Warum die EU-Kandidatur für die Ukraine so wichtig ist
Westeuropäische Politiker mögen heute die Frage nach einem Kandidatenstatus der Ukraine und ihren Beitritt zur EU in ferner Zukunft als zweitrangig betrachten. Für Kyjiw jedoch wäre eine eindeutige Anschlussperspektive bereits heute bedeutsam. Von Andreas Umland
In dieser Woche werden die 27 derzeitigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine formal unbedeutende, aber tatsächlich historische Entscheidung treffen: Wie genau wird die Antwort der EU auf den Beitrittsantrag der Ukraine ausfallen? Auch Georgien und Moldau, die weniger im Rampenlicht stehen, haben die EU-Fragebögen zum Stand ihrer Europäisierung ausgefüllt. Keines der drei Länder kann freilich sofort in die EU aufgenommen werden. Wie Kyjiw hoffen jedoch Tiflis und Chişinău auf eine klare Message Brüssels über ihre künftige Möglichkeit, der EU als Vollmitglieder beizutreten. Das „Assoziationstrio“ – so genannt nach den besonders umfangreichen EU-Assoziierungsabkommen der drei Länder – möchte zum „Beitrittstrio“ werden.
Die Europäische Kommission hat sich nach etlichen mündlichen Ermutigungen ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen auch formell auf die Seite der Antragsteller Ukraine und Moldau gestellt. Die Empfehlung der Europäischen Kommission an den Rat der EU zu den drei Anträgen ist erstaunlich klar ausfallen. Es wird nun darauf ankommen, dass auch die Mitgliedstaaten der Union ermutigende Antworten an Kyjiw, Tiflis und Chişinău formulieren, die den Wünschen der drei Länder zumindest teilweise entgegenkommt. Die nationalen Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten sollten öffentlich und eindeutig den Plan des Assoziationstrios gutheißen, der Union beizutreten, sobald dies möglich ist.
Ein häufiges Argument gegen einen Beitritt der Ukraine, Georgiens und Moldaus zur EU (und auch zur NATO) ist die Tatsache, dass alle drei Länder die Gebiete ihrer Staaten nicht vollständig kontrollieren. Transnistrien in Moldau, Abchasien und die Region Zchinwali in Georgien sowie Teile der Ost- und Südukraine werden entweder direkt oder indirekt von Moskau kontrolliert. Darüber hinaus befindet sich die Ukraine in einem aktiven Krieg mit Russland. Aus mindestens drei Gründen ist dieser scheinbar plausible Einwand eine Ablenkung.
Kandidatur bedeutet nicht Beitritt
Erstens wird selbst ein eindeutig positives Signal der 27 EU-Länder nicht den schnellen Beitritt des Trios zur Union bedeuten. Weder eine Beitrittsperspektive noch eine Kandidatur der drei Staaten läutet den unmittelbaren Beitritt des Trios in die EU ein. Am realistischsten erscheint für die Ukraine und Moldau der offizielle Kandidatenstatus und für Georgien eine Heraufstufung zum so genannten „potenziellen Kandidaten“. Diese Vorstufen zu einem Beitritt implizieren, dass in nicht allzu ferner Zukunft Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden.
Georgien wäre als „potenzieller Kandidat“ mit einer Eintrittsperspektive in seiner Beziehung zu Brüssel dem derzeitigen Verhältnis Bosnien-Herzegowinas und des Kosovo zur EU gleichgestellt. Die Ukraine und Moldau würden als Kandidaten auf einer Ebene mit Ländern wie Serbien und der Türkei sein, die ihren Kandidatenstatus 2012 beziehungsweise 1999 erhielten. Insbesondere das letztgenannte Datum zeigt, dass unklar ist, wohin der Beginn einer Kandidatur letztlich führt. Serbien wird eines Tages vollständig von EU-Mitgliedstaaten umgeben sein, während die Türkei bereits seit 1995 in einer Zollunion mit der EU ist. Gravierende Verletzungen der beiden Langzeitaspiranten von grundlegenden EU-Prinzipien in den letzten 20 Jahren bedeuten jedoch, dass ihre Beitrittswünsche möglicherweise nie in Erfüllung gehen werden.
Zweitens wäre die Zurückweisung eines europäischen Landes durch Brüssel mit der Begründung, dass es sein Staatsgebiet nicht vollständig kontrolliert, eine Selbstverleugnung der Union. Es würde bedeuten, dass externe Kräfte ein Vetorecht über die Außen‑, Erweiterungs- und Innenpolitik der EU haben. Im Gegensatz zu Behauptungen der Kreml-Propaganda und einer Reihe verirrter westlicher Beobachter sind Moldau, Georgien und die Ukraine keine „failed states“.
Stattdessen sind Teile der drei Länder schlicht von Russland militärisch besetzt. Ihre staatliche Unvollständigkeit ist durch im Land unerwünschte ausländische Truppen erzwungen. Diese schwer bewaffneten Soldaten sind von der Zentralnation des ehemaligen Imperiums entsandt, dem die einst kolonisierten Völker des Trios einmal unfreiwillig angehörten. Wird Brüssel die drei unabhängigen Staaten wirklich abweisen, weil sie immer noch von Russland unterwandert werden?
Sollte dies geschehen, würde die EU damit implizit signalisieren, dass ihre eigene Souveränität begrenzt ist und dass im Allgemeinen die Macht des Stärkeren vor Völkerrecht kommt.
Kein Präzedenzfall
Drittens hat die EU mit Zypern bereits ein Land aufgenommen, dessen Regierung sein Staatsgebiet nicht vollständig kontrolliert. Zwar ist die Republik Zypern im Jahr 2004 offiziell mit ihrem gesamten Territorium der Union beigetreten. Doch das europäische Gemeinschaftsrecht findet in der selbsternannten und nicht anerkannten „Türkischen Republik Nordzypern“ keine Anwendung.
Diese Einschränkung gilt insbesondere für die gemeinsame Verteidigungsklausel des Lissaboner Unionsabkommens von 2007, der de-facto-Verfassung der EU. In Artikel 42.7 des Vertrags über die Europäische Union heißt es: „Wird ein Mitgliedstaat Opfer eines bewaffneten Angriffs auf sein Hoheitsgebiet, so sind die anderen Mitgliedstaaten ihm gegenüber verpflichtet, ihm mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Hilfe und Beistand zu leisten.“
Entgegen dieser Verpflichtung haben die EU-Mitgliedsländer seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags 2009 allerdings keinen militärischen Beistand für Nikosia geleistet. Brüssel hat lediglich versucht, Zypern mit diplomatischen Mitteln bei der Wiedererlangung seiner vollen Souveränität zu helfen. Es gibt somit ein Modell, nach dem territorial unvollständige Republiken wie die Ukraine, Georgien und Moldau Mitglieder der EU werden können. Dies ist möglich, auch wenn das Gemeinschaftsrecht, die Gerichtsbarkeit und die Verteidigungspflicht der Union in den von der Regierung nicht kontrollierten Gebieten dieser Staaten keine Geltung haben.
Mehr als nur Worte
Der tatsächliche Beitritt des Assoziationstrios zur Union ist ohnehin etliche Jahre entfernt. Ein Status als Kandidat für die EU bedeutet trotzdem mehr als manchem bewusst sein mag. Bereits dieser Status würde die Beziehungen der Ukraine, Georgiens und Moldaus zur EU nicht nur in Worten, sondern auch im Prinzip verändern. Zwar erlaubt der Vertrag über die Europäische Union formal allen europäischen Ländern, Mitglied zu werden. Auf den ersten Blick mag eine Kandidatur der drei Transformationsstaaten daher nicht viel bedeuten.
Die Erfahrung der Vergangenheit zeigt jedoch, dass die generell positive Erklärung des Lissabonner Vertrages für alle europäischen Länder für sich genommen keinen Weg zum Beitritt zeichnet. Stattdessen muss der Europäische Rat zunächst einstimmig und schriftlich die Mitgliedschaftsperspektive beziehungsweise Kandidatur des konkreten Bewerberlandes bestätigen. Danach muss sich der antragstellende Staat gründlich auf Beitrittsverhandlungen vorbereiten. Sobald eine Vorbereitungsphase – oft in Form einer Assoziierung – erfolgreich abgeschlossen ist, beginnt die EU mit dem formellen Beitrittsprozess mit dem Bewerberland. Im Rahmen einer so genannten Regierungskonferenz und unter aktiver Beteiligung der Kommission beginnt die EU mit dem Bewerberland langwierige und ergebnisoffene Beitrittsverhandlungen.
Die europäischen Bestrebungen der Ukraine, Georgiens und Moldaus wurden von der EU-Kommission und dem Rat bereits öffentlich und wiederholt anerkannt. Darüber hinaus hat das Europäische Parlament die Exekutivorgane der EU mehrfach aufgefordert, den drei postsowjetischen Ländern endlich eine klare Beitrittsperspektive zu bieten. Im März 2022 wurde die Ukraine vom Europäischen Rat gar als Teil „unserer europäischen Familie“ bezeichnet – was auch immer das heißen mag. Keine dieser offiziellen, aber folgenlosen Erklärungen haben der Ukraine, Georgien und Moldau bisher den Weg zum Beitritt geebnet.
Ende der Hängepartie
Sollten nun die drei Länder tatsächlich zu Kandidaten oder zumindest „potenziellen Kandidaten“ werden, würde dies ihre seit 30 Jahren andauernde geopolitische Schwebesituation beenden. Auch wenn das nicht den Wunsch insbesondere Kyjiws nach sofortigem Beginn von Beitrittsverhandlungen erfüllt, wird auch die scheinbar geringe Statusveränderung bereits grundlegend sein. Der Übergang der Ukraine, Georgiens und Moldaus von der Stufe assoziierter Partner zu vollwertigen beziehungsweise potenziellen Beitrittskandidaten bedeutet nicht nur einen symbolischen, sondern auch einen substanziellen Unterschied. Er wäre geopolitisch, administrativ, rechtlich und psychologisch bedeutsam.
Der Status der drei Länder als offizielle EU-Kandidaten würde die internationalen Beziehungen Osteuropas verändern. Die derzeitige sicherheitspolitische Grauzone zwischen dem Westen auf der einen Seite und Russland sowie seinen Satelliten Belarus sowie Armenien auf der anderen Seite würde weniger grau werden. Zwar wird erst der eigentliche Beitritt der drei Kandidatenländer zur EU und – im Falle der Ukraine und Georgiens – zur NATO dem osteuropäischen geopolitischen Raum vollständige Struktur geben. Eine offizielle Beitrittsperspektive seitens der EU würde jedoch bereits heute zeigen, in welche Richtung die Reise geht. Ein bedingtes, jedoch eindeutiges Angebot würde aus Sicht der drei Aspiranten ein klares Ziel für ihre jetzigen sowie künftigen innen- und außenpolitischen Reformen vorgeben. Es würde die Einigkeit, Konzentration und Resilienz des Assoziationstrios, in dem große Bevölkerungsmehrheiten den EU-Beitritt wünschen, stärken.
Aus Sicht des Westens wäre ein bedingtes Mitgliedschaftsangebot ein wichtiges Zuckerbrot, mit dem die EU die osteuropäische Transformation beschleunigen kann. Eine Beitrittsperspektive stellt ebenfalls eine Peitsche in den Händen Brüssels dar. Die Aufnahme der Kandidaten wäre zwar möglich, wird allerdings nur unter der Kondition erfolgen, dass sie die EU-Standards vollständig erfüllen. Sie kann, wie die Beispiele Türkei und Serbien zeigen, auch verschoben oder gar abgelehnt werden. Das Beitrittsangebot ist ein wirksames Instrument für Brüssel und einheimische Reformer in den drei Ländern, um Druck auf widerspenstige Akteure und verkrustete Strukturen in Regierung, Parlament und Verwaltung auszuüben.
Mit einem zumindest potenziellen Kandidatenstatus für die Ukraine, Georgien und Moldau würde auch die derzeit ambivalente, wenn nicht gar widersprüchliche Bedeutung ihrer ehrgeizigen Assoziierungsabkommen mit der EU geklärt werden. Seit 2014 bereiten diese drei Großverträge – die umfangreichsten Außenabkommen, die die EU je unterzeichnet hat – das Assoziationstrio de facto auf die Mitgliedschaft in der Union vor. De jure ist dieses Ziel in den Mammutdeals jedoch nicht enthalten. Im Falle einer offiziellen Beitrittskandidatur würde die EU diese offensichtliche Unstimmigkeit im laufenden Assoziierungsprozess mit diesen drei Aspiranten endlich korrigieren.
Existierende Erfahrungen nutzen
Sobald es eine klare Beitrittsperspektive gibt, wäre für alle Beteiligten klar, wie die nächsten Schritte für Kyjiw, Tiflis und Chişinău aussehen. Die drei Beitrittskandidaten, Brüssel und die Mitgliedstaaten könnten Erfahrungen und Institutionen der jüngsten EU-Zugänge und anderer Beitrittskandidaten aus Osteuropa nutzen, um die Agenda der drei neuen Kandidaten für die nächsten Jahre zu formulieren. Wissen, Fähigkeiten, Modelle und Unterstützung aus Ländern wie Estland, Bulgarien oder Kroatien können für die schrittweise Annäherung des Assoziationstrios an die EU genutzt werden. Eine Reihe von Ad-hoc-Institutionen, die von Brüssel geschaffen wurden, um die westlichen Balkanländer auf den Beitritt vorzubereiten, wie das Zentrum für Sicherheitskooperation (RACVIAC) oder Zentrum für Exzellenz im Finanzwesen (CEF), könnten nun auch die Ukraine, Georgien und Moldau einbeziehen.
Die Ernennung der drei Staaten zu vollen oder potenziellen EU-Kandidaten wäre vor allem ein wichtiger psychologischer Impuls für die meisten Ukrainer, Georgier und Moldawier. Die Bürger der drei postsowjetischen Länder wüssten dann, welche Zukunft sie, ihre Kinder und Enkelkinder erwartet. Insbesondere für die Ukrainer, die derzeit um die nackte Existenz ihres Landes kämpfen, wäre ein demonstratives Signal, dass der Weg ihres Landes in die EU offen ist, ermutigend.
Nicht zuletzt wird ein Jawort Brüssels an Kyjiw, Tiflis und Chişinău auch für Moskau ein wichtiges Signal darstellen. Ein Kandidatenstatus für die Ukraine, Georgien und Moldau wird die russisch-westlichen Beziehungen nachhaltig beeinflussen. Die Russen wären mit einer kollektiven europäischen Erklärung über die strategische Bedeutung dieser Länder für die EU konfrontiert. Eine positive westliche Botschaft für das Assoziationstrio stünde in krassem Widerspruch zur Kremlpropaganda, welche die drei Nationen als gescheitert oder sogar nicht existent darstellt. Sie würde insbesondere den massiven materiellen und ideellen Angriff von Putin auf die Kultur, Heimat und Identität der Ukrainer in Frage stellen. Die Union sollte sich die Chance, für alle Welt deutlich zu machen, wofür die Europäische Idee steht, nicht entgehen lassen.
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