die ihnen zugeteilten Bodenparzellen auf der Grundlage der ihnen ausgestellten Zertifikate als Privateigentum erhalten konnten. Das führte dazu, dass bis zum heutigen Tag mehrere zehntausend Bürger der Ukraine keine solchen Anteile erhalten haben, obwohl sie im Besitz von Zertifikaten sind, die zum Erhalt von Bodenanteile berechtigen.
Eine Reihe von beträchtlichen rechtlichen Kollisionen mit dem Bodengesetzbuch entstand nach der Verabschiedung der Verfassung der Ukraine im Jahr 1996. Zum Beispiel wurde in die Verfassung das Recht der territorialen Gemeinden auf Grund und Boden (sogenanntes Recht auf gemeinschaftliches Eigentum) aufgenommen. Das damalige Bodengesetzbuch sah dieses Recht aber nicht vor. Aus diesem Grund hat die Werchowna Rada der Ukraine 2001 zur Beseitigung der gesetzlichen Kollisionen das neue Bodengesetzbuch der Ukraine verabschiedet, das bis heute in Kraft ist. Das geltende Bodengesetzbuch legt folgende Eigentumsformen fest: staatliche, kommunale und private. Es wird aber die Existenz der kollektiven Eigentumsform nicht ausgeschlossen, was dazu führt, dass ein kleiner Teil der Böden sich quasi in einem rechtsfreien Raum befindet.
Moratorium auf den Verkauf von Grund und Boden, das 2001 eingeführt wurde
Bis heute ist das 2001 eingeführte Moratorium oder das Verbot der Entfremdung und Veränderung der Zweckbestimmung der Bodenparzellen mit landwirtschaftlicher Nutzung in der Ukraine immer noch in Kraft. Die Bürger dürfen Bodenparzellen auf der Grundlage der ihnen ausgestellten Zertifikate besitzen, sie dürfen sie insbesondere zur landwirtschaftlichen Produktion nutzen. Aber die Verfügung über diese Parzellen beschränkt sich lediglich auf das Verpachten oder Vererben. Obwohl die Möglichkeit der Nutzung der Bodenparzellen als Pfand von niemandem offiziell angefochten wird, wird Grund und Boden wegen der Unmöglichkeit seiner Entäußerung und der Bildung anerkannter Marktwerte von den Finanzeinrichtungen in der Praxis nicht als Pfand akzeptiert.
Die Möglichkeit, den Boden als Kreditsicherung zu nutzen, wird in der Diskussion häufig als Argument zu Gunsten der Freigabe des Bodenmarktes angeführt. Allerdings erklären Finanzeinrichtungen bisher noch nicht ihre Bereitschaft, sofort mit solchen Formaten zu arbeiten. Statistische Daten des normativen monetären Wertes landwirtschaftlicher Flächen, die 2018 in der Ukraine ermittelt wurden, zeigen, dass 1 Hektar Ackerland und Altbrache durchschnittlich etwa 30,9 Tausend Hryvnja (etwa 1,12 Tausend Euro) kostet. Der Preis für mehrjährige Pflanzungen beträgt 53,8 Tausend Hryvnja (etwa 1,95 Tausend Euro) und für natürliche Weiden – 5,6 Tausend Hryvnja (etwa 0,2 Tausend Euro). Viele meinen, der Boden sei unterbewertet, aber zugleich werden keine effektiven Instrumente zur Behebung der Situation vorgeschlagen. Eine erneute Ermittlung der normativen monetären Werte kostet viel Geld, aber die Information aus der letzten, 1995 durchgeführten Bewertung, ist schon längst veraltet, deshalb wird ein Anpassungsverfahren verwendet.
Die Besonderheiten bei der Durchführung der Bodenreform in der Ukraine haben die Agrarstrukturen beeinflusst. Mit der Zeit ist im Land eine große Anzahl von kleinen, potentiell landwirtschaftlichen Betrieben entstanden, die keine wirtschaftliche Tätigkeit betreiben. Wahrscheinlich hatten die damaligen Verfasser der Bodenreform das Ziel, die kleinbäuerliche Landwirtschaft in der Ukraine zu fördern, und sie stützten sich dabei auf die Erfahrungen vieler europäischer Länder. Aber es ist nicht gelungen, in der Ukraine in kurzer Zeit eine breite Schicht von erfolgreichen Kleinbauern heranzubilden, wie das in Europa im Verlauf von vielen Jahrzehnten geschah. Stattdessen hat die entstandene Eigentumsstruktur die Verbreitung des technologischen Fortschritts und das Betreiben der Agrarwirtschaft bedeutend erschwert Durch die Einführung des Moratoriums auf die Veräußerung landwirtschaftlicher Flächen, das seinerzeit als eine vorübergehende Vorsichtmaßnahme verstanden wurde, funktionieren die Mechanismen der Konsolidierung der landwirtschaftlichen Nutzflächen und der Prozess der Marktbereinigung bis heute nicht. So werden nach verschiedenen Informationen zurzeit etwa 22 Mio. Hektar, von denen 97% (20,3 Mio. Hektar) landwirtschaftliches Ackerland sind, zu Pachtbedingungen genutzt. Ein bedeutender Teil der Pachtverträge werden für kurze Zeit abgeschlossen, etwa für 8–10 Jahre. Diese Situation macht die nachhaltige langfristige Planung bei der Entwicklung der Unternehmen unmöglich und behindert Investitionen in die Landwirtschaft, insbesondere in den Bereichen, in denen der Rückfluss der Kosten über eine längere Zeit erfolgt: Viehzucht, Bewässerungssysteme sowie Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte.
Freigabe des Bodenmarktes: aktuelle Debatte
Die aktuelle Diskussion über die Öffnung des Marktes für landwirtschaftlich genutzte Bodenflächen in der Ukraine wird ziemlich kontrovers geführt. Die meisten Ukrainer sind damit einverstanden, dass der Markt freigegeben wird, jedoch gibt es keinen Konsens darüber, wann und zu welchen Bedingungen dies geschehen sollte. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion werden viele widersprüchliche Behauptungen verbreitet. Es stellen sich viele Fragen: Wird etwa auch Ausländern die Möglichkeit zum Erwerb von Grund und Boden eröffnet oder soll der Markt nur für Bürger der Ukraine begrenzt werden? Sollen auch juristische Personen oder nur natürliche Personen zum Markt zugelassen werden? Es geht auch um die Festlegung des Umfangs des genutzten Bodens, der an einen Eigentümer vergeben werden kann, und um viele andere Fragen. Viele Agrarier sind besonders durch die Gefahr beunruhigt, dass die Ländereien von Ausländern aufgekauft werden. Dabei steht fest, dass weder die jetzige Regulierung der Bodenverhältnisse noch der von der Regierung vorgeschlagene Gesetzesentwurf №2178 Ausländer als Eigentümer landwirtschaftlich genutzter Bodenflächen vorsieht. Selbst wenn Ausländer Land erhalten, zum Beispiel durch Vererbung, sind sie verpflichtet, es im Laufe eines Jahres zu veräußern. Außerdem sieht der vorgeschlagene Gesetzentwurf vor, Bürgern und juristischen Personen bestimmter Länder den Erwerb von Boden zu verbieten. Selbst der Präsident des Landes, Volodymyr Selenskyj, hat seine Position bezüglich des Bodenmarktes und der ausländischen Bürger ziemlich deutlich artikuliert: „Das erste und das wichtigste ist – der Boden gehört den Ukrainern. Das von uns und von der Regierung vorgeschlagene Modell sieht vor – Grund und Boden gehören den Ukrainern, den Boden kaufen oder verkaufen dürfen nur ukrainische Bürger und ukrainische Unternehmen“.
Im Gesetzesentwurf der Regierung wird auch der Umfang des genutzten Bodens, der in die Hand eines Eigentümers geraten darf, reguliert. Zurzeit wird viel darüber spekuliert, dass große Bodenflächen von einigen Agrarholdings aufgekauft werden könnten. Agrarholdings sind eine spezifische Form von Unternehmen, deren ausschließlicher Betriebszweck darin besteht, Kapitalbeteiligungen an anderen Unternehmen zu halten. Wobei das Mutterunternehmen, wenn es im Besitz eines Pakets von Kontrollaktien anderer Unternehmen ist, diese verwaltet und deren Tätigkeit kontrolliert. Dadurch werden sie in einer geschlossenen organisatorischen und rechtlichen Struktur mit entsprechenden Aufgaben und Zielen vereinigt. Agrarholdings entstehen in der Regel durch die Pacht von großen Bodenflächen. Nach Informationen des Ukrainischen Klubs der Agrarwirtschaft gab es 2017 93 landwirtschaftliche Betriebe, die mehr als 10.000 Hektar bearbeiteten. Zurzeit verwaltet die größte ukrainische Agrarholding Böden im Umfang von etwa 600 Tausend Hektar.
In dem von der Regierung vorgeschlagenen Gesetzesentwurf über den Bodenmarkt werden Beschränkungen eingeführt. Demnach darf die maximale Fläche der landwirtschaftlich genutzten Böden im Eigentum einer Person 15% der gesamten Menge der landwirtschaftlichen Böden in einem bestimmten Gebiet und 0,5% der gesamten Bodenfläche der Ukraine nicht übersteigen. Zurzeit verfügen in der Ukraine lediglich 5 Unternehmen über nutzbaren Boden, der höher als 0,5% der gesamten Bodenmenge liegt. Die meisten dieser Böden sind verpachtet. Ob überhaupt die Frage nach der Beschränkung des Eigentums für solche Unternehmen entsteht, bleibt zweifelhaft.
Zur Thematik des Bodenmarktes gehört auch die Diskussion über den möglichen Wegfall von Arbeitsplätzen in ländlichen Gebieten und die Verstärkung der Migration aus den Dorfregionen. Es muss betont werden, dass eine solche Tendenz bereits seit langer Zeit in der Ukraine beobachtet wird. Verhindern kann man sie ausschließlich durch eine ausgewogene Politik der Entwicklung ländlicher Gebiete, durch eine Garantie zur Stärkung und zum Ausbau der lokalen Infrastruktur sowie durch die Erhöhung des Lebensstandards auf dem Lande. Die Frage der landwirtschaftlich nutzbaren Böden steht hier nicht an erster Stelle. Allmählich werden die landwirtschaftlichen Betriebe überall in der ganzen Welt vergrößert. Das hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen, unter denen wohl der technische Fortschritt ausschlaggebend ist. Deshalb sollte in diesem Kontext die Öffnung des Bodenmarktes eher als eine Möglichkeit betrachtet werden, die wirtschaftlichen Strukturen in den ländlichen Regionen zu ordnen und ihnen einen zusätzlichen Impuls zur weiteren Entwicklung zu geben. Es geht nicht um die Zerstörung der Dörfer, denn wie die Erfahrungen der meisten entwickelten Länder zeigen, sind die Landwirtschaft und die Entwicklung der ländlichen Regionen keine identischen Begriffe.
In der Ukraine wird also derzeit eine lebhafte Diskussion über die Freigabe des Bodenmarktes geführt. Im Unterschied zu vielen früheren Diskussionen sind dieses Mal viele Experten und Agrarier überzeugt davon, dass Änderungen eintreten werden – ungeachtet der Versuche bestimmter politischer Kräfte, über die Frage der Öffnung des Marktes ein Referendum abzuhalten. Denn für die Durchführung eines Referendums fehlt letztlich nicht nur der politische Wille, sondern dafür wären auch große Ausgaben aus dem Staatshaushalt notwendig. Welche Entscheidung auch immer getroffen werden wird, die Frage des Marktes für landwirtschaftlich genutzte Bodenflächen muss ausgewogen geprüft werden. Dabei müssen die Bedeutung der Agrarwirtschaft für das Land sowie eine ziemlich komplizierte wirtschaftliche Situation berücksichtigt werden.
Die Produktion von Agrarprodukten spielt für die Ukraine eine gewichtige Rolle, sichert einen wichtigen Teil des BIP und den Zufluss ausländischer Devisen durch den Export. Dementsprechend müssen alle Veränderungen, die im Agrarsektor stattfinden, gut durchdacht und durchgerechnet werden. Die mögliche Öffnung des Marktes ist lediglich ein erster Schritt auf dem Wege zur Ausarbeitung und Verabschiedung aller notwendigen Regelwerke. Um einen positiven Effekt für die Entwicklung der Wirtschaft zu erreichen, braucht man eine wirksame Gesetzgebung und Rechtsschutz für die Eigentümer, Händler und Banken. Nur dann sind eine nachhaltige Entwicklung und die Modernisierung des landwirtschaftlichen Sektors zu erwarten.
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