Völkermord: Die Schuld eines ganzen Staats
Die Schuld für den Völkermord in der Ukraine trägt Putin nicht allein. Ist die Welt bereit für ein Ermittlungsverfahren gegen Russland als Staat? Von Serhij Sydorenko
Dieser Text bezieht sich zwar auf die von Zentrum Liberale Moderne organisierte Konferenz “Völkerrecht gegen Völkermord – International Conference on Russia’s War Against Ukraine”, er ist jedoch kein Veranstaltungsbericht. Genauso wenig spiegelt der Artikel die Haltung der Redaktion wider.
Unter Diplomaten und Experten für Völkerrecht gilt der Völkermord allgemein als das schlimmste aller möglichen Verbrechen, „the crime of crimes” – gravierender als jedes beliebige Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Damit einher geht jedoch auch die Tatsache, dass für eine Anklage wegen Völkermords bei der Beweisführung hohe Standards und Ansprüche gelten. Somit ist es nicht überraschend, dass seit 1948, dem Jahr des Inkrafttretens der Völkermordkonvention, kein Staat je wegen Völkermords verurteilt wurde.
In den Jahren nach den Balkankriegen zum Beispiel, in denen es ethnische Säuberungen und einen Genozid gab, saßen auf der Anklagebank des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien Militärs wie auch zivile politische Führer, darunter der ehemalige Staatschef Slobodan Miloševič, von denen etliche wegen Völkermords verurteilt wurden. Doch der Versuch, die Schuld Jugoslawiens als Staat nachzuweisen, scheiterte – das Verfahren endete mit Freispruch.
Mit diesen Erfahrungen vom Balkan im Hinterkopf ist die Ukraine vorsichtig, was diese Bestrebungen angeht und hat es aus Sorge vor einer möglichen Niederlage noch nicht gewagt, wegen des laufenden Völkermords am ukrainischen Volk ein Verfahren gegen Russland anzustrengen.
In den vergangenen Monaten hat sich die Welt davon überzeugen können, dass in der Ukraine tatsächlich ein Völkermord begangen wird. Wichtiger noch: dass der gesamte Staatsapparat der Russischen Föderation hinter diesem Völkermord steht.
Zu diesem Verständnis kommt man mittlerweile sogar in Deutschland, wo mit der Anerkennung von Genoziden generell zurückhaltend umgegangen wird.
Dies zeigte sich unlängst auf der internationalen Konferenz „Völkerrecht gegen Völkermord“ am 21. Oktober 2022 in Berlin. Die anwesenden europäischen Diskussionsteilnehmenden waren sich durchweg einig, dass Russland in der Ukraine einen Völkermord begeht. Unterschiedliche Ansichten gab es lediglich bezüglich des Stadiums, in dem sich dieser laufende Völkermord gegenwärtig befindet.
Russland könnte also durchaus der erste Staat werden, der je wegen des Tatbestands des Völkermords verurteilt wird (oder auch der zweite, da ein anderes derartiges Verfahren bereits läuft). Doch die skeptische Haltung der Ukraine stellt im Moment ein Hindernis für eine eventuelle Verurteilung der Russischen Föderation dar.
Ein Verbrechen, für das noch kein Staat bisher verurteilt wurde
Dr. Tobias Lindner, Staatsminister im Auswärtigen Amt und einer der ersten Redner auf der Berliner Konferenz, verurteilte die Russische Föderation scharf: „Die gegenwärtig von Russland begangenen Verbrechen sollten als Völkermord bezeichnet und als solche vor Gericht gebracht werden. Die Entscheidung, ob es sich dabei um Völkermord oder um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, obliegt dann dem Gericht.”
Lindner war der erste in einer ganzen Reihe deutscher Politiker, die an diesem Tag die These unterstützten, Russland habe in der Ukraine bereits einen Völkermord begangen. Zwar gab es in den Redebeiträgen der teilnehmenden Politiker, Juristen und Experten bezüglich der Qualifizierung als Genozid Differenzen in Detailfragen, doch die Mehrheit betonte, es gehe hier um ein Verbrechen, für das sich nicht nur einzelne Individuen wie Putin oder Schoigu zu verantworten haben, sondern der russische Staat als solcher.
Das ist revolutionär, denn derzeit positioniert sich nicht einmal die Ukraine selbst so klar zu dieser Frage. Völkermord ist nicht nur das gravierendste Völkerrechtsverbrechen, es ist auch am schwierigsten nachzuweisen. Insbesondere dann, wenn es darum geht, einen Staat zu überführen und nicht nur einzelne seiner Repräsentanten.
Der Begriff „Völkermord” oder „Genozid” taucht als klar definiertes Verbrechen in der erwähnten Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 1948 zum ersten Mal auf und kann dementsprechend auch nur auf Verbrechen angewandt werden, die nach diesem Datum geschehen sind. Deshalb ist der Genozid am jüdischen Volk juristisch auch nie als solcher bestätigt worden.
In den 74 Jahren, in denen die Konvention mittlerweile in Kraft ist, sind weltweit mehrere Verbrechen geschehen, die den Tatbestand des Genozids erfüllen. In zwei Fällen wurde diese Einordnung vom eigens dafür eingerichteten Ad-hoc-Strafgerichtshöfen bestätigt – im Falle des Genozids an den Tutsi in Ruanda 1994 und des Genozids an den bosnischen Muslimen in Srebrenica während der Balkankriege 1995.
Einzeltäter statt Kollektivschuld
Es gab jedoch Urteile gegen Einzelpersonen. Der Premierminister von Ruanda und die Präsidenten von Jugoslawien und der international nicht anerkannten Republika Srbska Krajina sowie Dutzende ihrer Helfer wurden in diesen Verfahren angeklagt. Doch nur bei wenigen lautete die Anklage auf Völkermord, noch weniger haben die Urteilsverkündung erlebt (der serbische Staatschef Slobodan Miloševič verstarb in Untersuchungshaft in Den Haag).
1999 versuchte der kroatische Staat zu beweisen, dass ein über die Taten einzelner Soldaten und Politiker hinausreichender Völkermord stattgefunden hatte und strengte ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen an, in dem es das ehemalige Jugoslawien (und Serbien in dessen Rechtsnachfolge) als Staat beschuldigte, einen Völkermord am kroatischen Volk begangen zu haben. Als Reaktion erhob Serbien seinerseits Klage gegen Kroatien wegen Völkermords an den Serben. Nach über 15 (!) Jahren Prüfung wies das Gericht beide Klagen ab, woraufhin sich beide Länder vom Vorwurf des Genozids als entlastet erklärten.
Obwohl sich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine von den chaotischen Zuständen in den Balkankriegen der 1990er-Jahre doch sehr unterscheidet, ist es dennoch das „Balkan-Szenario” und die Furcht, vor Gericht den Kürzeren zu ziehen, die die ukrainischen Behörden momentan daran hindern, Russland auch juristisch und nicht nur verbal des Völkermords anzuklagen.
Vertreter der Ukraine bestätigten dies auf der Konferenz in Berlin. „Wir sehen die Präzedenzfälle, bei denen ein Staat einen anderen gemäß der Völkermordkonvention zur Verantwortung zu ziehen versucht hat, die Beweisführung sich aber als extrem schwierig herausstellte”, erläuterte der Vertreter der Ukraine beim Internationalen Gerichtshof, der Sondergesandte des Außenministeriums, Anton Korynevych.
Zudem ist beim Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen bereits ein Verfahren „Ukraine gegen Russland” unter der Völkermordkonvention anhängig, doch wird die russische Seite darin nicht direkt des Völkermords beschuldig. Es geht vielmehr darum, die falschen russischen Anschuldigungen zurückzuweisen, im Donbas finde angeblich ein von Ukrainern begangener Völkermord statt, die als Vorwand für die Aggression gegen die Ukraine herangezogen wurden.
Dieses Verfahren könnte anhand der vorliegenden Fakten über russische Verbrechen in Butscha, Mariupol, Isjum und andernorts ausgeweitet, und der Versuch unternommen werden, Russland des „Verbrechens der Verbrechen” anzuklagen. Doch Kyjiw hat sich gegen ein solches Vorgehen entschieden. „Viele Juristen haben uns gefragt, ob wir im Rahmen dieses Verfahrens Russland die Verletzung der Völkermordkonvention (und die entsprechenden Taten) vorwerfen werden. Aber wir haben uns entschieden, das nicht zu tun, da es sich dabei um einen anderen Fall handelt”, sagte Korynevych, und fügte hinzu, die Ukraine priorisiere nicht ein zwischenstaatliches Verfahren, sondern die Verfolgung und Anklage einzelner russländischer Politiker, Militärs und Propagandisten.
Die Absicht reicht
Worin genau besteht die Schwierigkeit beim Nachweis eines Völkermords? Man könnte denken: Es ist doch bereits so viel bekannt über die Besetzung der Städte in den Regionen Kyjiw und Charkiw, ganz zu schweigen davon, welche Dimensionen und Todeszahlen uns erwarten dürften, wenn erst Mariupol und andere Orte im Süden der Ukraine befreit sind? Das Problem besteht darin, dass die Völkermordkonvention nicht nur verlangt, dass die bewusste Auslöschung von Ukrainern als ethnischer oder nationaler Gruppe nachgewiesen werden muss, sondern auch, dass eine „Zerstörungsabsicht” bestand, das Morden also mit dezidiert genozidaler Absicht geschah.
Daran erinnerten sämtliche Juristen, die in Berlin das Wort ergriffen. Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba unterstrich diesen Sachverhalt, als er die Konferenz eröffnete. Doch obwohl Kuleba offen zugab, den Völkermord für ein Werk Russlands zu halten (und vom „brutalen russischen Versuch, die ukrainische Identität und Nation von der Erde hinwegzufegen” sprach), konzentriert er sich darauf, individuelle Personen juristisch zu verfolgen, nicht den russischen Staat als solchen.
„Wir streben danach, diejenigen vor Gericht zu bringen, die für genozidale Handlungen zur Verantwortung gezogen werden müssen, und wir werden für Gerechtigkeit kämpfen”, so Kuleba. Diese Vorsicht stand im Kontrast zu den Redebeiträgen westlicher Experten wie Professor Irwin Cotler vom Raoul-Wallenberg-Center for Human Rights. Kotler unterstrich, dass es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt definitiv um einen Völkermord handelt, der auf das Konto des ganzen Staates geht und nicht lediglich das eigenmächtige Handeln von Militärs.
„Wir sehen, wie die Existenz des ukrainischen Volkes bestritten wird, die Identität der Ukrainer negiert wird, wir sehen ihre Dehumanisierung… Russland hat eine Absicht. Es hat den Plan, dieses Verbrechen zu begehen – ein staatliches Programm, gestützt durch Aussagen aus der Politik. Es gibt systematische Bemühungen, die darauf abzielen, eine Bevölkerungsgruppe zu vernichten”, zeichnete Kotler nach, wie das russische Vorgehen die gemäß der Völkermordkonvention existierenden Kriterien erfüllt.
Für die Podiumsgäste aus der Politik bestand ebenfalls kein Zweifel an einem absichtlichen Agieren Russlands – dazu sei noch einmal an die Deutlichkeit der Wortwahl des bereits zitierten Staatsministers im Auswärtigen Amt Lindner erinnert. Der Historiker Timothy Snyder widmete seinen Vortrag der Untermauerung der These, dass die genozidale Absicht Russlands offen zu Tage liegt (zu seiner Argumentationslinie mehr in seinem online veröffentlichten Artikel Russia Intends to Commit Genocide in Ukraine, Six Ways to Prove It).
Und auch die Vertreter des ukrainischen Staats, die in Berlin angaben, keine Anklage erheben zu wollen, erklärten, keinen Zweifel an der systematischen Absicht des russischen Staates zu hegen, einen Völkermord begehen zu wollen. „Russlands brutaler Versuch, die ukrainische Identität auszulöschen und die ukrainische Nation von dieser Erde hinwegzufegen, ist vermutlich das schlimmste Ereignis dieses Jahrhunderts”, sagte Kuleba sichtlich emotional. „Wir haben es mit Anstiftung zu Völkermord zu tun, dazu braucht man ja nur zu lesen, was RIA Novosti [Anm. der Redaktion: staatliche, russische Nachrichtenagentur] vermeldet. Dort wird gesagt, dass wir nicht existieren.”
Planung und Ausführung
Trotz der herrschenden Einigkeit der Teilnehmer, dass Russland einen Völkermord geplant hat und also die „Absicht” hatte – welche die Konvention als Kriterium aufführt und die bestehen muss, um Täter für dieses Verbrechen zu bestrafen – nachweisbar sein dürfte, gingen hinsichtlich eines wichtigen Details die Meinungen auseinander. Dies betrifft die Frage, ob es Beweise dafür gibt, dass der Massenmord nicht nur als Genozid geplant, sondern auch bereits in einem Ausmaß ausgeführt wurde, das es erlaubt, von einem Völkermord an der ukrainischen Nation als einem Faktum zu sprechen. Etliche der Panelisten sahen hier nur ein „Völkermordrisiko”.
„In zunehmendem Maße sehen wir uns dem Völkermordrisiko gegenüber, und rufen daher alle Parteien auf, Verantwortung zu übernehmen und es nicht zum Völkermord kommen zu lassen”, sagte Irwin Cotler, nachdem er die seiner Ansicht nach vorliegende, verbrecherische Absicht der Russischen Föderation hergeleitet hatte. „Hier besteht die ernsthafte Gefahr eines Völkermords. Wir sollten aber nicht abwarten, bis er geschieht”, so Ralf Fücks, Mitbegründer des Zentrums für Liberale Moderne, des Veranstalters der Berliner Konferenz.
Das ist das Kernproblem. Es ist nicht notwendig, eine größere Zahl von Opfern abzuwarten, bevor Russland belangt werden kann. Die Völkermordkonvention führt fünf strafbare Handlungen auf: Täter sind nicht nur für Tötungshandlungen als solche zu bestrafen, strafbar sind auch die folgenden vier Punkte: Verschwörung zur Begehung von Völkermord, unmittelbare und öffentliche Anstiftung zur Begehung von Völkermord, der Versuch, Völkermord zu begehen und die Teilnahme am Völkermord.
„Wie es im Holocaust auch nicht allein um die Gaskammern ging, so beginnt auch der Völkermord in der Ukraine mit der Anstiftung dazu, also mit einer Dehumanisierung und Dämonisierung”, so die Argumentation von Ralf Fücks. „Die Anstiftung zum Völkermord ist bereits ein Verbrechen. Ebenso wie die Verschleppung von Kindern, um diese in einer fremden nationalen Gruppe großzuziehen. Was Russland hier tut, ist Völkermord,” stimmte ihm Dmytro Kuleba zu.
Seine Bezugnahme auf die Entführung von Kindern wurde hier bewusst als Beispiel gewählt, stieß doch dieses Verbrechen durch die Russische Föderation auch im Westen auf einhellige Ablehnung. Dabei geht es um die zentral gelenkte und offiziell von Moskau befürwortete massenhafte Verschleppung von Kindern aus Mariupol und anderen Gebieten unter russischer Besatzung. Das ist Völkermord. Die Konvention sieht vor, dass eine „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe” als Maßnahme zu gelten hat, eine nationale Gruppe als solche zu zerstören.
Das Treffen in Berlin legte nahe, dass sich eine Beweisführung gegen den russischen Staat wegen Völkermords als eine zunehmend realistische Aufgabe stellt. Sollte es so weit kommen und Russland des „Verbrechens der Verbrechen” schuldig gesprochen werden, wäre dies ein Wendepunkt in der Wahrnehmung des Aggressors in der Welt. Der juristische Nachweis eines staatlicherseits angestrebten und begangenen Völkermords wird Staaten, die derzeit noch zögern, ihre Beziehungen zu Russland abzubrechen, keine andere Wahl mehr lassen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Prüfung des Falls Jahre dauern würde, wäre dies für die Ukraine ein Erfolg von unschätzbarem Wert,
Und noch ein Argument lässt sich anführen: Beim Internationalen Gerichtshof ist ein Verfahren anhängig, das von Gambia und 57 weiteren, muslimischen Staaten gegen Myanmar wegen des Genozids an den Rohingya angestrengt wurde. Deren Verfolgung und Tötung in den Jahren 2016 und 2017 ist ein unstrittiges Beispiel eines staatlicherseits beabsichtigten Völkermords, das sich (anders als im Falle der russischen Aggression) auf eigenem Staatsgebiet abspielte. Im Sommer 2022 ließ der Gerichtshof der Vereinten Nationen das Verfahren zu, wies die Einwände der Regierung von Myanmar zurück und leitete die Beweisaufnahme ein.
In einigen Jahren dürfte es auf der Welt doch einen Staat geben, der wegen Völkermords verurteilt wird – und das wird nicht Russland sein. Allerdings nur, wenn die Ukraine bis dahin nicht den Mut aufbringt, ihrerseits im Rahmen der Internationalen Gerichtsbarkeit für die Wahrheit aufzustehen und ein Verfahren gegen den Aggressor anzustrengen.
Aus dem Englischen von Beatrix Kersten.
Dieser Artikel erschien zuerst am 25. Oktober 2022 in der Європейська правда. Beiträge der Völkerrechtskonferenz kann man auf Ukrainisch hier nachschauen.
Gefördert durch
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.