Ukraine: Wie ist die wirt­schaft­li­che Lage unter Kriegsbedingungen?

Foto: Imago

Russ­lands Angriffs­krieg stellt die Wirt­schaft der Ukraine vor große Pro­bleme: Aus­ga­ben für Sicher­heit und Ver­tei­di­gung machen 50 Prozent des Haus­halts aus, gleich­zei­tig sank das Brut­to­in­lands­pro­dukt um 30 Prozent. Olek­san­dra Betliy über die wirt­schaft­li­che Lage des Landes und finan­zi­elle Unter­stüt­zung aus dem Ausland.

Seit dem Beginn Russ­lands umfas­sen­der Inva­sion wurden mehr als 25 Prozent der Ukrai­ner arbeits­los  und ver­lo­ren damit ihr Ein­kom­men. Die Armuts­quote stieg Schät­zun­gen der Welt­bank zufolge auf über 20 Prozent. Über acht Mil­lio­nen Ukrai­ner  mussten ihr Land ver­las­sen, fast sechs Mil­lio­nen Men­schen wurden inner­halb des Landes vertrieben.

Finan­zie­rung der Sozialausgaben

Um die Abwan­de­rung der Bürger und ein wei­te­res Wachsen der Armut zu ver­hin­dern, machte die ukrai­ni­sche Regie­rung die Finan­zie­rung der Sozi­al­aus­ga­ben zu einer ihrer Prio­ri­tä­ten, gleich hinter der Finan­zie­rung der Ver­tei­di­gungs- und Sicherheitsausgaben.

Das ist ange­sichts der ange­spann­ten Haus­halts­lage eine Her­aus­for­de­rung: Die Wirt­schafts­tä­tig­keit ging wegen des Krieges zurück , die Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben nahmen stark zu. Die Aus­ga­ben für Ver­tei­di­gung und Sicher­heit machten zusam­men mehr als 50 Prozent des kon­so­li­dier­ten Haus­halts aus. Sie wurden durch Steu­er­ein­nah­men und Kre­dit­auf­nah­men im Inland – ein­schließ­lich des direk­ten Ankaufs von Staats­an­lei­hen durch die Natio­nal­bank der Ukraine – finanziert.

Inter­na­tio­nale Finanzhilfe

Die inter­na­tio­nale Finanz­hilfe ermög­lichte es der ukrai­ni­schen Regie­rung, die Sozi­al­aus­ga­ben und die Aus­ga­ben für Bil­dungs- und Gesund­heits­we­sen zu finan­zie­ren. Die Ukraine erhielt von ihren inter­na­tio­na­len Part­nern im Jahr 2022 knapp 18 Mil­li­ar­den US-Dollar  in Form von zins­güns­ti­gen Dar­le­hen und gut 14 Mil­li­ar­den US-Dollar in Form von Zuschüs­sen – die mili­tä­ri­sche und huma­ni­täre Unter­stüt­zung ist dabei nicht berücksichtigt.

Dank dieser Unter­stüt­zung konnte die ukrai­ni­sche Regie­rung die Zah­lun­gen an die zahl­rei­chen Bin­nen­ver­trie­be­nen erhöhen. Außer­dem wurden Renten an knapp 11 Mil­lio­nen Rentner gezahlt, was für die Siche­rung des Lebens­un­ter­hal­tes dieser Men­schen von ent­schei­den­der Bedeu­tung war. Die Regie­rung setzte auch die bedarfs­ab­hän­gige soziale Unter­stüt­zung fort: Bar­geld­zu­schüsse für Fami­lien mit nied­ri­gen Ein­kom­men (wenn auch nach wie vor nur in gerin­ger Höhe) und Wohn- und Ver­sor­gungs­un­ter­neh­mens­zu­schüsse. Dennoch sank die Kauf­kraft der Ukrai­ner im Jahr 2022 wegen der nied­ri­ge­ren Lohn­ein­kom­men und der hohen Infla­ti­ons­rate (26,6 Prozent im Dezem­ber 2022).

Brut­to­in­lands­pro­dukt sinkt in allen Wirtschaftssektoren

Das „Insti­tute for Eco­no­mic Rese­arch and Policy Con­sul­ting“ (IER)  schätzt den Rück­gang des realen Brut­to­in­lands­pro­dukts im Jahr 2022 auf ins­ge­samt etwa 30 Prozent, wobei alle Wirt­schafts­sek­to­ren betrof­fen waren. Am stärks­ten litt die Metall­in­dus­trie. Sie war mit vielen Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert: Beschä­di­gung meh­re­rer großer Unter­neh­men des Sektors, für Exporte geschlos­sene See­hä­fen, teurere und lang­wie­ri­gere Logis­tik und ein­ge­schränkte Nach­frage. Aus ähn­li­chen Gründen ist auch die Eisen­erz­för­de­rung stark zurückgegangen.

Gesperrte See­hä­fen

Die schwie­rige Logis­tik war und ist ein großes Problem für viele export­ori­en­tierte Sek­to­ren. Das im Juli 2022 aus­ge­han­delte Getrei­de­ab­kom­men trug dazu bei, die Ausfuhr von Getreide und Son­nen­blu­menöl zu stei­gern – aller­dings nur über drei See­hä­fen in Odesa. Die Ausfuhr anderer Waren über See­hä­fen ist nicht erlaubt. Deshalb bil­de­ten sich an den ukrai­ni­schen Grenzen zu anderen Ländern während des gesam­ten Jahres 2022 Schlan­gen von Last­wa­gen und Eisen­bahn­wag­gons. Die Logis­tik­kos­ten für die Expor­teure nahmen dadurch deut­lich zu.

Große Schwie­rig­kei­ten für den Bausektor

Das hohe Maß an Unsi­cher­heit, die harten staat­li­chen Haus­halts­be­schrän­kun­gen und die gerin­gen finan­zi­el­len Mög­lich­kei­ten der Unter­neh­men und der Bevöl­ke­rung führten zu einem Rück­gang der Bau­tä­tig­keit in Höhe von etwa 70 Prozent. Die Nah­rungs­mit­tel- und Leicht­in­dus­trie waren wider­stands­fä­hi­ger. Letz­tere reagierte sofort auf die erhöhte Nach­frage nach Mili­tär­klei­dung und Ähnlichem.

Angriffe auf die Energieinfrastruktur

Beson­ders beein­träch­tigt war die wirt­schaft­li­che Lage durch rus­si­sche Raketen- und Droh­nen­an­griffe auf die ukrai­ni­sche Ener­gie­infra­struk­tur im vierten Quartal 2022. In der letzten Novem­ber­wo­che kam es in der gesam­ten Ukraine zu Strom­aus­fäl­len, im Dezem­ber nach rus­si­schen Angrif­fen in der Region Odesa und in der Stadt Kyjiw. Leider sind die Strom­aus­fälle zu einem festen Bestand­teil des Lebens von Bevöl­ke­rung und Unter­neh­men gewor­den. Das Strom­de­fi­zit wird auf 15 bis 20 Prozent des Bedarfs geschätzt.

Laut der monat­li­chen IER-Unter­neh­mens­be­fra­gung waren Pro­bleme mit dem Zugang zu Strom das größte Hin­der­nis für die Geschäfts­tä­tig­keit im Novem­ber und Dezem­ber. Viele Unter­neh­men haben sich jedoch recht schnell an die Strom­aus­fälle ange­passt. Aus der Befra­gung gehen auch die am wei­tes­ten ver­brei­te­ten Lösungs­an­sätze hervor: Die Unter­neh­men bewäl­ti­gen die Strom­aus­fälle mit dem Einsatz von Brenn­stoff­ge­ne­ra­to­ren und Bat­te­rien sowie mit der Ände­rung von Arbeits­plä­nen. Auch viele Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner nutzten diese Stra­te­gien. Einige waren jedoch gezwun­gen, für den Winter ins Ausland zu gehen. Der Einsatz von Gene­ra­to­ren führte im Dezem­ber zu einem Anstieg der Brenn­stoff­ein­fuh­ren um 20 bis 30 Prozent. Die ukrai­ni­schen Ölraf­fi­ne­rien und die meisten großen Brenn­stoff­la­ger waren bereits im Früh­jahr 2022 von den rus­si­schen Streit­kräf­ten zer­stört worden.

Grafik: Ent­wick­lung des realen Brut­to­in­lands­pro­dukts in der Ukraine zwi­schen 2014 und 2022

Quelle: Ukrstat, 2022E: Schät­zung des „Insti­tute of Eco­no­mic Rese­arch and Policy Con­sul­ting“ (IER)

Effi­zi­ente Arbeit der ukrai­ni­schen Regierung

Trotz­dem gab es auch Posi­ti­ves zu ver­mer­ken. Die ukrai­ni­sche Regie­rung setzte ihren vor dem Krieg auf­ge­nom­me­nen Kurs fort: Die Ukraine hatte jah­re­lang eine Politik ver­folgt, die ein solides Finanz­sys­tem, eine gute Ver­wal­tung der öffent­li­chen Finan­zen und eine nach­hal­tige Ver­schul­dungs­si­tua­tion unter­stützte – was auch zu effek­ti­ve­ren und wider­stands­fä­hi­gen Insti­tu­tio­nen führte.

Trotz des Krieges arbei­tete die ukrai­ni­sche Regie­rung wir­kungs­voll und effi­zi­ent weiter. Sie führte auch pro­gres­sive Neue­run­gen ein, wie bei­spiels­weise weitere öffent­li­che Online­dienst­leis­tun­gen (Online­re­gis­trie­rung für Bin­nen­ver­trie­bene und Arbeits­lose). Auch die ukrai­ni­sche Wirt­schaft und Bevöl­ke­rung arbei­te­ten im Rahmen des Mög­li­chen weiter und zahlten Steuern, was der Regie­rung die Finan­zie­rung der Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben ermöglichte.

Fort­set­zung der Refor­men für den EU-Beitritt

Positiv zu ver­mer­ken ist außer­dem, dass der Ukraine im Juni 2022 der EU-Kan­di­da­ten­sta­tus zuer­kannt wurde . Dies war eine Aner­ken­nung des rich­ti­gen Weges der Refor­men, der nach 2014 ein­ge­schla­gen worden war, als die Ukraine und die EU das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men unter­zeich­ne­tet hatten.

Derzeit ver­sucht die Ukraine, die sieben Bedin­gun­gen zu erfül­len , die in der Stel­lung­nahme der Euro­päi­schen Kom­mis­sion zum EU-Bei­tritts­an­trag der Ukraine auf­ge­führt sind. Die Erfül­lung dieser Bedin­gun­gen würde der Ukraine helfen, das Inves­ti­ti­ons­klima im Land zu ver­bes­sern, was für den Zufluss von Inves­ti­tio­nen uner­läss­lich ist. Dies ist auch ange­sichts der hohen Kosten für den Wie­der­auf­bau wichtig: Die Welt­bank bezif­ferte in ihren Schät­zun­gen vom Juni den Finanz­be­darf auf über 300 Mil­li­ar­den US-Dollar.

Die Ukraine benö­tigt drin­gend noch mehr mili­tä­ri­sche und finan­zi­elle Unter­stüt­zung von allen inter­na­tio­na­len Part­nern, um Russ­lands bru­ta­len Krieg zu beenden und alle ukrai­ni­schen Gebiete zu befreien.

Textende

Portrait Betliy

Olek­san­dra Betliy ist seit 2002 Leading rese­arch fellow am “Insti­tute for Eco­no­mic Rese­arch and Policy Con­sul­ting” in Kyjiw.

 

 

 

 

 

 

 

 

Geför­dert durch:

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.