Im Osten nichts Neues?
Auf den neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj warten große Herausforderungen. Zunächst muss sich der gelernte Schauspieler mit der Regierungsbürokratie und dem mächtigen Parlament auseinandersetzen – letzteres hat er gleich nach seiner Vereidigung am 20. Mai aufgelöst. Aber die härtere Nuss wird sein, den Krieg im Donbass zu beenden und die von Russland kontrollierten Gebiete dort und die annektierte Krim zurückzuholen. Von Nikolaus von Twickel
Selenskyj sagte in seiner Rede zur Amtseinführung, dass es die Aufgabe der Ukraine ist, den Krieg zu beenden, auch wenn das Land ihn nicht begonnen hat. Er sei bereit, dafür auch als Präsident zurückzutreten, aber niemals werde er ukrainisches Territorium aufgeben. Der erste Schritt für einen Dialog müsse die Freilassung aller ukrainischen Kriegsgefangenen sein. Und dann kam sein Schlüsselsatz: „Wir haben nicht nur die Territorien verloren, wir haben das Wichtigste verloren: die Menschen.“
Die Vertreter der „Volksrepubliken“ reagierten fast gar nicht auf die Rede. Einzig die Menschenrechtsbeauftragten in Donezk und Luhansk erklärten, dass man für einen Gefangenenaustausch bereit sei.
Wie viele der Menschen in den russisch kontrollierten „Volksrepubliken“ „verloren“ sind, weil sie nichts mehr mit der Ukraine zu tun haben wollen, ist schwer einzuschätzen. Unzweifelhaft ist es fünf Jahre nach Beginn des Krieges überfällig, dass sich die ukrainische Politik realistisch mit der Situation dort auseinandersetzt. Denn während entlang der Kontaktlinie genannten Front fast täglich ohne militärischen Sinn geschossen und gestorben wird, haben sich östlich davon weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk von Jahr zu Jahr fester etabliert.
Die beiden seltsamen Gebilde verdanken ihre Existenz einzig und allein Moskau – bis heute werden sie mit russischen Waffen und russisch geführten Truppen verteidigt und mit russischem Geld am Leben gehalten. Moskau erkennt die beiden Quasistaaten nicht an, bestimmt aber inoffiziell ihre Außen- und Innenpolitik. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass der Kreml seine Hegemoniestellung notfalls mit Gewalt durchsetzt. Zahlreiche ermordete Feldkommandeure, zuletzt der Donezker Separatistenführer Alexander Sachartschenko, sind der blutige Beweis dafür.
Nach dem Bombenattentat auf Sachartschenko im August 2018 hat Moskau die Kontrolle über die größere und wirtschaftlich bedeutendere „Volksrepublik“ massiv verschärft. Militärische Verbände, die bislang dem aus Donezk stammenden Republikchef direkt unterstellt waren, wurden zwangsweise der „Volksmiliz“ angegliedert. Deren Oberkommando tritt bis auf ein, zwei einheimische Stellvertreter nie öffentlich auf, obwohl es ein offenes Geheimnis ist, dass es aus russischen Offizieren besteht.
Die Kontrolle über die Wirtschaft wurde faktisch an Vneschtorgservis übertragen, eine geheimnisvolle Industrie-Holding mit Sitz in Südossetien, deren russischer Vorstandschef Waldimir Paschkow früher stellvertretender Gouverneur im sibirischen Irkutsk war. Seit April ist Paschkow stellvertretender Regierungschef unter Alexander Anantschenko, der im Herbst vom Berater der Vneschtorgservis-Führung zum neuen, mit mehr Macht ausgestatteten „Premierminister“ aufstieg.
An der Spitze der „Republik“ steht offiziell Denis Puschilin, der als ehemaliger Verkäufer von Finanzpyramiden in Donezk einen zweifelhaften Ruf genießt. Dennoch wurde Puschilin gegen den offenen Widerstand der alten Separatistenriege im November nach einer offenbar nach allen Regeln der Kunst gefälschten Abstimmung (angeblich wurden 1,6 Millionen Stimmen abgegeben, weit mehr als in den 408 Wahllokalen jemals gezählt werden konnten) zum neuen Führer erklärt. Beobachter vermuten jedoch, dass er im Gegensatz zu seinem ermordeten Vorgänger wenig Einfluss auf Verteidigungs‑, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik nimmt und sich treu an Vorgaben aus Moskau hält.
In Luhansk wird die überwiegend auf Kohle und Stahl ausgerichtete Wirtschaft ebenfalls von Vneschtorgservis kontrolliert – auch wenn in der dortigen „Regierung“ offiziell noch keine Manager der Holding sitzen. Der Führer der „Volksrepublik Luhansk“ Leonid Passetschnik ist ein Geheimdienstmann und gilt als kremltreu – auch wenn er im November 2017 mit militärischer Hilfe Sachartschenkos an die Macht geputscht wurde.
Angesichts des zutiefst undemokratischen und undurchsichtigen Charakters der „Regierungen“ von Donezk und Luhansk kann ihr Rückhalt in der Bevölkerung nicht sehr groß sein. Zudem wurden Hoffnungen auf eine Annexion durch Russland zuletzt immer wieder enttäuscht und die russisch-nationalistisch eingestellte Opposition mit Pawel Gubarew und Alexander Chodakowski rigoros an der Teilnahme am politischen Leben gehindert.
Die wirtschaftliche Lage bleibt desolat. Zwar kann Vneschtorgservis über Südossetien russisches Geld legal nach Donezk und Luhansk überweisen. Aber solange Kohle und Stahl aus den „Volksrepubliken“ keine Abnehmer finden (auch russische Firmen lassen lieber die Finger davon), lässt sich kaum etwas verdienen. Nach wie vor liegen die örtlichen Durchschnittslöhne mit knapp 10.000 Rubel (knapp 140 Euro) monatlich deutlich unter denen in der Ukraine und Russland. Seit Monaten werden Klagen laut, dass die „Volksrepubliken“ keine Ärzte und anderes qualifiziertes Personal finden. Für Russland, das derzeit geschätzt eine Milliarde Euro allein für den zivilen Haushalt zuschießt, drohen die „Volksrepubliken“ zu einem finanziellen Albtraum zu werden, wenn sich nicht bald etwas ändert.
Dennoch gibt es keine Belege dafür, dass von den verbleibenden knapp drei Millionen Einwohnern noch viele proukrainisch eingestellt sind. Das liegt zum einen daran, dass an freie Meinungsäußerung nicht zu denken ist. Während Puschilin und Passetschnik offiziell behaupten, dass Integration mit Russland das Ziel bleibt, der Weg dorthin aber „holpriger“ sei als der der Krim, droht weiterhin jedem, der sich offen kritisch äußert, Festnahme beziehungsweise Gefangenschaft in den berüchtigten Verließen der „Staatssicherheitsministerien“.
Ein Übriges tut die Propaganda, vor allem der russischen TV-Sender, die in der Region schon immer mehr Zuschauer hatten als die ukrainischen und bei denen führende Vertreter der „Volksrepubliken“ regelmäßig auftreten. In den Kreml-Medien gibt es nur eine Lesart des Konflikts – dass die ukrainische Armee ständig angreift und die Zivilbevölkerung abschlachtet. Der Krieg wird so zum Propagandainstrument – das Narrativ der aggressiven und vom Westen gelenkten Ukraine soll die Bevölkerung bei der Stange halten, auch wenn die politische und wirtschaftliche Realität immer schlimmer wird.
Die jüngste Verordnung von Präsident Wladimir Putin, russische Pässe im Schnellverfahren an die Bewohner der „Republiken“ auszugeben, kann man als Maßnahme sehen, die dortige Bevölkerung angesichts des im Donbass populären Präsidenten Selenskyj an Russland zu binden. Dennoch ist fraglich, wie viele Menschen diesem Ruf folgen werden. Einer Ankündigung aus Luhansk zufolge können nicht mehr als 3,000 Anträge pro Woche – und wohl nicht mehr als 150,000 pro Jahr bearbeitet werden. Das heißt, dass es etwa sechs Jahre dauern würde, bis all der knapp eine Million Einwohner russische Pässe besitzen.
Das liegt die Vermutung nahe, dass es hier mehr darum geht, denjenigen eine Zukunft in Russland zu ermöglichen, die keine Zukunft in der Ukraine hätten, weil sie im Machtapparat der „Volksrepubliken“ sitzen. Unbestätigten Berichten zufolge werden Passanträge mit Priorität von Soldaten, Sicherheitskräften und Regierungsangehörigen angenommen. Zumal der Anteil derer, die bisher einen Pass der „Volksrepubliken“ angenommen haben, auf höchstens 15 Prozent der Bevölkerung geschätzt wird.
Man darf gespannt sein, was Selenskyj tun wird, um die „Verlorenen“ im Donbass zurückzugewinnen. Leicht wird diese Aufgabe nicht. Zulange galt in Kyjiw die Devise, dass der Kreml alles und jedes in Donezk und Luhansk steuert und die Menschen wieder glückliche Ukrainer würden, wenn der russische Einfluss verschwindet: „Wenn Moskaus Waffen abgezogen und die Fernsehgeräte ausgesteckt sind, wird die ukrainische Identität zurückkehren“, sagte etwa ein Berater des Kyjiwer Informationsministers im Gespräch mit dem Autor im Jahr 2016.
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