Chancen und Risiken in Wolo­dymyr Selen­skyjs neuer Ukraine

Unser Autor Andreas Umland erläu­tert in seiner Analyse, wieso die große Macht­fülle Selen­skyjs auch eine Chance sein kann und welche kon­kre­ten Schritte es jetzt bräuchte, um demo­kra­ti­sche Struk­tu­ren in der Ukraine zu festigen.

Portrait von Andreas Umland

Dr. Andreas Umland ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Stock­hol­mer Zentrum für Ost­eu­ro­pa­stu­dien (SCEEUS) und Senior Expert am Ukrai­nian Insti­tute for the Future in Kyjiw. 

Was bedeu­ten die heu­ti­gen gänz­lich neuen poli­ti­schen Rea­li­tä­ten in der Ukraine für die Zukunft des Landes? Die ukrai­ni­schen Prä­si­dent­schafts- und Par­la­ments­wah­len 2019 zei­tig­ten his­to­ri­sche Ergeb­nisse. Bisher hatte kein ukrai­ni­scher Prä­si­dent einen so starken Rück­halt in der Bevöl­ke­rung (73,2 % in der Stich­wahl) und so geringe Ver­bin­dung zur bis­he­ri­gen poli­ti­schen Klasse des Landes. Darüber hinaus gab es in der unab­hän­gi­gen Ukraine noch nie ein Par­la­ment, in dem eine Partei derart stark domi­nierte, wie es nun Wolo­dymyr Selen­skyjs Frak­tion Diener des Volkes mit 254 der offi­zi­ell 450 Sitze des Gesetz­ge­bungs­or­gans tut. Durch diese beiden Wahlen wurde die Mehr­zahl der bis­he­ri­gen Poli­ti­ker und Büro­kra­ten im Prä­si­di­al­amt, der Regie­rung, in der Wer­chowna Rada (Obers­ter Rat) und der Staats­an­walt­schaft aus dem Amt gefegt.

Rück­schritt oder Neubeginn?

Die Macht­fülle von Diener des Volkes nach den beiden lan­des­wei­ten Siegen von Selen­skyj und seiner Partei in den Prä­si­dent­schafts- und Par­la­ments­wah­len wird von Beob­ach­tern inner- und außer­halb der Ukraine unter­schied­lich bewer­tet. In Kyjiw warnen viele Intel­lek­tu­elle vor auto­ri­tä­ren und Sicher­heits­ge­fah­ren, die mit der Domi­nanz einer ein­zi­gen Partei mit solch unkla­rem poli­ti­schen Profil und junger Geschichte ein­her­ge­hen. Sie fürch­ten – mit Bezug auf ein post­so­wje­ti­sches oder ther­mi­do­ria­ni­sches Ent­wick­lungs­mo­dell – eine poli­ti­sche Regres­sion in der Ukraine, die der Trans­mu­ta­tion etli­cher anderer ehe­ma­li­ger Sowjet­re­pu­bli­ken folgen würde.

Auto­ri­täre Unter­drü­ckung ist in etli­chen dieser Staaten, von Belarus bis Kasach­stan, eher die Regel als die Aus­nahme. Viele in Kyjiw und der ukrai­ni­schen Dia­spora im Westen treibt daher die Sorge um, dass eine Art ther­mi­do­ria­ni­sche Reak­tion unter Selen­skyj die meisten Fort­schritte der Euro­mai­dan-Revo­lu­tion von 2013–2014 und der Prä­si­dent­schaft Petro Poro­schen­kos rück­gän­gig machen könnte. Die Ukraine läuft demnach Gefahr, sich in eine typisch post­so­wje­ti­sche Dik­ta­tur oder zu einem Satel­li­ten­staat Russ­lands – oder in beides – zu entwickeln.

Eine wohl­wol­len­dere Inter­pre­ta­tion dagegen betrach­tet die neue poli­ti­sche Land­schaft der Ukraine 2019 im Kontext eines modi­fi­zier­ten West­mins­ter-Modells bezie­hungs­weise als eine Art Pen­del­de­mo­kra­tie mit einer Der-Sieger-bekommt-alles-Logik. Für diese Kon­zi­pie­rung demo­kra­ti­scher Herr­schaft ist die Balance und Teilung von Gewalt zweit­ran­gig. Beim West­mins­ter-Modell geht es – anders als in der Bun­des­re­pu­blik mit ihrer fak­tisch per­ma­nen­ten Großen Koali­tion sowie zahl­rei­chen Veto­spie­lern und Mit­re­gen­ten – eher um klare poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung der Ent­schei­dungs­trä­ger. Nicht inter­frak­tio­nelle Koope­ra­tion sondern eine scharfe Rol­len­tren­nung zwi­schen der regie­ren­den Partei einer­seits und den Oppo­si­ti­ons­par­teien ande­rer­seits ist demnach für ein Funk­tio­nie­ren demo­kra­ti­scher Kon­trolle notwendig.

Durch das Wahl­er­geb­nis in der Ukraine ist nun die gesamte Exe­ku­tive und der Groß­teil der legis­la­ti­ven Macht in den Händen einer ein­zi­gen poli­ti­schen Kraft mit ihrem hoch­po­pu­lä­ren Anfüh­rer kon­zen­triert. Die vor­herr­schende Partei Diener des Volkes verfügt ledig­lich (noch) nicht über die für Ver­fas­sungs­än­de­run­gen nötige Zwei­drit­tel­mehr­heit im Par­la­ment. Eine Ände­rung des ukrai­ni­schen Grund­ge­set­zes erfor­dert derzeit die Unter­stüt­zung durch etliche Abge­ord­nete, die nicht der Partei von Selen­skyj angehören.

Eine solche, für die Ukraine gänz­lich neue Situa­tion birgt große Chancen und Risiken. Die weit­ge­hende Hege­mo­nie von Selen­skyjs Partei in der Exe­ku­tive und Legis­la­tive gibt dem neuen Prä­si­den­ten in den fol­gen­den Jahren etliche Instru­mente in die Hand, um seine Ideen schnell umzu­set­zen – was auch immer diese sind. Damit liegt jedoch auch die Ver­ant­wor­tung für die künf­ti­gen Erfolge und Rück­schläge zen­tra­ler Politik voll und ganz in seinen und den Händen seiner Gefolgs­leute – eine Situa­tion mit Par­al­le­len zur einst typi­schen Geschäfts­lage nach einer Wahl des House of Commons im Ver­ei­nig­ten Königreich.

Die größte Her­aus­for­de­rung für Selenskyj

Im Gegen­satz zur pro­to­ty­pi­schen Kon­stel­la­tion in Groß­bri­tan­nien besteht aller­dings Selen­skyjs abso­lute Mehr­heit im Par­la­ment und der Stab seiner Mit­ar­bei­ter in der Exe­ku­tive zu großen Teilen aus Per­so­nen ohne Erfah­rung in hohen Staats­äm­tern. Diese Beson­der­heit mul­ti­pli­ziert das Problem von Selen­skyjs eigener feh­len­der Erfah­rung in der großen Politik, öffent­li­chen Ver­wal­tung und inter­na­tio­na­len Arena. Die Neu­linge im Par­la­ment und den Minis­te­rien werden sich zudem in einem unter­in­sti­tu­tio­na­li­sier­ten und hoch­kor­rum­pier­ten poli­ti­schen Habitat bewegen. Sie müssen Ent­schei­dun­gen in einem bislang, milde gesagt, lücken­haf­ten Rechts­staat treffen und umset­zen. Sie werden vor vielen poli­ti­schen und per­sön­li­chen Her­aus­for­de­run­gen stehen, auf die sie womög­lich nicht vor­be­rei­tet sind, dar­un­ter ver­füh­re­ri­sche finan­zi­elle Ange­bote der berüch­tig­ten Oligarchen.

Vor diesem Hin­ter­grund ist die wich­tigste Frage zur Prä­si­dent­schaft Selen­skyjs in den kom­men­den Jahren weniger, ob die Ukraine wieder auto­ri­tär wird und/​oder unter die Kon­trolle Moskaus gerät, wovor einige Kom­men­ta­to­ren warnen. Es stellt sich eher die Schlüs­sel­frage, ob die soge­nannte „habi­tu­elle Eli­ten­kon­ti­nui­tät“ in der Ukraine – einst vom deut­schen Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Ingmar Bredies als eine der größten Her­aus­for­de­run­gen ukrai­ni­scher Innen­po­li­tik iden­ti­fi­ziert – sich fort­set­zen wird oder nicht. In der Ukraine kam es nicht nur in Folge der dies­jäh­ri­gen Wahlen zu tief­grei­fen­dem Wech­seln beim Per­so­nal­be­stand der poli­ti­schen und Ver­wal­tungs­elite. Schon früher gab es hohe Fluk­tua­tion in öffent­li­chen Ämtern nach natio­na­len Wahlen oder nach den Auf­stän­den von 1990, 2004 und 2014, d.h. den Revo­lu­tio­nen auf dem Granit, in Orange oder der Würde. Trotz des weit­rei­chen­den Aus­tauschs von Ent­schei­dungs­trä­gern in den oberen Riegen poli­ti­scher Macht hat sich jedoch das Ver­hal­ten der ukrai­ni­schen Elite in den letzten 30 Jahren nur gering verändert.

Statt­des­sen gab es eine hohe Kon­ti­nui­tät im Habitus der Eliten im ukrai­ni­schen Par­la­ment und anderen Insti­tu­tio­nen – so auch im Ver­hal­ten der Abge­ord­ne­ten der Wer­chowna Rada. Es gibt eine erstaun­lich kon­stante Neigung dazu, infor­melle Tauschme­cha­nis­men anzu­wen­den, Schmier­gel­der anzu­neh­men, Vet­tern­wirt­schaft zu betrei­ben, geheime Deals aus­zu­han­deln und Kli­en­te­lis­mus zu frönen. Zwar exis­tie­ren solche Pro­bleme heute auch in weit älteren Staaten und selbst in den fort­schritt­lichs­ten demo­kra­ti­schen Sys­te­men – so auch in der Bun­des­re­pu­blik (erin­nert sei etwa an eine der letzten Amts­hand­lun­gen Bun­des­kanz­ler Schrö­ders zur Finan­zie­rung der Nord Stream-Pro­jek­tes, dessen Auf­sichts­rats­vor­sitz er nach seinem Rück­tritt vom Regie­rungs­amt über­nahm). Aller­dings sind sie in der Ukraine seit 1991, wenn nicht schon früher, wie auch in den meisten anderen post­so­wje­ti­schen Staaten, wesent­lich akuter als im Westen.

Die wohl wich­tigste Fra­ge­stel­lung ist daher, ob der Durch­marsch von Selen­skyj und seiner Partei diese poli­ti­schen Ver­hal­tens­mus­ter endlich durch­bre­chen kann. Wird die seit fast drei Jahr­zehn­ten andau­ernde habi­tu­elle Eli­ten­kon­ti­nui­tät der Ukraine mit der neu­er­li­chen Rota­tion in ihrer poli­ti­schen Klasse 2019 schließ­lich beendet? Oder werden Pri­vat­in­ter­es­sen wieder die Ober­hand im poli­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zess errin­gen, wie das auch schon zuvor nach dem Aus­tausch von Abge­ord­ne­ten und Minis­tern wie­der­holt gesche­hen war? Mit welchen Mitteln kann ein nach­hal­ti­ger Bruch patho­lo­gi­scher Ver­hal­tens­mus­ter in der poli­ti­schen Klasse der Ukraine erreicht bezie­hungs­weise die weit­rei­chende per­so­nelle Ver­än­de­rung in Par­la­ment und Regie­rung in eine sub­stan­ti­elle poli­ti­sche Trans­for­ma­tion umge­münzt werden?

Abge­ord­ne­ten­diä­ten, Lokal­ver­wal­tun­gen, Geschlechtergleichheit

Zual­ler­erst müssen die neuen Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ten Diäten erhal­ten, durch die eine Annahme von Schmier­gel­dern für sie mora­lisch ver­werf­li­cher wird als dies aktuell der Fall ist. Mitte 2019 ver­dien­ten ukrai­ni­sche Par­la­men­ta­rier pro Monat rund 28.000 Hrywnja oder circa 1.000 US-Dollar. Darüber hinaus erhal­ten sie ver­schie­dene Pri­vi­le­gien und Kom­pen­sa­tio­nen, die ihre mate­ri­elle Situa­tion ver­bes­sern. Mit dieser Kom­bi­na­tion mone­tä­rer und nicht­mo­ne­tä­rer Ver­gü­tun­gen stehen die Abge­ord­ne­ten der Wer­chowna Rada inner­halb des gesamtukrai­ni­schen sozio­öko­no­mi­schen Umfelds relativ gut da.

Aller­dings sind die Lebens­hal­tungs­kos­ten in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt Kyjiw, wo die Abge­ord­ne­ten den Groß­teil ihrer Zeit ver­brin­gen (sollen), wesent­lich höher als im Rest des Landes. In Kyjiw herr­schen eigene Lohn‑, Dienst­leis­tungs- sowie Preis­ska­len. Die der­zei­tige Ver­gü­tung für Abge­ord­nete erlaubt es zwar womög­lich einem allein­ste­hen­den Poli­ti­ker ohne größere fami­liäre Ver­pflich­tun­gen über die Runden zu kommen. Für Abge­ord­nete mit finan­zi­el­len Ver­pflich­tun­gen gegen­über Gatten, Kindern, Eltern oder anderen Ange­hö­ri­gen ist es jedoch schwie­rig, in Kyjiw aus­schließ­lich von den der­zei­ti­gen Diäten zu leben.

Selbst für Volks­ver­tre­ter ohne größere fami­liäre Ver­pflich­tun­gen ist das der­zei­tige Ver­gü­tungs­sys­tem dys­funk­tio­nal. Im besten Falle halten Abge­ord­nete ihr Geld zusam­men und rechnen jeden Monat ihre Aus­ga­ben für Lebens­mit­tel, Trans­port, Klei­dung usw. durch. Im schlimms­ten Falle sehen es Abge­ord­nete als ethisch gerecht­fer­tigt an, Gelder anzu­neh­men, um in Kyjiw jene Restau­rants, Taxis oder andere Dienst­leis­tun­gen zu bean­spru­chen, die auch ihre Gesprächs­part­ner in Wirt­schafts­un­ter­neh­men, inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen oder aus­län­di­schen Bot­schaf­ten nutzen.

Um diese Situa­tion zu über­win­den, könnte die Ukraine – unter Bezug­nahme auf ihr Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der EU – die in Brüssel gel­tende Formel für die Bezüge der Abge­ord­ne­ten des Euro­päi­schen Par­la­ments über­neh­men. Diese ver­die­nen rund ein Drittel dessen, was die Richter des Euro­päi­schen Gerichts­ho­fes erhal­ten. Seit einiger Zeit erhal­ten auch die höchs­ten Richter der Ukraine im Lan­des­ver­gleich überaus groß­zü­gige Gehäl­ter (wobei sie, in abso­lu­ten Zahlen gesehen, nicht die Höhe der Ver­gü­tung von EU-Rich­tern erreichen).

Würden die Mit­glie­der der Wer­chowna Rada rund ein Drittel dessen ver­die­nen, was die höchs­ten ukrai­ni­schen Richter erhal­ten, ent­sprä­che dies nicht nur in etwa der der­zei­ti­gen Rege­lung inner­halb der EU. Die Diäten der Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ten würden deut­lich steigen und damit sich auch ihr Umgang mit west­li­chen Diplo­ma­ten, ukrai­ni­schen Geschäfts­leu­ten und aus­län­di­schen Poli­ti­kern in Kyjiw ent­span­nen. Eine solche Ent­schei­dung würde es auch recht­fer­ti­gen, die der­zei­tige Immu­ni­tät der Abge­ord­ne­ten auf­zu­he­ben sowie die Strafen für die Annahme von Bestechungs­gel­dern sowie für anderes Fehl­ver­hal­ten der neuen ukrai­ni­schen Abge­ord­ne­ten deut­lich zu verschärfen.

Zwei­tens: In den ersten Wochen nach Selen­skyjs Wahl­tri­umph äußer­ten einige Mit­glie­der seines Teams, das man 2019 nicht nur vor­zei­tige Par­la­ments­wah­len, sondern auch vor­ge­zo­gene Regio­nal- und Kom­mu­nal­wah­len (die regulär erst im Oktober 2020 anste­hen) abhal­ten müsse. Die Vor­stel­lung, dass eine tief­grei­fende Ver­än­de­rung in der öffent­li­chen Ver­wal­tung auch einen schnel­len Aus­tausch der lokalen und Bezirks­e­li­ten erfor­dert, ist nur logisch. Viele der­zei­tige kom­mu­nale und regio­nale Abge­ord­nete und Ver­wal­tungs­an­ge­stellte sind korrupt.

Damit Wahlen in den Oblas­ten und auf Dorf- bezie­hungs­weise Stadt­ebene zu nach­hal­ti­gen Ver­än­de­run­gen führen, müssten zunächst Ver­bes­se­run­gen bei der Durch­set­zung von Rechts­staat­lich­keit im Zentrum erfol­gen. Neue Teams müssten sich etwa in den Straf­ver­fol­gungs­or­ga­nen wie der Gene­ral­staats­an­walt­schaft und ins­be­son­dere in den Anti­kor­rup­ti­ons­or­ga­nen ein­ar­bei­ten sowie auf die Kon­trolle des Ver­laufs der Wahl­pro­zesse in den Regio­nen einstellen.

Zudem müssten die Rollen, Funk­tio­nen und Ver­gü­tun­gen von Beamten und Abge­ord­ne­ten in Oblas­ten, Rajons und Gemein­den modi­fi­ziert werden. Das Ein­kom­men der meisten Bür­ger­meis­ter bei­spiels­weise ist bislang gering. Mit­glie­der von Stadt­rä­ten erhal­ten keine Auf­wands­ent­schä­di­gung für ihre Arbeits­zeit. Wie auch auf natio­na­ler Ebene führen solche Rah­men­be­din­gun­gen unwei­ger­lich zu Kor­rup­tion und Vet­tern­wirt­schaft – unab­hän­gig von mög­li­cher­weise lobens­wer­ten anfäng­li­chen Motiven der Bürger, die öffent­li­che Ämter in ihren Kom­mu­nen und Regio­nen über­neh­men. Neu­wah­len an sich werden diese Situa­tion nicht ändern.

Last but not least leiden viele ukrai­ni­sche Insti­tu­tio­nen – ins­be­son­dere, wenn es um Spit­zen­pos­ten geht – unter einem starken Ungleich­ge­wicht der Geschlech­ter. Das ist nicht nur unge­recht ange­sichts der Tat­sa­che, dass über 50 % der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung Frauen sind. For­schungs­er­geb­nisse aus den Ver­wal­tungs- und Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten zeigen, dass Füh­rungs­kol­lek­tive, egal ob öffent­li­che oder private, besser funk­tio­nie­ren, wenn min­des­tens ein Drittel ihrer Mit­glie­der Frauen sind (eine Quote, die frei­lich auch in oberen Etagen vieler west­li­cher Insti­tu­tio­nen noch nicht erreicht ist). Mehr Frauen in Regie­rungs- und anderer Lei­tungs­ver­ant­wor­tung bedeu­ten nicht nur mehr Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit, sondern auch höhere Effi­zi­enz von Minis­te­rien, Par­la­men­ten, Ämtern oder Parteien.

Die Zusam­men­set­zung der Rada hat sich dies­be­züg­lich im Ergeb­nis der letzten Wahl zwar zum Posi­ti­ven ver­än­dert. Aller­dings ist der Anteil von weib­li­chen Abge­ord­ne­ten im Obers­ten Rat nur von 12 % auf 19 % gestie­gen. Darüber hinaus werden fast alle Par­la­ments­par­teien von Männern gelei­tet. Selen­skyj selbst ist ein Mann, und für seine ersten Ernen­nun­gen auf hohe Posten hat er bislang nur Männer gewählt, so zum Bei­spiel den Vor­sit­zen­den des Prä­si­den­ten­bü­ros Andriy Bohdan oder den Sekre­tär des Natio­na­len Sicher­heits- und Ver­tei­di­gungs­ra­tes Olek­sandr Danyljuk.

Ange­sichts dieser Umstände gibt es gute Gründe, die Anzahl von Frauen in bisher unbe­setz­ten Füh­rungs­po­si­tio­nen radikal zu erhöhen, egal ob in der Exe­ku­tive, Legis­la­tive oder Judi­ka­tive der Regie­rung. Unter den bereits ver­ge­be­nen Posten domi­nie­ren bisher klar Männer. Das betrifft Par­la­ments­sitze, Minis­ter­äm­ter, Dienst­stel­len­lei­tun­gen ebenso wie füh­rende Parteiposten.

Es würde daher Sinn machen, für einen Über­gangs­zeit­raum haupt­säch­lich Frauen auf Spit­zen­pos­ten zu berufen. Nur so ergäbe sich noch eine Chance, den oben genann­ten emp­foh­le­nen Frau­en­an­teil von min­des­tens einem Drittel unter den ukrai­ni­schen Ent­schei­dungs­trä­gern in den ver­schie­de­nen rele­van­ten Insti­tu­tio­nen zu errei­chen. Ange­sichts der hohen Zahl von gut aus­ge­bil­de­ten und kar­rie­re­ori­en­tier­ten Frauen in der Ukraine sollte das kein Problem sein.

Die Wurzeln der post­so­wje­ti­schen Pro­bleme angehen

Der sich gerade voll­zie­hende tiefe Wandel in der ukrai­ni­schen poli­ti­schen Klasse in diesem schick­sal­haf­ten Jahr könnte sich als trü­ge­risch her­aus­stel­len, wenn die Ukraine ihre habi­tu­elle Eli­ten­kon­ti­nui­tät letzt­lich bei­be­hält. Selen­skyjs beein­dru­ckende Wahl­er­folge in den letzten Monaten könnten ihn und sein Team dazu ver­lei­ten, sich ganz auf Refor­men in diesem oder jenem Bereich der Wirt­schaft, Außen­po­li­tik, Kultur usw. zu kon­zen­trie­ren. Man sollte jedoch nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen.

Zahl­rei­che neue Gesetze, Beschlüsse und Richt­li­nien müssen beschlos­sen und umge­setzt werden, um das Leben der Ukrai­ne­rIn­nen zu ver­bes­sern. Doch die ver­ant­wort­li­chen gesetz­ge­ben­den, aus­füh­ren­den und kon­trol­lie­ren­den Organe für das Erar­bei­ten, Treffen und Imple­men­tie­ren dieser Ent­schei­dun­gen in Kyjiw und vor Ort leiden an tiefen struk­tu­rel­len Pro­ble­men hin­sicht­lich der Zusam­men­set­zung und Bezah­lung ihres Per­so­nals. Solange sich das nicht grund­le­gend ändert, werden die Ergeb­nisse der Refor­men in der Ukraine ähnlich man­gel­haft sein wie bisher.

Sollte sich Selen­skyj resolut diesen spe­zi­fisch post­so­wje­ti­schen Pro­ble­men der Ukraine widmen, kann er damit auch ein Vorbild für andere ehe­ma­lige Staaten des Ost­blocks liefern. Viele post­kom­mu­nis­ti­sche Staaten hinken bei­spiels­weise in puncto Geschlech­ter­pa­ri­tät in staat­li­chen und nicht­staat­li­chen Insti­tu­tio­nen den west­li­chen Ländern (teils weit) hin­ter­her. Ein tief­grei­fen­der Wandel bei der Zusam­men­set­zung und der Funk­ti­ons­weise der poli­ti­schen Klasse eines so großen Landes wie der Ukraine könnte – im Gegen­satz zu frü­he­ren Fort­schrit­ten etwa in den drei kleinen bal­ti­schen Staaten – von Poli­ti­kern und Intel­lek­tu­el­len in den Nach­fol­ge­staa­ten der Sowjet­union nicht einfach igno­riert werden. West­li­che Bot­schaf­ten und Geld­ge­ber sollten darauf bestehen, dass die mit den Wahlen begon­nene Trans­for­ma­tion der Zusam­men­set­zung, Struk­tur und Arbeits­weise der poli­ti­schen und Beam­ten­klasse der Ukraine kon­se­quent zu Ende geführt wird.

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