Wo steht die Ukraine?
Seit 1991 ist die Ukraine ein souveräner Staat. Zum 27. Unabhängigkeitstag hat der Historiker Jan Claas Behrends einige Überlegungen aus historischer Perspektive gemacht.
Als die Ukraine im August 1991 ihre Souveränität erklärte, war die Frage offen, wohin ihr Weg führen würde. Nach sieben Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft war der Großteil des Landes – mit Ausnahme des bis 1939 polnischen Westens – ebenso sowjetisch geprägt wie Russland, der Kaukasus oder Zentralasien. Zivilgesellschaftliche Strukturen oder eine staatsbürgerliche Tradition waren kaum vorhanden. Dies war wenig verwunderlich, denn die ukrainische Gesellschaft hat zwischen 1905 und 1950 Revolutionen, zwei Weltkriege, Bürgerkrieg, Kollektivierung und Hungersnot („Holodomor“), Phasen gewaltsamer Sowjetisierung, Deportationen sowie den Holocaust durchgemacht. Flucht, Vertreibung, politische Gewalt, Repression, Verschleppung, Zwangsarbeit und Massenmord gehören zur Erfahrung jeder ukrainischen Familie. Die Ukraine der Gegenwart ist ein Land der Überlebenden. Kaum ein anderer europäischer Staat hat Krieg und politische Verbrechen in einem Ausmaß erlebt wie die Ukraine. Natürlich sind während des 20. Jahrhunderts auch Ukrainer zu Tätern geworden – doch sollten wir nicht vergessen, dass andere Nationen ihre Selbstbestimmung stark eingeschränkt haben.
Ukrainische Traumata
In den Jahren nach Stalin vollzog sich eine Normalisierung des Lebens zwischen Galizien und dem Donbas. Doch selbst im vergleichsweise friedlicheren sowjetischen Regime unter Chruschtschow und Breschnew – beide hatten auch ukrainische Wurzeln – wurden politische Dissidenten sowie nationale und religiöse Selbstbestimmung gewaltsam unterdrückt. Erst während der Perestroika begannen sich auch in der Ukraine die Zügel zu lockern. Aus historischer Perspektive stellt sich daher die Frage, welche Voraussetzungen die Ukraine eigentliche in die post-kommunistische Ära einbrachte. Oberflächlich betrachtet unterschied sich Kyjiw kaum von anderen Großstädten, der Donbas war ein typisch sowjetisches Industrierevier und die Krim eine von militärischer Infrastruktur geprägte Landschaft. Heraus stach allenfalls der Westen des Landes, wo die kommunistische Herrschaft erst im September 1939 begann. Wie unterschied sich die sowjetische Ukraine eigentlich vom Rest des Imperiums?
Welche Voraussetzungen hatte die Ukraine für die post-kommunistische Ära?
Diese Frage stellt sich, weil wir die post-kommunistische Geschichte der Ukraine verstehen wollen. Die strukturellen Voraussetzungen für die Transformation unterschieden sich in vielen Bereichen wenig von Polen oder den westlichen Gebieten Russlands. Dennoch ging die Ukraine nach 1991 einen Weg, der sich von anderen post-sowjetischen Staaten unterschied. Sicher: der schwache Staat, die Netzwerke aus dem Spätsozialismus, die neuen Eliten („Oligarchen“), die Korruption und die Präsidialverfassungen prägen den gesamten post-sowjetischen Raum – die Ukraine bildet hier keine Ausnahme. Dennoch zeigen sich fast dreißig Jahre nach dem Ende der UdSSR deutliche Unterschiede zwischen den vormaligen Republiken. Belarus wählte bereits in den 1990er Jahren einen autoritären Weg, während Russland und die Ukraine mit hybriden Formen politischer Herrschaft experimentierten, die in der Sozialwissenschaft bald als virtual democracy bezeichnet wurden. Insbesondere die Steuerung der Medien und der politischen Debatten sowie die Etablierung künstlicher politischer Parteien wurden zu Herrschaftsmechanismen, die mit zunehmenden Erfolg erprobt wurden. So ersetzte ein gesteuerter Prozess oft die eigentliche politische Auseinandersetzung. Kyjiw, Moskau und Minsk waren nach 1991 Laboratorien politischer Herrschaft – keines der neuen Regime entsprach einer liberalen Demokratie. Die Vorstellung von Liberalisierung und Verwestlichung, die zu Beginn der 1990er Jahre herrschte, erwies sich als Illusion. Es entstanden vielmehr hybride Herrschaftsformen, die mit der Zeit durchaus auch nach Westen ausstrahlten.
Hybride Regierungsform nach 1990
Trotz dieser Gemeinsamkeiten innerhalb der post-sowjetischen Welt gibt es einige spezifische Merkmale der ukrainischen Gesellschaft: insbesondere die Rolle demokratischer Wahlen im politischen System und die Entstehung einer Zivilgesellschaft, die einen Faktor bei Protesten – wie 2004 und 2013/14 – aber auch bei der Mobilisierung für den Krieg seit 2014 darstellt. In politischer Hinsicht sind Wahlen der herausragende Faktor, der die Ukraine von ihren Nachbarn unterscheidet: während sich russische Eliten zu keinem Zeitpunkt nach 1991 auf die Kontingenz einer Abstimmung über die Macht einlassen wollten, gab es in der Ukraine zwar den Willen zur Manipulation, aber auch die Möglichkeit eines friedlichen Machtwechsels durch Wahlen. Damit existierte die Möglichkeit, einen Herrscher abzuwählen – ein gewaltiger Unterschied zum Gros der anderen post-sowjetischen Staaten. Trotz des Einflusses der Oligarchen (oder wegen ihrer regionalen Zersplitterung) existiert ein prekärer politischer Pluralismus, der es verhinderte, dass eine einzelne Person sich das Land unterwarf.
Wo steht die Ukraine an ihrem heutigen Unabhängigkeitstag? Ihre größte Bedrohung ist Moskau, dessen politische Eliten die Souveränität Kyjiws nach 1991 nie akzeptiert haben. Seit 2014 führt Putins Russland, primär aus innenpolitischen Gründen, Krieg gegen seinen Nachbarn. Das Russland der Gegenwart kann keine demokratische, westliche orientierte Ukraine akzeptieren. Der Kreml hat sich für den imperialen Weg entschieden, während Kyjiw seine Souveränität verteidigt – das ist der Grundkonflikt. Für Putin war bereits das Assoziierungsabkommen mit Europäischen Union der casus belli. Moskau hat verstanden, dass es eine Wiederauflage imperialer Herrschaft in Osteuropa nur geben kann, wenn an Kyjiw ein Exempel statuiert wird. Die Ukraine soll unterworfen werden.
Russische Aggression befeuert Nation Building
Am Tag der Unabhängigkeit stellt sich die Frage, wie souverän das Land eigentlich ist und sein will. Seit 1991 ist das nation building weit vorangeschritten und die russische Aggression hat diesen Prozess noch beschleunigt. Dennoch bleibt die Lage prekär, denn entscheidende Fragen bleiben offen: Definiert sich die Ukraine als Nation von Staatsbürgern oder als ethnische Gemeinschaft? Wie gehen Regierung und Gesellschaft mit den Ambivalenzen der ukrainischen Vergangenheit um? Was sind die Perspektiven einer europäischen Ukraine? Kann das politische System sich von den post-sowjetischen Strukturen emanzipieren? Fast dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion sind diese Fragen offen. Deutsche und Europäer sind mehr denn je aufgerufen, die Ukraine auf ihrem Weg nach Westen zu begleiten, zu unterstützen und zu schützen. Die Perspektive eines EU-Beitritts ist sicherlich von großer Bedeutung. Doch letztlich entscheiden die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger ihr Schicksal selbst.
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