Fünf Jahre Maidan – Weckruf an die Gesellschaft

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Fünf Jahre nach dem Beginn der Maidan-Pro­teste stellen sich viele Fragen: Wo steht das Land heute und wie sähe es heute ohne den Maidan aus? Ein Kom­men­tar von Eduard Klein.

Als der Inves­ti­ga­ti­v­jour­na­list Mustafa Nayyem am 21. Novem­ber 2013 per Face­book zu einer Pro­test­kund­ge­bung im Zentrum Kiews aufruft, weil der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Wiktor Janu­ko­wytsch auf Druck Russ­lands das EU-Asso­zia­ti­ons­ab­kom­men in Vilnius doch nicht unter­zeich­nete, ahnt niemand, welche Lawine er damit los­tre­ten sollte. In den fol­gen­den Wochen über­rollt die „Revo­lu­tion der Würde“ das Janukowytsch-Regime.

Doch so plötz­lich die Reform­welle nach zwanzig Jahren des Still­stands in Gang kommt, und so viel sie in Gang bringt, so jäh wird sie auch wieder gebremst – von außen durch die Aggres­sion des Kremls, von innen durch Kräfte, die am alten System fest­hal­ten. Refor­men kommen nur langsam voran, auf zwei Schritte vor folgt oft einer zurück.

Fast genau fünf Jahre nach dem Beginn des Maidans starb am 4. Novem­ber 2018 die enga­gierte Anti­kor­rup­ti­ons­ak­ti­vis­tin Kateryna Hand­sjuk an den Folgen eines Säu­re­an­schlags. Es ist nur eine von Dut­zen­den Atta­cken auf zivil­ge­sell­schaft­li­che Akti­vis­ten in wenigen Monaten, und so mancher fühlt sich an längst über­wun­den geglaubte Zeiten erinnert.

Es stellt sich die Frage: Wo steht das Land heute? Viele Erwar­tun­gen, die der Maidan geweckt hat, wurden ent­täuscht. Vier von Fünf Ukrai­nern sind aktu­el­len Umfra­gen zufolge unzu­frie­den mit der der­zei­ti­gen Ent­wick­lung des Landes. Und doch ist die Ukraine heute ein anderes Land, wo sich, oft im Kleinen und manch­mal auch im Großen, Ver­än­de­run­gen voll­zie­hen. In den ver­gan­ge­nen fünf Jahren ist vieles erreicht worden, was vor dem Maidan unvor­stell­bar schien.

Wie sähe es heute ohne den Maidan aus? Damals stand die Ukraine am Schei­de­weg: Die von Janu­ko­wytsch im Januar 2014 ver­ab­schie­de­ten Geset­zes­ver­schär­fun­gen schränk­ten demo­kra­ti­sche Grund­rechte wie die Ver­samm­lungs- und Mei­nungs­frei­heit massiv ein. Die Ukraine drohte einen ähn­li­chen Pfad ein­zu­schla­gen wie Russ­land, wo nach der Pro­test­welle 2011/​12 der Kreml aus Angst vor dem Macht­ver­lust einen auto­ri­tä­ren Poli­zei­staat errichtete.

Ein kom­plet­ter „Neu­start“ der ukrai­ni­schen Politik ist dennoch nicht geglückt: Hinter den meisten Par­teien stehen noch immer Olig­ar­chen; viele Par­la­men­ta­rier nutzen die poli­ti­sche Arena für infor­melle Geschäfte, statt die Inter­es­sen der Wähler zu ver­tre­ten. Und Prä­si­dent Poro­schenko ist mit­nich­ten der „weiße Ritter“ und ent­schlos­sene Kor­rup­ti­ons­kämp­fer, als der er sich – vor allem im Ausland – gerne ausgibt. Es ist viel­mehr die leben­dige und gut ver­netzte Zivil­ge­sell­schaft, die unbe­queme Themen auf die Agenda hebt, Gesetze erar­bei­tet und als zen­tra­les Kor­rek­tiv fun­giert. Dies gelingt ihr vor­wie­gend dort, wo die Inter­es­sen der alten Eliten nicht berührt werden. Spür­bare Fort­schritte gibt es daher in Gesund­heit, Bildung und Ver­wal­tung, während es bei der Bekämp­fung von Kor­rup­tion in Justiz und Politik wei­ter­hin hakt.

Und doch gibt es auch in bisher weit­ge­hend olig­ar­chisch-kon­trol­lier­ten Berei­chen wie dem Banken- oder Ener­gie­sek­tor Fort­schritte. Ermög­licht wurden diese Erfolge durch das „Sandwich“-Modell: Die Zivil­ge­sell­schaft übt mit Reform­vor­schlä­gen und Pro­tes­ten Druck von innen aus, während die inter­na­tio­nale Gemein­schaft ihre (finan­zi­el­len) Druck­mit­tel nutzt, um die Regie­rung von außen zur Umset­zung der Refor­men zu drängen.

Lang­fris­tig muss das Land jedoch auch ohne inter­na­tio­nale (Finanz-)Hilfe aus­kom­men, und dafür müssen die Zivil­ge­sell­schaft und die demo­kra­ti­schen Kräfte an poli­ti­schem Ein­fluss gewin­nen. Gewiss: Dass der ein­gangs erwähnte Mustafa Nayyem und drei Dutzend andere Akti­vis­ten in der Wer­chowna Rada sitzen und die ver­krus­tete poli­ti­sche Kultur von innen auf­zu­bre­chen ver­su­chen, ist schon ein Erfolg (vor allem, wenn man die Rada mit den anderen Par­la­men­ten im post­so­wje­ti­schen Raum ver­gleicht). Es braucht aller­dings weitaus mehr solcher Köpfe, um das poli­ti­sche System nach­hal­tig zu ver­än­dern. Das fordern auch die Wähler, die sich nach neuen Gesich­tern in der Politik sehnen. Diese Köpfe gibt es, doch bisher haben sie es nicht geschafft, sich in grö­ße­rer Zahl poli­tisch zu eta­blie­ren. Oft zögern sie vor dem Ein­tritt in die als „schmut­zig“ emp­fun­dene Politik, wie etwa der beliebte Rock­star Swja­to­s­law Wakart­schuk, der in vielen Umfra­gen zur Prä­si­dent­schafts­wahl auf­taucht, aber sich noch immer nicht zu einer Kan­di­da­tur durch­ge­run­gen hat.

Es besteht die Gefahr, dass sich das „Window of Oppor­tu­nity“ wie bereits nach der Orangen Revo­lu­tion wieder schließt – und das Land im Still­stand ver­harrt. Es reicht nicht, zu hoffen, dass die Wahlen 2019 schon irgend­wie gut gehen werden. Die Akteure der Zivil­ge­sell­schaft müssen jetzt handeln und den Schritt aufs poli­ti­sche Parkett wagen. Sie müssen sich zusam­men­schlie­ßen und pro­gram­ma­tisch stärker im großen Ganzen denken, statt sich wie bisher nur auf Ein­zel­pro­jekte zu kon­zen­trie­ren. Die Ankün­di­gung von Samo­po­mit­sch und Dem­Al­li­anz, einen gemein­sa­men Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten zu stellen und bei den Par­la­ments­wah­len zusam­men­zu­ar­bei­ten, ist ein Schritt in die rich­tige Richtung.

Die Ukraine steht vor enormen Her­aus­for­de­run­gen. Der Maidan mar­kiert eine his­to­ri­sche Zäsur und leitete einen umfas­sen­den gesell­schaft­li­chen Moder­ni­sie­rungs­pro­zess ein. Nun gilt es, den schwie­ri­gen Weg der Refor­men ent­schlos­sen fort­zu­füh­ren, damit das Ver­spre­chen des Maidans nach einer „bes­se­ren“ Ukraine ein­ge­löst werden kann. Und dafür ist die ukrai­ni­sche Gesell­schaft stärker gefragt als zuvor.

Der Text erschien zu erst in den Ukraine-Ana­ly­sen 209.

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