Novoye Vremya. Drei Szenarien: Wohin steuert die Ukraine unter Präsident Selenskyi?
Wolodymyr Selenskyj wurde am Montag ins Amt eingeführt. Novoye Vremya fragt: Sollen wir in Panik verfallen oder auf eine Verbesserung der Lage hoffen? Mit Hilfe von führenden Experten hat Novoye Vremya drei Szenarien für die Präsidentschaft Wladimir Selenskis entworfen:
» Das erste und wahrscheinlichste Szenario: „Lame Duck“ «
Überblick. Wolodymyr Selenskyj ist außerstande, seine eigene Vorstellung von der Entwicklung des Landes durchzusetzen. Im Grunde genommen wird er, den Gesetzen der Trägheit entsprechend, bestehenden Pfadabhängigkeiten folgen und dabei immer heftiger ins Schlingern geraten.
Die Schwächen Selenskis – wie die Abwesenheit eines kompetenten Teams oder eine klare Vision zum Kurs des Landes – kommen in diesem Szenario voll zum Tragen.
Dadurch bleiben die groben Leitlinien nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Wladimir Fesenko unverständlich.
Die Schwäche des Teams von Selenskyj wird sich auf allen Ebenen bemerkbar machen – etwa dadurch, dass der sechste Präsident keine selbständigen Personalentscheidungen treffen wird. Der Politikanalyst Witaly Kulik vermutet, dass selbst wichtige Ämter willkürlich besetzt werden. Die Finanzströme teilen die Geschäftsleute, die dem neuen Staatschef nahestehen, unter sich auf – allen voran Ihor Kolomojskyj und seine Partner.
Außenpolitisch wird der neue Präsident keinen klaren Kurs verfolgen. Der NATO-Beitritt des Landes wird keinen prominenten Platz auf seiner Agenda einnehmen, um die Unterstützung im Osten des Landes nicht zu gefährden. Die Kontakte zur Allianz abzubrechen wird er jedoch nicht wagen.
Das Verhältnis zu Russland wird sich wahrscheinlich nicht verändern. „Der neue Präsident will einen eher neutralen strategischen Kurs etablieren. Eine kühne Kriegsrhetorik wie unter Poroschenko darf man also nicht erwarten. Ein Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem Premierminister Dmitri Medwedew wird Selenskyj unter allen Umständen vermeiden“, ist Kulik überzeugt.
Innenpolitisch ist noch in der laufenden Legislaturperiode (bis Herbst) mit der Gründung einer Fraktion oder Abgeordnetengruppe der Diener des Volkes (SluNa) zu rechnen. Dieser werden verschiedene „Überläufern“ beitreten. Ihre Anzahl wird für die Durchsetzung wichtiger Entscheidungen zwar nicht ausreichen – wohl aber für die Artikulation der präsidialen Standpunkte in den Plenarsitzungen.
Die Bankowa [Präsidialadministration] wird dem Parlament zunächst ein Gesetzespaket zur Aufhebung der Immunität von Abgeordneten, Richtern, Präsidenten usw. vorlegen. Dieses wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent angenommen, da die Abgeordneten bereits an die nächsten Wahlen denken werden und bestimmte Initiativen unterstützen könnten, die bei der Wählerschaft gut ankommen.
Das „Se“-Team wird versuchen, die derzeitige Rada aufzulösen und vorgezogene Neuwahlen herbeizuführen. Dies böte dem neuen Präsidenten die Möglichkeit, auf der Welle seines derzeitigen Erfolges eine solide „loyale“ Fraktion zu gewinnen. Das ist jedoch unwahrscheinlich.
Selenskyj wird daher auf die Parlamentswahlen im Herbst setzen und versuchen, (trägheitsbedingt) ein ordentliches Ergebnis für sein Projekt „SluNa“ einzuholen.
Bis Oktober werden seine Beliebtheitswerte jedoch sinken, da die Wähler sofortige Initiativen und Erfolge fordern, die Selenskyj nicht vorweisen können wird.
Daher wird SluNa zwar mit einer großen Fraktion in der Rada vertreten sein, doch für die Bildung einer stabilen Mehrheit wird dies nicht ausreichen. Die Zusammensetzung des Parlaments wird stark fragmentiert sein, und die parlamentarischen „Grünen“ [Farbe von Selenskis Bewegung] werden für jede einzelne Initiative situative Mehrheiten suchen müssen.
In der Wirtschaft bleibt alles beim Alten, sofern das Weiße Haus weiterhin seinen Einfluss auf das politische Kiew geltend machen kann – lediglich die Kontrollierbarkeit bestimmter Prozesse wird abnehmen. Davon ist Sergey Fursa überzeugt, Spezialist im Wertpapierhandel bei der Investmentgesellschaft Dragon Capital.
Solange das IWF-Programm im Land umgesetzt werde, seien keine starken Erschütterungen der Wirtschaft zu erwarten. Doch auch so sei eine Abschwächung des ohnehin bescheidenen Wachstums denkbar. „Dennoch habe ich meine Hryvnia verkauft – man muss sich auf eine Verschlechterung der Lage vorbereiten“, versichert Fursa.
Der Wirtschaftswissenschaftler Daniel Monin glaubt, dass sich das nominelle (in Dollar gemessene) Wachstum der ukrainischen Wirtschaft unter dem Szenario „Lame Duck“ fortsetzen werde.
Betrug das BIP im Jahr 2018 130 Milliarden US-Dollar, wird es in diesem Jahr 143 Milliarden US-Dollar erreichen. Die Inflationsrate wird Monin zufolge 8 bis 9 Prozent betragen.
„Der Kurs der Landeswährung wird von mehreren Faktoren beeinflusst, aber bis auf weiteres liegt die Ausgangsprognose für das Jahresende bei 30 UAH für einen US-Dollar“, so der Ökonom.
Die Investitionstätigkeit wird zumindest im laufenden Jahr nicht merklich zurückgehen. Davon zeigt sich Andrei Kolodyuk, geschäftsführender Partner bei AVentures Capital, überzeugt.
Nach Angaben der „Ukrainian Venture Capital and Private Equity Association“ (Ukrainischer Verband für privates Risiko- und Beteiligungskapital) betrug das Investitionsvolumen im vergangenen Jahr 400 Millionen US-Dollar und ist damit im Vergleich zu 2017 um 50 Prozent gestiegen. Alleine in den vergangenen sechs Jahren wurde mehr als eine Milliarde US-Dollar in ukrainische IT-Unternehmen und Start-ups investiert.
„Der Risikokapitalmarkt wird weiter wachsen, da er unabhängig von staatlicher Einflussnahme ist. Der Investmentmarkt wird sich noch weiter beleben, wenn der Präsident den Anlegern zu verstehen gibt – und durch Garantien bekräftigt – dass ihr Kapital sicher ist. Ähnliches gilt für die Privatisierung: hier versagt der Markt nicht deswegen, weil die Unternehmen so schlecht sind, sondern weil bestimmte politische Akteure den Prozess behindern“, sagt Kolodyuk.
Zusammenfassung
Beim „Lame Duck“-Szenario wird sich das Regierungssystem allmählich von einem de jure semi-präsidentiellen System zu einer de facto Republik verändern – samt einer weiteren Einschränkung der Befugnisse des Staatsoberhauptes.
„Das Problem ist, dass Selenskyj extrem hohe Erwartungen geschürt hat. In etwa einem Jahr wird die große Enttäuschung kommen, denn das Gelegenheitsfenster ist sehr klein, und aus dem Stand heraus etwas zu tun ist unsagbar schwierig“, ist Fesenko überzeugt.
» Das pessimistische Szenario: „Chaos“ «
Überblick. Der neugewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj wird sich an verschiedene Reformen klammern – dabei jedoch nichts erreichen. „Er wird hier und da an einigen Stellschrauben drehen. Das wird in einem ziellosen Aktivismus enden, der für ein reformbedürftiges Land auf einen Schrecken ohne Ende hinausläuft“, vermutet Politikwissenschaftler Kulik.
Die fehlenden Erfolge werden dazu führen, dass die Partei SluNa bei den Wahlen zur Rada nur das Mindestmaß an Stimmen einholt, und die realen Machthebel werden ins Parlament übergehen, das von Selenskis Gegnern kontrolliert wird.
Innenpolitik: Präsident Selenski wird sich aufgrund seiner Unerfahrenheit über Monate hinweg in bürokratischen Fallstricken verheddern, vermutet der Politikwissenschaftler Peter Oleshchuk. Die Folge wird ein „bürokratischer Sumpf“ sein.
In Selenskyis Umfeld wird ein Ringen um Einfluss ausbrechen, und die Regierung wird die Schwäche des Staatsoberhauptes ausnutzen, und in Vorbereitung der Parlamentswahlen die Macht an sich ziehen.
„Die Machtlosigkeit des Präsidenten wird Enttäuschung hervorrufen, und seine Ergebnisse bei den Parlamentswahlen werden bescheiden ausfallen“, versichert Oleshchuk. In einer solchen Situation kann sich Selenskyj die Bildung einer fügsamen Regierung aus dem Kopf schlagen.
In der Rada wird sich eine gegen den Präsidenten gerichtete Mehrheit bilden. Der gesamte politische Betrieb wird auf die Auseinandersetzung zwischen Präsident und Rada reduziert. Darüber hinaus wird sich Selenskyj aufgrund der verabschiedeten Gesetze zur Amtsenthebung an der Grenze zu einer vorzeitigen Begrenzung seiner Vollmachten wiederfinden – und diese Grenze sehr wahrscheinlich schnell überschreiten.
Außenpolitik: Die Experten sind überzeugt, dass eine Aggression Russlands im Donbas zwar sehr unwahrscheinlich, nicht jedoch gänzlich ausgeschlossen ist – und dass es nach einem Bruch des derzeitigen Waffenstillstandes erneut zu einem Angriff käme. Nur außenpolitischer Druck könne den Kreml stoppen.
Die innenpolitische Krise würde fortdauern, was zu Chaos innerhalb der Führungsriege des Landes führen würde.
Realistischer sei laut Oleshchuk die Möglichkeit einer „Donezk-Falle“. Moskau würde Kiew mit der Drohung erpressen, den Konflikt im Osten eskalieren zu lassen, und einen „Frieden“ zu eigenen Konditionen anbieten.
Schließlich wird Wladimir Putin seinen Namensvetter nach Gesprächen davon überzeugen, Friedenstruppen (mit russischer Beteiligung) in die LDNR zu entsenden und den „Republiken“ Autonomiestatus zu gewähren. Dies wird eine Welle der Entrüstung in der ukrainischen Gesellschaft hervorrufen und zu einer Destabilisierung der Lage im Land führen. Und die Sache endet erneut mit einer Amtsenthebung.
Wirtschaft: Falls die sogenannte „Kolomojsky-Gruppe“ tatsächlich eine Rücknahme ihres Besitzes – darunter der Privatbank – in die Wege leitet, wird dies das positive Image des Landes in den Augen internationaler Partner ruinieren. Die finanzielle Unterstützung der Wirtschaft durch internationale Geldgeber würde beendet. „Die EU und die USA werden keinen Zahlungsaufschub mehr gewähren“, sagt Kolodyuk.
Damit wird auch die Zusammenarbeit mit dem IWF eingestellt. Und das bedeutet einen Zahlungsausfall. In diesem Jahr hat die Regierung 400 Milliarden UAH für den Schuldendienst bereitgestellt, doch die höchsten Zahlungen für Auslandsschulden sollen 2020 erfolgen. Ohne Unterstützung des IWF wird die Wirtschaft des Landes mit dieser Last nicht fertig.
„Wenn es zu einem Zahlungsausfall kommt, könnten wir vielleicht eine Krise wie im Jahr 2008 bekommen: Zuerst fällt der Kurs, dann kommt Panik auf. Dann kommt es zu Inflation und allen weiteren Prozessen“, ist Fursa sicher.
Dabei sei dies – wie der Analyst betont – immer noch ein positives Szenario, das auf der Annahme basiert, dass die Weltwirtschaft nicht ins Stocken gerät. In einem solchen Fall stünde die Ukraine vor einer kompletten Katastrophe.
Zusammenfassung
Selenskyis räumt vorzeitig den Posten des Staatsoberhaupts. Die Wirtschaft steht kurz vor dem Zahlungsausfall. Im Land wiederholt sich die Situation der ersten Wochen nach dem Maidan insoweit, als die Regierungsverantwortung in den Händen einer Mehrheit in der Werchowna Rada liegt und eine hinlängliche Stabilität erst durch die Wahl eines neuen Präsidenten erlangt wird.
» Das positive Szenario: „Diener des Volkes 4“ «
Überblick: Experten schließen nicht aus, dass Wladimir Selenskyj sich als effektiver und tatkräftiger Reformer erweisen könnte.
„Mir ist er durch seinen gewaltigen Arbeitseifer bekannt. Er ist eine integre Person und steht zu seinem Wort. Es ist nicht die Aussicht, Milliardär zu werden, die ihn in die Politik treibt“, erklärt Alexander Sokolovsky, Inhaber der Unternehmensgruppe Textile-Contact.
Außenpolitik. Selenski gelingt es, sich mit dem Westen auf eine neue und breiter angelegte Unterstützung bei der Konfrontation mit Russland zu einigen.
Innenpolitik. In einem positiven Szenario schafft es der neugewählte Präsident, das Parlament in den ersten Wochen nach seiner Inauguration aufzulösen.
Selenskyj initiiert ein Programm mit „nationalen Gesetzesvorlagen“ und sichert sich bei vorgezogenen Wahlen noch vor dem Sommer eine komfortable Stimmenmehrheit in der Rada.
Anschließend bildet der neue Präsident eine loyale Regierung unter Beteiligung ausländischer Fachleute und Experten, die das Vertrauen der USA genießen. Diese neuen Entscheidungsträger können sich auf die Legitimität des Präsidenten berufen und führen eine Reihe wichtiger Reformen durch, darunter die Bekämpfung der Schattenwirtschaft und Anreize zur Verbesserung des Investitionsklimas.
Kolomoisky und Co. erhalten keine Sonderbehandlung von der Regierung und führen weiterhin nach Kräften Gerichtsprozesse rund um die Causa „Privatbank“.
Wirtschaft. Nach einer Reihe erster Erfolge des Präsidenten könnten nach Ansicht des Ökonomen Monin Investitionen in das Land fließen. Außerdem steigen die Rohstoffpreise, sodass bereits im dritten Quartal 2019 mit einer Erholung des Wirtschaftswachstums gerechnet werden könne.
„Wenn das Parlament ab 2020 eine Kapitalausfuhrsteuer einführt, kann man mit einem beschleunigten Wirtschaftswachstum rechnen. Erfolge des Selenski-Teams in der Korruptionsbekämpfung führen zu einem Anstieg ausländischer Direktinvestitionen, was ein Garant für den Höhenflug sämtlicher Wirtschaftsindikatoren sein wird“, so die Annahme des Experten.
Fursa glaubt, dass sich in Selenskis Programm ein lobenswerter Vorschlag findet: die Gründung einer Finanzermittlungsagentur, die den Kompetenzbereich der Wirtschaftskriminalität zugewiesen bekommt, der bislang bei den Strafverfolgungsbehörden liegt. Dies allein würde schon ein positives Signal an die Wirtschaft senden. „Das wäre eine wahre Errungenschaft, die man mit Fug und Recht als Durchbruch bezeichnen kann“, findet der Experte.
Zusammenfassung
Selbst ein positives Szenario bedeutet nicht, dass Selenski eine hohe gesellschaftliche Unterstützung genießen würde.
Laut jüngster KIIS-Umfrage lauten die wichtigsten Forderungen der Befragten an den neuen Präsidenten wie folgt: 39,1% der Ukrainer wollen geringere Nebenkosten, 35,5% die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten, Richtern und des Präsidenten, und 32,4% fordern die Einleitung bzw. Beschleunigung von Ermittlungen in den gravierendsten Korruptionsfällen. Dabei kann Selenski in seiner Funktion als Präsident die zweite – und teilweise die dritte – Forderung erfüllen. Die erste Forderung liegt außerhalb seiner Kompetenzen.
Dergestalt wird der Schauspieler, der es zum Staatsoberhaupt gebracht hat, hart arbeiten müssen, um die gesamten fünf Jahre seiner Amtszeit zu überstehen.
„Selenski wird sich auf die Kommunikation mit der Bevölkerung konzentrieren. Das wird seine Masche sein – ständige Live-Übertragungen in sozialen Netzwerken, offene Dialoge“ , ist Politikwissenschaftler Fesenko überzeugt. „Für ihn wird es wichtig sein, eine Reihe von Kunstlandungen vorzeigen und einen Anstieg des Lebensstandards sicherzustellen , um über Wasser zu bleiben.“
Der Text erschien zuerst bei Novoe Vremja. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johann Zajaczkowski.
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