Russlands Annexion der Krim – historisch gerechtfertigt? Zur Problematik „realistischer” Annexionsnarrative
Laut dem Kreml war die Annexion der Krim historisch gerechtfertigt und wurde von einer überwältigenden Mehrweit der Krimbewohner gefordert. Die Fakten sprechen eine andere Sprache.
Das vom Kreml propagierte und in weiten Teilen der westlichen Öffentlichkeit akzeptierte Narrativ einer vorgeblich nahezu einhelligen Unterstützung unter den Bewohnern der Krim und angeblichen historischen Rechtfertigung für Russlands Annexion der ukrainischen Halbinsel ist irreführend. Es blendet nicht nur bewusst die Tatsache aus, dass ab spätestens Februar 2014 eine russische Propaganda‑, Geheimdienst- sowie Militäroperation der offiziellen Unabhängigkeitserklärung der Autonomen Republik Krim (ARK) am 17. März 2014 und anschließenden Annexion durch Russland am 18. März 2014 vorausging. Verschiedene historische Hintergründe und politische Details des am 16. März 2014 von Russland orchestrierten „Referendums“ stellen die populäre These in Frage, wonach eine überwältigende Mehrheit der Krimbewohner die „Wiedervereinigung“ Russlands mit der Halbinsel gefordert und es schwerwiegende geschichtliche Gründe für den Anschluss gegeben habe.
Berechtigte Zweifel an großer Zustimmung für Annexion
Kurioserweise stammt ein besonders kritischer früher Kommentar zu dem Schein-Referendum auf der Krim vom Rat für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation, eines Beratungsorgans von Wladimir Putin. Eines der Mitglieder dieser offiziellen Institution Russlands, Ewgenij Bobrow, reiste Mitte April 2014 privat auf die Krim. In Folge seiner Beobachtungen und Gespräche während dieses Aufenthalts auf der gerade annektierten Halbinsel, sowie auf Grundlage weiterer Nachforschungen, berichteten die drei Mitglieder des Menschenrechtsrats, dass nach Einschätzung „praktisch aller befragten Experten und Einwohner“ die Beteiligung am Referendum nicht wie offiziell angegeben bei 83,1 Prozent lag, sondern eher zwischen 30 und 50 Prozent. Von denjenigen, die am „Referendum“ teilnahmen, stimmten – gemäß der Einschätzung der drei renommierten russischen Menschenrechtler – nicht 96,77 Prozent für die Annexion, wie von den Behörden behauptet, sondern lediglich 50 bis 60 Prozent.
Selbst wenn man von einer deutlich höheren Wahlbeteiligung und einem größeren Rückhalt für die Annexion in der Stadt Sewastopol, der Basis der russischen Schwarzmeerflotte, ausgehen kann, würde dies bedeuten, dass womöglich weniger als ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Krim ihre Stimme für einen Anschluss der Halbinsel an Russland abgegeben hat. Dies wäre ein zu geringer Prozentsatz, um eine derart folgenreiche Änderung der Grenzen in Europa zu rechtfertigen.
Frühere Umfragen sahen keine Mehrheit für Annexion, neuere sind nicht aussagekräftig
In einer der letzten aussagekräftigen Umfragen, die Mitte Februar 2014 – nur wenige Tage vor Beginn der Krimbesetzung durch russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen – durchgeführt wurde, hatten 41 Prozent der Befragten Krim-Bewohner (ausgenommen Sevastopol) den Zusammenschluss von Russland und der Ukraine zu einem Staat unterstützt. Dieses Resultat korrespondiert in etwa mit Ergebnissen früherer Befragungen zu einem möglichen Anschluss der Halbinsel an Russland. Die verschiedenen Umfragen, die nach der Annexion durchgeführt wurden, belegen dahingegen scheinbar eine überwältigende Unterstützung der Krimbewohner – teils weit über 80 Prozent – für den Anschluss. Doch haben aus einer Reihe von Gründen diese vermeintlich eindeutigen Erhebungsergebnisse nach der Annexion nur eine begrenzte Aussagekraft für die Deutung der Ereignisse auf der Krim Anfang 2014.
Vor allem scheinen einige Beobachter, die sich auf nach der Annexion durchgeführte Erhebungen beziehen, die erheblichen Risiken, die sich für die Befragten beim Thema der Zugehörigkeit der Krim ergeben, zu unterschätzen oder gar auszublenden. Die Respondenten auf der okkupierten Halbinsel müssen gegebenenfalls gehörige Entschlusskraft und Risikobereitschaft haben, gegenüber Fremden ihre potenzielle Kritik an der Annexion zum Ausdruck zu bringen. Dies ist angesichts der neuen politischen und rechtlichen Lage auf der Krim seit März 2014 nicht unproblematisch.
Einschränkung elementarer Rechte und Freiheiten
Nach ihrer Annexion durch Russland ist die Schwarzmeerhalbinsel zu einer jener Regionen Europas geworden, in welcher der Schutz elementarer politischer und bürgerlicher Rechte nur noch sehr eingeschränkt gewährleistet ist. Eine Missbilligung der Annexion ist heute auf der Krim durch die Behörden und kremlkontrollierten Medien in hohem Maße politisch stigmatisiert und hätte im schlimmsten Fall für solche Respondenten ernsthafte Nachwirkungen. Moskau und seine Stellvertreter auf der Krim bedrängen politisch Andersdenkende – insbesondere Mitglieder der krimtatarischen Minderheit – oder auch bloße Sympathisanten ukrainischer Symbole und Kultur allwöchentlich.
Abstimmung fand im Klima der Angst statt
Um auf die Entwicklungen im Frühjahr 2014 zurückzukommen, gibt es weitere Gründe, warum das von Russland abgehaltene Pseudo-Referendum nicht als Rechtfertigung für eine nachsichtige Haltung gegenüber Russland im Hinblick auf die Annexion der Krim dienen kann. Die Vorbereitungen, der Ablauf, die mediale Begleitung und die Formulierung des „Referendums“ waren so offensichtlich tendenziös, dass dieses Abstimmungsverfahren als Lehrbuchbeispiel für eine manipulierte Wahl dienen kann. So wurde das Datum des Referendums in kurzer Zeit zweimal vorgezogen, und die Bürger der Krim hatten weder Zeit noch Gelegenheit, öffentlich, kontrovers und frei die Alternativen zu diskutieren, unter denen sie bei der angeblichen Volksabstimmung am 16. März 2014 auswählen konnten. Die Stimmabgabe fand unter erheblichem psychologischem Druck statt, welchen allgegenwärtige reguläre russische Truppen ohne Abzeichen („grüne Männchen“ beziehungsweise „höfliche Menschen“) und teilweise ebenfalls bewaffnete prorussische irreguläre Verbände ausübten.
Abstimmung ohne echte Wahlmöglichkeit
Seltsamerweise fand sich auf dem Abstimmungsbulletin keine Option einer simplen Aufrechterhaltung des geltenden Status quo, das heißt der seit 1998 gültigen Verfassung der ARK. Die Wähler hatten lediglich die Möglichkeit, entweder für die „Wiedervereinigung“ mit Russland oder für die Wiedereinführung einer alten Verfassung von 1992 zu stimmen. Mehr noch: auch diese beiden Optionen waren unklar formuliert, ja in gewisser Hinsicht absurd.
Die erste Option versprach den Krimbewohnern eine „Wiedervereinigung“ mit „Russland“. Die Krim hatte allerdings nie zu einem „Russland“ gehört, das von großen Teilen des Territoriums des postsowjetischen ukrainischen Staats, zu dem die Krim seit 1991 gehörte, getrennt gewesen wäre. Ein Großteil des heutigen Festlands der Ukraine war ungefähr genauso lange wie die Krim Bestandteil zunächst des Zarenreichs und dann der Sowjetunion, also jener Staaten, auf die sich das Wort „Russland“ in dem Referendum offenbar bezog. Von 1783 bis 1991 hatte die Krim lediglich zu einem Imperium gehört, das manchmal „Russland“ genannt wird, jedoch nicht dem heute existierenden russischen Nationalstaat entsprach. In der Sowjetperiode gehörte die Krim die ersten 32 Jahre zur russischen und die letzten 37 Jahre zur ukrainischen Teilrepublik der UdSSR.
Die zweite Wahlmöglichkeit im „Referendum“, die eine Rückkehr zur „Verfassung der Republik Krim von 1992“ versprach, war noch verwirrender formuliert. Das Paradoxon der zweiten Frage an die Krimbewohner bestand darin, dass im Jahr 1992 auf der Krim zwei verschiedene Verfassungstexte (ein eher konföderalistischer und ein eher föderalistischer) verabschiedet worden waren. Die Wähler wurden 2014 – ob nun absichtlich oder unabsichtlich – im Unklaren darüber gelassen, auf welche der beiden vorhandenen Alternativen im „Referendum“ sich ihre Entscheidung bezogen hätte.
Hätte die zweite Option gewonnen, wäre es den Machthabern offenbar selbst überlassen gewesen, eine Wahl zwischen den beiden verschiedenen Grundgesetztexten aus dem Jahr 1992 zu treffen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die zweite Option – statt der näherliegenden Wahlmöglichkeit, den bis dahin geltenden Status quo aufrechtzuerhalten – absichtlich schwammig formulierte wurde. Womöglich sollte die Unbestimmtheit der Alternative zur Annexion die Unterstützung für die erste eindeutigere Option – Anschluss an die Russische Föderation – erhöhen. Die Wahl, die die Krimbewohner im März 2014 hatten, war in gewisser Hinsicht somit weniger eine zwischen Russland und der Ukraine als eine Entscheidung zwischen Klarheit und Unklarheit.
Die Tatsachen sind bekannt – werden aber vielfach ignoriert
Keine dieser Informationen ist außergewöhnlich, geheim oder originell. Die aufgeführten Tatsachen und eine Reihe anderer aufschlussreicher Aspekte der denkwürdigen Ereignisse vom Februar-März 2014 sind bekannt. Dazu zählen etwa die ausdrücklich proukrainische Einstellung des Großteils der indigenen Bevölkerung der Halbinsel, der Krimtataren, oder die eindeutigen russischen Bekräftigungen der Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine in den ratifizierten Verträgen zur Auflösung der UdSSR von 1991 („Belowesha-Abkommen“) und zum russisch-ukrainischen Grenzverlauf von 2003. Dennoch scheinen viele westliche Beobachter, die schnell mit Kommentaren über die Geschichte, Annexion und Zukunft der Krim bei der Hand sind, einige oder gar die meisten dieser Tatsachen nicht zu kennen – oder gar bewusst zu ignorieren.
Eine ausführlichere sowie mit zahlreichen Primär- und Sekundärquellen versehene Version dieses Artikels erscheint demnächst in der Fachzeitschrift „Sirius: Zeitschrift für Strategische Analysen“.
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