Warum wir Ukrainer keine territorialen Kompromisse eingehen werden
Solange die Krim besetzt ist, wird es keinen Frieden geben. Echter Frieden bedeutet die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb der Grenzen von 1991. Ein Gastbeitrag von Tamila Tasheva
Deutschland liefert Waffen an die Ukraine. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich dafür eingesetzt, dass die Ukraine Beitrittskandidat der EU wird. Am 23. August nahm Herr Scholz an dem Online-Gipfel der Krim-Plattform teil. Wir erwarten auch eine hohe deutsche Vertretung beim Parlamentarischen Gipfeltreffen der Krim-Plattform, der Ende Oktober in Zagreb stattfinden wird.
Auch die Unterstützung der Ukraine in der deutschen Gesellschaft ist beispiellos. Diese Hilfe wäre vor zwei Jahren noch unvorstellbar gewesen, als deutsche Politiker sagten, dass die Ukraine die „Harmonie“ zwischen Deutschland und Russland störe. Erinnert sei auch an die Aussage eines deutschen Vizeadmirals, der kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine sagte:
„Die Halbinsel Krim ist weg, sie wird nicht zurückkommen.“
Mit der sich nähernden Energiekrise in Deutschland und dem bevorstehenden Winter kann es mit der Unterstützung allerdings schnell vorbei sein. Und das ist eine schlechte Nachricht für uns Ukrainer, einschließlich für die Ukrainer auf der Krim. Die Forderung an die Ukraine, Kompromisse einzugehen, könnte in Zukunft immer lauter werden. Für uns heißt das: Wenn man von Kompromissen spricht, meint man in erster Linie Zugeständnisse bezüglich der Krim, auch wenn es nicht so klingt.
Deutschland hat alle Resolutionen der UN-Generalversammlung, die die Besatzung der Krim betreffen, unterstützt. Aber hat sich die Verurteilung des Aggressors auch in Taten niedergeschlagen?
Neulich hörte man einen Vergleich des ukrainischen Krim-Kontextes mit der deutschen Geschichte: Deutschland habe nach dem Zweiten Weltkrieg selbst Gebiete zugunsten Polens aufgegeben und dies 1990 voll anerkannt. Aus diesem Grund solle auch die Ukraine über territoriale Zugeständnisse nachdenken. Ich weiß nicht, wie populär solche Vergleiche in Deutschland sind, aber ich möchte einige Beispiele nennen, die zeigen, warum sie falsch sind.
Die Krim ist für Wladimir Putin und die russische imperiale Tradition geradezu heilig. Seit den Neunzigerjahren versucht Russland, die Krim zu übernehmen. Diese imperialen Ambitionen fanden sowohl Unterstützung bei liberalen Politikern wie Anatolij Sobtschak als auch bei ultrakonservativen wie Wladimir Schirinowski.
Es gibt mehr als einen Grund
Zugeständnisse an Russland werden nicht zum Frieden führen, sondern zum genauen Gegenteil. Ich werde hier nicht das Argument wiederholen, dass Zugeständnisse an den Aggressor seinen Appetit steigern, denn dieses Argument ist zu offensichtlich. Es gibt weitere Gründe, wieso die Ukraine keine Kompromisse bezüglich ihres Territoriums eingehen kann und wieso der Westen, einschließlich Deutschlands, dies auch nicht zulassen sollte.
Während Sewastopol, die größte Stadt der Krim, als „Stadt der russischen Matrosen“ militarisiert wird, versuchen die russischen Besatzer das indigene Volk der Krimtataren und seine Geschichte auszulöschen. Krimtataren werden aus politischen Gründen verfolgt, inhaftiert und de facto nach Russland verschleppt oder ohne Gründe zu langen Haftstrafen verurteilt. Auch in dem von Russland besetzten Gebiet Cherson werden Krimtataren nun verfolgt.
Außerdem stehen die Krimtataren dem „kaiserlichen Ruhm“ Russlands im Weg. Denn wie die Ukrainer sind sie Zeugen und Opfer der großen Verbrechen dieses Imperiums. In der Vorstellung Moskaus müssen sie deshalb ausgelöscht werden. Auch die ukrainische Identität, einschließlich der Sprache, Schulen und Kirchen werden auf der Krim systematisch zerstört. Es ist wichtig zu erkennen, dass es bei der Krim nicht nur um ein Territorium geht, sondern um Menschen – genauer gesagt: um Bürger der Ukraine.
Die russische Invasion begann nicht erst am 24. Februar dieses Jahres, sondern bereits 2014 mit der Besetzung der Krim. Nach dem 24. Februar verwandelte sich die Halbinsel in einen Brückenkopf für die russische Offensive auf dem ukrainischen Festland. Früher hörte man immer wieder Aussagen, dass Russland auf der Krim die Infrastruktur aufbaue. Jedoch werden zivile Objekte auf der Halbinsel in militärische umgewandelt, über die Krimbrücke gelangen Panzer und Waffen auf die Krim, die heute ukrainische Bürger töten.
Einige leisten Widerstand
Die Krim wird auch als Drehscheibe zur illegalen Verschleppung von Ukrainern, Geiseln und Kriegsgefangenen genutzt sowie als Grauzone für den Transport von gestohlenem ukrainischen Getreide in den Mittelmeerraum. Das ist eine dramatische und abscheuliche Rolle, die sich die Krim nicht ausgesucht hat, die aber mit der Besetzung einhergeht.
Obwohl die Menschen bereits acht Jahre lang unter russischer Besatzung leben, leisten einige verstärkt Widerstand. Wir sprechen über Dutzende lokaler Antikriegsaktionen. Die Ukraine kann es sich nicht leisten, diese Menschen zurückzulassen und als Leibeigene an Russland auszuliefern.
Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man der Ukraine rät, Kompromisse einzugehen und die Krim aufzugeben.
Die Politik der Ukraine gegenüber der Krim und den dort lebenden indigenen Völkern war sicher nicht immer fehlerfrei. Aber in den letzten Jahren hat die Ukraine wichtige Schritte zum Schutz dieser Menschen unternommen. So wurde 2021 ein Gesetz verabschiedet, das Krimtataren, Karäer und Krymtschaken unter besonderen Schutz stellt und die kulturelle Entwicklung indigener Völker fördern soll.
Andere normative Akte schützen die krimtatarische Sprache oder sollen politische Gefangene und ihre Familien unterstützten. Bedeutend ist auch die Krim-Plattform. Der diesjährige Gipfel brachte Vertreterinnen und Vertreter aus 60 Ländern der Welt und internationalen Institutionen zusammen. Die Krimtataren selbst unterstützen die Ukraine historisch, und die genannten Schritte stärken ihr Vertrauen in dieses Land. Aus diesen Gründen kämpfen sie in den Reihen der ukrainischen Streitkräfte oder arbeiten in ukrainischen Behörden.
Aus diesem Verständnis erwächst die ukrainische Friedensvision, der sich unserer Meinung nach die Weltgemeinschaft anschließen sollte. Es geht in erster Linie um die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine in Grenzen vom Jahr 1991. Den wirklichen Sieg aber werden wir erst erreicht haben, wenn Russland sich in einen nicht-aggressiven Staat umwandelt.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Die Welt am 16.09.2022.
Die Übersetzung wurde gefördert durch
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.