Warum wir Ukrai­ner keine ter­ri­to­ria­len Kom­pro­misse ein­ge­hen werden

Hel­sinki 2022, Foto: Imago Images

Solange die Krim besetzt ist, wird es keinen Frieden geben. Echter Frieden bedeu­tet die Wie­der­her­stel­lung der ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät der Ukraine inner­halb der Grenzen von 1991. Ein Gast­bei­trag von Tamila Tasheva

Deutsch­land liefert Waffen an die Ukraine. Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz hat sich dafür ein­ge­setzt, dass die Ukraine Bei­tritts­kan­di­dat der EU wird. Am 23. August nahm Herr Scholz an dem Online-Gipfel der Krim-Platt­form teil. Wir erwar­ten auch eine hohe deut­sche Ver­tre­tung beim Par­la­men­ta­ri­schen Gip­fel­tref­fen der Krim-Platt­form, der Ende Oktober in Zagreb statt­fin­den wird.

Auch die Unter­stüt­zung der Ukraine in der deut­schen Gesell­schaft ist bei­spiel­los. Diese Hilfe wäre vor zwei Jahren noch unvor­stell­bar gewesen, als deut­sche Poli­ti­ker sagten, dass die Ukraine die „Har­mo­nie“ zwi­schen Deutsch­land und Russ­land störe. Erin­nert sei auch an die Aussage eines deut­schen Vize­ad­mi­rals, der kurz vor dem rus­si­schen Über­fall auf die Ukraine sagte:

„Die Halb­in­sel Krim ist weg, sie wird nicht zurückkommen.“ 

Mit der sich nähern­den Ener­gie­krise in Deutsch­land und dem bevor­ste­hen­den Winter kann es mit der Unter­stüt­zung aller­dings schnell vorbei sein. Und das ist eine schlechte Nach­richt für uns Ukrai­ner, ein­schließ­lich für die Ukrai­ner auf der Krim. Die For­de­rung an die Ukraine, Kom­pro­misse ein­zu­ge­hen, könnte in Zukunft immer lauter werden. Für uns heißt das: Wenn man von Kom­pro­mis­sen spricht, meint man in erster Linie Zuge­ständ­nisse bezüg­lich der Krim, auch wenn es nicht so klingt.

Deutsch­land hat alle Reso­lu­tio­nen der UN-Gene­ral­ver­samm­lung, die die Besat­zung der Krim betref­fen, unter­stützt. Aber hat sich die Ver­ur­tei­lung des Aggres­sors auch in Taten niedergeschlagen?

Neulich hörte man einen Ver­gleich des ukrai­ni­schen Krim-Kon­tex­tes mit der deut­schen Geschichte: Deutsch­land habe nach dem Zweiten Welt­krieg selbst Gebiete zuguns­ten Polens auf­ge­ge­ben und dies 1990 voll aner­kannt. Aus diesem Grund solle auch die Ukraine über ter­ri­to­riale Zuge­ständ­nisse nach­den­ken. Ich weiß nicht, wie populär solche Ver­glei­che in Deutsch­land sind, aber ich möchte einige Bei­spiele nennen, die zeigen, warum sie falsch sind.

Die Krim ist für Wla­di­mir Putin und die rus­si­sche impe­riale Tra­di­tion gera­dezu heilig. Seit den Neun­zi­ger­jah­ren ver­sucht Russ­land, die Krim zu über­neh­men. Diese impe­ria­len Ambi­tio­nen fanden sowohl Unter­stüt­zung bei libe­ra­len Poli­ti­kern wie Ana­to­lij Sobt­schak als auch bei ultra­kon­ser­va­ti­ven wie Wla­di­mir Schirinowski.

Es gibt mehr als einen Grund

Zuge­ständ­nisse an Russ­land werden nicht zum Frieden führen, sondern zum genauen Gegen­teil. Ich werde hier nicht das Argu­ment wie­der­ho­len, dass Zuge­ständ­nisse an den Aggres­sor seinen Appetit stei­gern, denn dieses Argu­ment ist zu offen­sicht­lich. Es gibt weitere Gründe, wieso die Ukraine keine Kom­pro­misse bezüg­lich ihres Ter­ri­to­ri­ums ein­ge­hen kann und wieso der Westen, ein­schließ­lich Deutsch­lands, dies auch nicht zulas­sen sollte.

Während Sewas­to­pol, die größte Stadt der Krim, als „Stadt der rus­si­schen Matro­sen“ mili­ta­ri­siert wird, ver­su­chen die rus­si­schen Besat­zer das indi­gene Volk der Krim­ta­ta­ren und seine Geschichte aus­zu­lö­schen. Krim­ta­ta­ren werden aus poli­ti­schen Gründen ver­folgt, inhaf­tiert und de facto nach Russ­land ver­schleppt oder ohne Gründe zu langen Haft­stra­fen ver­ur­teilt. Auch in dem von Russ­land besetz­ten Gebiet Cherson werden Krim­ta­ta­ren nun verfolgt.

Außer­dem stehen die Krim­ta­ta­ren dem „kai­ser­li­chen Ruhm“ Russ­lands im Weg. Denn wie die Ukrai­ner sind sie Zeugen und Opfer der großen Ver­bre­chen dieses Impe­ri­ums. In der Vor­stel­lung Moskaus müssen sie deshalb aus­ge­löscht werden. Auch die ukrai­ni­sche Iden­ti­tät, ein­schließ­lich der Sprache, Schulen und Kirchen werden auf der Krim sys­te­ma­tisch zer­stört. Es ist wichtig zu erken­nen, dass es bei der Krim nicht nur um ein Ter­ri­to­rium geht, sondern um Men­schen – genauer gesagt: um Bürger der Ukraine.

Die rus­si­sche Inva­sion begann nicht erst am 24. Februar dieses Jahres, sondern bereits 2014 mit der Beset­zung der Krim. Nach dem 24. Februar ver­wan­delte sich die Halb­in­sel in einen Brü­cken­kopf für die rus­si­sche Offen­sive auf dem ukrai­ni­schen Fest­land. Früher hörte man immer wieder Aus­sa­gen, dass Russ­land auf der Krim die Infra­struk­tur aufbaue. Jedoch werden zivile Objekte auf der Halb­in­sel in mili­tä­ri­sche umge­wan­delt, über die Krim­brü­cke gelan­gen Panzer und Waffen auf die Krim, die heute ukrai­ni­sche Bürger töten.

Einige leisten Widerstand

Die Krim wird auch als Dreh­scheibe zur ille­ga­len Ver­schlep­pung von Ukrai­nern, Geiseln und Kriegs­ge­fan­ge­nen genutzt sowie als Grau­zone für den Trans­port von gestoh­le­nem ukrai­ni­schen Getreide in den Mit­tel­meer­raum. Das ist eine dra­ma­ti­sche und abscheu­li­che Rolle, die sich die Krim nicht aus­ge­sucht hat, die aber mit der Beset­zung einhergeht.

Obwohl die Men­schen bereits acht Jahre lang unter rus­si­scher Besat­zung leben, leisten einige ver­stärkt Wider­stand. Wir spre­chen über Dut­zende lokaler Anti­kriegs­ak­tio­nen. Die Ukraine kann es sich nicht leisten, diese Men­schen zurück­zu­las­sen und als Leib­ei­gene an Russ­land auszuliefern.

Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man der Ukraine rät, Kom­pro­misse ein­zu­ge­hen und die Krim aufzugeben.

Die Politik der Ukraine gegen­über der Krim und den dort leben­den indi­ge­nen Völkern war sicher nicht immer feh­ler­frei. Aber in den letzten Jahren hat die Ukraine wich­tige Schritte zum Schutz dieser Men­schen unter­nom­men. So wurde 2021 ein Gesetz ver­ab­schie­det, das Krim­ta­ta­ren, Karäer und Krymt­scha­ken unter beson­de­ren Schutz stellt und die kul­tu­relle Ent­wick­lung indi­ge­ner Völker fördern soll.

Andere nor­ma­tive Akte schüt­zen die krim­ta­ta­ri­sche Sprache oder sollen poli­ti­sche Gefan­gene und ihre Fami­lien unter­stütz­ten. Bedeu­tend ist auch die Krim-Platt­form. Der dies­jäh­rige Gipfel brachte Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter aus 60 Ländern der Welt und inter­na­tio­na­len Insti­tu­tio­nen zusam­men. Die Krim­ta­ta­ren selbst unter­stüt­zen die Ukraine his­to­risch, und die genann­ten Schritte stärken ihr Ver­trauen in dieses Land. Aus diesen Gründen kämpfen sie in den Reihen der ukrai­ni­schen Streit­kräfte oder arbei­ten in ukrai­ni­schen Behörden.

Aus diesem Ver­ständ­nis erwächst die ukrai­ni­sche Frie­dens­vi­sion, der sich unserer Meinung nach die Welt­ge­mein­schaft anschlie­ßen sollte. Es geht in erster Linie um die Wie­der­her­stel­lung der ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät der Ukraine in Grenzen vom Jahr 1991. Den wirk­li­chen Sieg aber werden wir erst erreicht haben, wenn Russ­land sich in einen nicht-aggres­si­ven Staat umwandelt.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Die Welt am 16.09.2022.

Textende

Die Über­set­zung wurde geför­dert durch

Portrait von Tamila Tasheva

Tamila Tasheva ist Bevoll­mäch­tigte des Prä­si­den­ten der Ukraine in der Auto­no­men Repu­blik Krim und Menschenrechtsaktivistin.

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