Warum die Lage in der Ostukraine wieder eskaliert
In den letzten Wochen haben die Kämpfe im Donbas wieder zugenommen und kosteten zuletzt einer 15-jährigen das Leben. Was steckt hinter der neuerlichen Eskalation?
Zyklen der Gewalt im Osten der Ukraine sind leider nichts Neues. Immer wieder schaukeln sich Gefechte zu Artillerieduellen und Maschinengewehrsalven zu Raketengefechten hoch. Die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung steigen, und beide Seite beschuldigen sich gegenseitig, während die OSZE und andere internationale Akteure zur Besonnenheit aufrufen.
Bei der jüngsten Gewaltspirale gibt es allerdings einige neue Faktoren. Deren Folgen sind schwer abschätzbar.
Begonnen hat es Anfang Mai. Die Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verzeichnete in den ersten beiden Wochen des Monats 10.900 Waffenstillstandsverletzungen – 20 Prozent mehr als in den letzten beiden Aprilwochen. In der folgenden Woche zählten die internationalen Beobachter 7.700 Schüsse und Explosionen – die höchste Zahl seit Jahresbeginn.
Der stellvertretende Missionschef Alexander Hug wies außerdem in einem am 24. Mai veröffentlichten Interview darauf hin, dass auf beiden Seiten die Zahl der eingesetzten schweren Waffen steigt. Die Zahl der zivilen Opfer im Monat Mai ist noch nicht absehbar, sie dürfte aber kaum niedriger sein als im April, als nach UN-Zählung 13 Zivilisten getötet und 33 verletzt wurden. Erst vorige Woche verlor ein 15-jähriges Mädchen ihr Leben, als eine Granate im Hof ihres Wohnhauses explodierte.
Vor allem in der Nähe von Horliwka wird gekämpft
Geschossen wird vor allem im Raum Horliwka, nordöstlich von Donezk. Dort rückten ukrainische Regierungstruppen am 10. Mai in eine winzige Siedlung ein, die bislang in der sogenannten Grauzone zwischen den vordersten Stellungen beider Seiten lag. Tschyhari ist eine Ansammlung kleiner Häuser in einer von Schlackehügeln umgeben Niederung. Der strategische Wert dieser Siedlung unmittelbar am westlichen Stadtrand von Horliwka ist zweifelhaft, da die Schlackehügel nördlich und östlich weiter von den Separatisten gehalten werden, wie eine detaillierte Analyse des US-Projekts Digital Forensic Research Lab zeigt.
Dennoch haben sich die Regierungstruppen bislang dort gehalten, ohne das nennenswerte Verluste bekannt wurden. Im der Folge spekulierten ukrainische, aber auch russische Medien, dass die ukrainischen Verbände den Ring um Horliwka enger ziehen, um die seit 2014 von den Separatisten kontrollierte Stadt kampflos einzunehmen.
Bislang gibt es jedoch keinerlei Anzeichen dafür, dass die Ukrainer die im Vertrag von Minsk vereinbarte „Kontaktlinie“ zwischen ihnen und den von Russland kontrollierten Separatisten überschritten haben oder vorhaben, das zu tun.
Vielmehr entspricht das Vorrücken in Tschyhari der bisherigen Strategie der Kiewer Militärs, nach und nach Siedlungen in der „Grauzone“ zu besetzen. So halten sich Regierungssoldaten seit Anfang Februar in Kateryinwka im Gebiet Luhansk auf, bereits im November rückten sie in Hladosowe und Trawnewe nördlich von Horliwka ein.
Zivile Objekte werden vom Militär zweckentfremdet
Auf nennenswerten Widerstand stießen sie dabei nicht. Die Verbände der Separatisten beschränkten sich meist darauf, den Gegner mit Artillerie und Mörsern zu beschießen, ohne selbst die Kontaktlinie zu verletzen. Dabei werden leider immer wieder Zivilisten getroffen, vor allem weil beide Seiten gern zivile Objekte wie Schulen und Krankenhäuser für militärische Zwecke verwenden.
Die Frage ist natürlich, ob und wann die gegenwärtige Verschlechterung gestoppt werden kann. In der Vergangenheit haben politischer Druck und diplomatische Verhandlungen immer wieder zu kurzzeitigen Waffenstillständen geführt, zuletzt über Ostern.
Möglicherweise wird das diesmal schwieriger.
Donbass-Reintegrationsgesetz und neue Waffen ändern die Spielregeln
Auf ukrainischer Seite gelten seit 1. Mai neue Spielregeln. Mit diesem Datum trat das umstrittene Donbass-Reintegrationsgesetz in Kraft. Dadurch ging das Kommando der bisherigen „Antiterror-Operation“ vom Inlandsgeheimdienst SBU and die Streitkräfte über, die nun eine „Operation der Vereinigten Streitkräfte“ mit dem neuen Kommandeur Serhyi Najew befehligen.
Gleichzeitig trafen Anfang Mai die lang erwarteten amerikanischen Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ „Javelin“ bei der ukrainischen Armee ein. Auch wenn unklar ist, wann sie im Donbass eingesetzt werden, dürften ihre Verfügbarkeit sowie die neue Kommandogewalt die Zuversicht des ukrainischen Militärs eher steigern.
Ukrainische Wahlen und die Zukunft von Russlands Ukraine-Beauftragtem als Unsicherheitsfaktor
Eine große Rolle spielt wie immer die Politik. 2019 werden in der Ukraine ein neues Staatsoberhaupt und eine neues Parlament gewählt. Die Zustimmungswerte für Präsident Petro Poroschenko sind Umfragen zufolge derzeit im Keller und es ist nicht ausgeschlossen, dass er noch mehr auf militärische Stärke setzen wird, um dies zu korrigieren.
Denn auf russischer Seite herrscht derzeit tendenziell Verunsicherung. Seit die Moskauer Mediengruppe RBC am 11. Mai berichtete, dass Wladislaw Surkow als Beauftragter des Kremls für die Ostukraine abgelöst werden könnte, ist unklar, in welche Richtung die russische Ukraine-Politik in Präsident Wladimir Putins vierter Amtszeit gehen wird. Am 31. Mai berichtete auch der russische Kommersant über eine mögliche Ablösung Surkows.
Nicht erst seit einem E‑Mail-leak von 2016 wird Surkow nachgesagt, dass er jedes Detail in den separatistischen „Volksrepubliken“ kontrolliert. In dem Bericht von RBC heißt es, er sei angeschlagen, seit sich im November 2017 mit Leonid Pasetschnik ein Mann des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in der „Volksrepublik Luhansk“ gegen Surkows Protegé Igor Plotnizki an die Macht putschte.
Allerdings haben sich die Berichte bislang nicht bestätigt. Während des jüngsten Treffens Putins mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. Mai in Sotschi saß Surkow noch mit am Tisch.
Klar ist auch, dass die ukrainische Seite nicht einseitig handeln kann. Eine gewaltsame Lösung wird es nach Meinung von Experten nur dann geben, wenn sich Kiew sicher ist, dass Russland nicht eingreift. „Eine solche Sicherheit gibt es derzeit nicht,“ sagt Kirill Michailow vom russisch-ukrainischen Analysezentrum Conflict Intelligence Team.
Für die OSZE-Mission ist die Arbeit schwieriger geworden
Und auch für die OSZE-Mission, die eine zentrale Rolle sowohl vor Ort als auch bei den Minsker Friedensverhandlungen spielt, ist die Lage schwieriger geworden. Im Dezember zog Russland seine Offiziere aus dem „Gemeinsamen Zentrum für Kontrolle und Koordination“ (Joint Centre for Control and Co-ordination, JCCC) ab, eine russisch-ukrainische Militärbeobachtermission im Donbas, die eine zentrale Rolle für das Herstellen kurzfristiger lokaler Waffenstillstände spielte.
Der OSZE-Mission, die fast 600 Beobachter aus mehr als 40 Ländern in der Ostukraine stationiert hat, ist es zwar gelungen, Waffenstillstände für wichtige Reparatur- und Wartungsarbeiten – auch ohne das JCCC – zu erzielen. „Die Verantwortung (beider) Seiten bleibt gleich und die Mission verhandelt mit den Seiten direkt, um den Fortbestand ihrer Arbeit zu sichern“, sagte Vizechef Hug in einem im Februar veröffentlichten Interview.
Aber die Herausforderungen sind riesig. So ist vom vielleicht bisher größten Verhandlungserfolg nach Minsk, dem sogenannten Entflechtungsabkommen von 2016, praktisch nichts übrig geblieben: Das Abkommen sah vor, dass beide Seiten an vorerst drei Stellen ihre Truppen und Waffen zwei Kilometer weit von der Kontaktlinie zurückziehen. In Stanyzja Luhanska und Solote (Gebiet Luhansk) ist das nie beziehungsweise nur teilweise gelungen, während in Petriwske (Gebiet Donezk) laut den jüngsten OSZE-Tagesberichten derzeit innerhalb der Entflechtungszone sogar im Gegenteil schwere Waffen aufgefahren und Gräben ausgehoben werden.
Da wiegt es schwer, dass der OSZE ihr bislang größter Wechsel bevorsteht: Der für die operative Führung verantwortliche Vizechef Hug wird die Mission in der zweiten Jahreshälfte verlassen. Wer sein Nachfolger wird, ist noch unbekannt. Was das für den brüchigen Frieden in der Ostukraine bedeuten wird, ebenfalls.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.