Im Osten nichts Neues?

Auf den neuen ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Wolo­dymyr Selen­skyj warten große Her­aus­for­de­run­gen. Zunächst muss sich der gelernte Schau­spie­ler mit der Regie­rungs­bü­ro­kra­tie und dem mäch­ti­gen Par­la­ment aus­ein­an­der­set­zen – letz­te­res hat er gleich nach seiner Ver­ei­di­gung am 20. Mai auf­ge­löst. Aber die härtere Nuss wird sein, den Krieg im Donbass zu beenden und die von Russ­land kon­trol­lier­ten Gebiete dort und die annek­tierte Krim zurück­zu­ho­len. Von Niko­laus von Twickel

Selen­skyj sagte in seiner Rede zur Amts­ein­füh­rung, dass es die Aufgabe der Ukraine ist, den Krieg zu beenden, auch wenn das Land ihn nicht begon­nen hat. Er sei bereit, dafür auch als Prä­si­dent zurück­zu­tre­ten, aber niemals werde er ukrai­ni­sches Ter­ri­to­rium auf­ge­ben. Der erste Schritt für einen Dialog müsse die Frei­las­sung aller ukrai­ni­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen sein. Und dann kam sein Schlüs­sel­satz: „Wir haben nicht nur die Ter­ri­to­rien ver­lo­ren, wir haben das Wich­tigste ver­lo­ren: die Menschen.“

Portrait von Nikolaus von ­Twickel

Niko­laus von ­Twickel ist Redak­teur der Web­seite „Russ­land ver­ste­hen“ im Zentrum Libe­rale Moderne. 2015/​16 war er Medi­en­ver­bin­dungs­of­fi­zier für die OSZE-Beob­ach­tungs­mis­sion in Donezk.

Die Ver­tre­ter der „Volks­re­pu­bli­ken“ reagier­ten fast gar nicht auf die Rede. Einzig die Men­schen­rechts­be­auf­trag­ten in Donezk und Luhansk erklär­ten, dass man für einen Gefan­ge­nen­aus­tausch bereit sei.

Wie viele der Men­schen in den rus­sisch kon­trol­lier­ten „Volks­re­pu­bli­ken“ „ver­lo­ren“ sind, weil sie nichts mehr mit der Ukraine zu tun haben wollen, ist schwer ein­zu­schät­zen. Unzwei­fel­haft ist es fünf Jahre nach Beginn des Krieges über­fäl­lig, dass sich die ukrai­ni­sche Politik rea­lis­tisch mit der Situa­tion dort aus­ein­an­der­setzt. Denn während entlang der Kon­takt­li­nie genann­ten Front fast täglich ohne mili­tä­ri­schen Sinn geschos­sen und gestor­ben wird, haben sich östlich davon weit­ge­hend unbe­merkt von der Welt­öf­fent­lich­keit die soge­nann­ten Volks­re­pu­bli­ken Donezk und Luhansk von Jahr zu Jahr fester etabliert.

Die beiden selt­sa­men Gebilde ver­dan­ken ihre Exis­tenz einzig und allein Moskau – bis heute werden sie mit rus­si­schen Waffen und rus­sisch geführ­ten Truppen ver­tei­digt und mit rus­si­schem Geld am Leben gehal­ten. Moskau erkennt die beiden Qua­si­staa­ten nicht an, bestimmt aber inof­fi­zi­ell ihre Außen- und Innen­po­li­tik. Die ver­gan­ge­nen Jahre haben gezeigt, dass der Kreml seine Hege­mo­nie­stel­lung not­falls mit Gewalt durch­setzt. Zahl­rei­che ermor­dete Feld­kom­man­deure, zuletzt der Donez­ker Sepa­ra­tis­ten­füh­rer Alex­an­der Sach­art­schenko, sind der blutige Beweis dafür.

Nach dem Bom­ben­at­ten­tat auf Sach­art­schenko im August 2018 hat Moskau die Kon­trolle über die größere und wirt­schaft­lich bedeu­ten­dere „Volks­re­pu­blik“ massiv ver­schärft. Mili­tä­ri­sche Ver­bände, die bislang dem aus Donezk stam­men­den Repu­blik­chef direkt unter­stellt waren, wurden zwangs­weise der „Volks­mi­liz“ ange­glie­dert. Deren Ober­kom­mando tritt bis auf ein, zwei ein­hei­mi­sche Stell­ver­tre­ter nie öffent­lich auf, obwohl es ein offenes Geheim­nis ist, dass es aus rus­si­schen Offi­zie­ren besteht.

Die Kon­trolle über die Wirt­schaft wurde fak­tisch an Vnesch­torg­ser­vis über­tra­gen, eine geheim­nis­volle Indus­trie-Holding mit Sitz in Süd­os­se­tien, deren rus­si­scher Vor­stands­chef Wal­d­imir Pasch­kow früher stell­ver­tre­ten­der Gou­ver­neur im sibi­ri­schen Irkutsk war. Seit April ist Pasch­kow stell­ver­tre­ten­der Regie­rungs­chef unter Alex­an­der Anant­schenko, der im Herbst vom Berater der Vnesch­torg­ser­vis-Führung zum neuen, mit mehr Macht aus­ge­stat­te­ten „Pre­mier­mi­nis­ter“ aufstieg.

An der Spitze der „Repu­blik“ steht offi­zi­ell Denis Puschi­lin, der als ehe­ma­li­ger Ver­käu­fer von Finanz­py­ra­mi­den in Donezk einen zwei­fel­haf­ten Ruf genießt. Dennoch wurde Puschi­lin gegen den offenen Wider­stand der alten Sepa­ra­tis­ten­riege im Novem­ber nach einer offen­bar nach allen Regeln der Kunst gefälsch­ten Abstim­mung (angeb­lich wurden 1,6 Mil­lio­nen Stimmen abge­ge­ben, weit mehr als in den 408 Wahl­lo­ka­len jemals gezählt werden konnten) zum neuen Führer erklärt. Beob­ach­ter ver­mu­ten jedoch, dass er im Gegen­satz zu seinem ermor­de­ten Vor­gän­ger wenig Ein­fluss auf Verteidigungs‑, Sicher­heits- und Wirt­schafts­po­li­tik nimmt und sich treu an Vor­ga­ben aus Moskau hält.

In Luhansk wird die über­wie­gend auf Kohle und Stahl aus­ge­rich­tete Wirt­schaft eben­falls von Vnesch­torg­ser­vis kon­trol­liert – auch wenn in der dor­ti­gen „Regie­rung“ offi­zi­ell noch keine Manager der Holding sitzen. Der Führer der „Volks­re­pu­blik Luhansk“ Leonid Pas­set­sch­nik ist ein Geheim­dienst­mann und gilt als kreml­treu – auch wenn er im Novem­ber 2017 mit mili­tä­ri­scher Hilfe Sach­art­schen­kos an die Macht geputscht wurde.

Ange­sichts des zutiefst unde­mo­kra­ti­schen und undurch­sich­ti­gen Cha­rak­ters der „Regie­run­gen“ von Donezk und Luhansk kann ihr Rück­halt in der Bevöl­ke­rung nicht sehr groß sein. Zudem wurden Hoff­nun­gen auf eine Anne­xion durch Russ­land zuletzt immer wieder ent­täuscht und die rus­sisch-natio­na­lis­tisch ein­ge­stellte Oppo­si­tion mit Pawel Gubarew und Alex­an­der Cho­d­a­kow­ski rigoros an der Teil­nahme am poli­ti­schen Leben gehindert.

Die wirt­schaft­li­che Lage bleibt desolat. Zwar kann Vnesch­torg­ser­vis über Süd­os­se­tien rus­si­sches Geld legal nach Donezk und Luhansk über­wei­sen. Aber solange Kohle und Stahl aus den „Volks­re­pu­bli­ken“ keine Abneh­mer finden (auch rus­si­sche Firmen lassen lieber die Finger davon), lässt sich kaum etwas ver­die­nen. Nach wie vor liegen die ört­li­chen Durch­schnitts­löhne mit knapp 10.000 Rubel (knapp 140 Euro) monat­lich deut­lich unter denen in der Ukraine und Russ­land. Seit Monaten werden Klagen laut, dass die „Volks­re­pu­bli­ken“ keine Ärzte und anderes qua­li­fi­zier­tes Per­so­nal finden. Für Russ­land, das derzeit geschätzt eine Mil­li­arde Euro allein für den zivilen Haus­halt zuschießt, drohen die „Volks­re­pu­bli­ken“ zu einem finan­zi­el­len Alb­traum zu werden, wenn sich nicht bald etwas ändert.

Dennoch gibt es keine Belege dafür, dass von den ver­blei­ben­den knapp drei Mil­lio­nen Ein­woh­nern noch viele proukrai­nisch ein­ge­stellt sind. Das liegt zum einen daran, dass an freie Mei­nungs­äu­ße­rung nicht zu denken ist. Während Puschi­lin und Pas­set­sch­nik offi­zi­ell behaup­ten, dass Inte­gra­tion mit Russ­land das Ziel bleibt, der Weg dorthin aber „holp­ri­ger“ sei als der der Krim, droht wei­ter­hin jedem, der sich offen kri­tisch äußert, Fest­nahme bezie­hungs­weise Gefan­gen­schaft in den berüch­tig­ten Ver­lie­ßen der „Staats­si­cher­heits­mi­nis­te­rien“.

Ein Übriges tut die Pro­pa­ganda, vor allem der rus­si­schen TV-Sender, die in der Region schon immer mehr Zuschauer hatten als die ukrai­ni­schen und bei denen füh­rende Ver­tre­ter der „Volks­re­pu­bli­ken“ regel­mä­ßig auf­tre­ten. In den Kreml-Medien gibt es nur eine Lesart des Kon­flikts – dass die ukrai­ni­sche Armee ständig angreift und die Zivil­be­völ­ke­rung abschlach­tet. Der Krieg wird so zum Pro­pa­gan­da­in­stru­ment – das Nar­ra­tiv der aggres­si­ven und vom Westen gelenk­ten Ukraine soll die Bevöl­ke­rung bei der Stange halten, auch wenn die poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Rea­li­tät immer schlim­mer wird.

Die jüngste Ver­ord­nung von Prä­si­dent Wla­di­mir Putin, rus­si­sche Pässe im Schnell­ver­fah­ren an die Bewoh­ner der „Repu­bli­ken“ aus­zu­ge­ben, kann man als Maß­nahme sehen, die dortige Bevöl­ke­rung ange­sichts des im Donbass popu­lä­ren Prä­si­den­ten Selen­skyj an Russ­land zu binden. Dennoch ist frag­lich, wie viele Men­schen diesem Ruf folgen werden. Einer Ankün­di­gung aus Luhansk zufolge können nicht mehr als 3,000 Anträge pro Woche – und wohl nicht mehr als 150,000 pro Jahr bear­bei­tet werden. Das heißt, dass es etwa sechs Jahre dauern würde, bis all der knapp eine Million Ein­woh­ner rus­si­sche Pässe besitzen.

Das liegt die Ver­mu­tung nahe, dass es hier mehr darum geht, den­je­ni­gen eine Zukunft in Russ­land zu ermög­li­chen, die keine Zukunft in der Ukraine hätten, weil sie im Macht­ap­pa­rat der „Volks­re­pu­bli­ken“ sitzen. Unbe­stä­tig­ten Berich­ten zufolge werden Pass­an­träge mit Prio­ri­tät von Sol­da­ten, Sicher­heits­kräf­ten und Regie­rungs­an­ge­hö­ri­gen ange­nom­men. Zumal der Anteil derer, die bisher einen Pass der „Volks­re­pu­bli­ken“ ange­nom­men haben, auf höchs­tens 15 Prozent der Bevöl­ke­rung geschätzt wird.

Man darf gespannt sein, was Selen­skyj tun wird, um die „Ver­lo­re­nen“ im Donbass zurück­zu­ge­win­nen. Leicht wird diese Aufgabe nicht. Zulange galt in Kyjiw die Devise, dass der Kreml alles und jedes in Donezk und Luhansk steuert und die Men­schen wieder glück­li­che Ukrai­ner würden, wenn der rus­si­sche Ein­fluss ver­schwin­det: „Wenn Moskaus Waffen abge­zo­gen und die Fern­seh­ge­räte aus­ge­steckt sind, wird die ukrai­ni­sche Iden­ti­tät zurück­keh­ren“, sagte etwa ein Berater des Kyjiwer Infor­ma­ti­ons­mi­nis­ters im Gespräch mit dem Autor im Jahr 2016.

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