Die Lebens­ge­schichte von Wolo­dymyr Koltschinskyj

Marie­luise Beck und Wolo­dymyr Koltsch­in­skyj, Anfang März 2020, © Vale­riya Golovina

Wolo­dymyr Kolt­schin­skyj hat das Mas­sa­ker von Odesa über­lebt. Unsere LibMod-Kol­le­gen trafen ihn im dor­ti­gen Holo­­caust-Museum. Der rüstige 94-Jährige hat für das Gespräch mit LibMod-Mit­­grün­­de­rin Marie­luise Beck ein weißes Jackett mit Kra­watte und unzäh­li­gen Orden ange­zo­gen. Wenn er ges­ti­ku­liert oder sich bewegt, klim­pern die Medail­len an seiner Brust wie ein Glo­cken­spiel. Niko­laus von Twickel fasst seine Lebens­ge­schichte zusammen.

Im Oktober 1941 rettete eine Stra­ßen­bahn Wolo­dymyr Kolt­schin­skyj das Leben. Der damals 16-Jährige entkam damals dem Mas­sa­ker von Odesa, in dem rund 25,000 Men­schen, über­wie­gend Juden, grausam ermor­det wurden, indem er in einen abge­stell­ten Stra­ßen­bahn­wag­gon sprang.

Am 22. Oktober hatten die deut­schen und rumä­ni­schen Besat­zer in der Hafen­stadt am Schwar­zen Meer tau­sende Men­schen im Stadt­zen­trum zusam­men­ge­trie­ben und im Anschluss stun­den­lang durch die Stadt mar­schie­ren lassen. Unter den Opfern waren auch der aus einer jüdi­schen Familie stam­mende Kolt­schin­skyj und seine Mutter. Sein Vater Jakob und sein großer Bruder kämpf­ten in den Reihen der Roten Armee.

Es war ein Todesmarsch. 

Am Morgen des 22. Oktober hatte eine Bombe im rumä­ni­schen Haupt­quar­tier viele Men­schen getötet, dar­un­ter den Stadt­kom­man­dan­ten Ion Glo­go­janu. Die Besat­zer machten Kom­mu­nis­ten und Juden für die Explo­sion ver­ant­wort­lich und befah­len Mas­sen­ver­haf­tun­gen und ‑exe­ku­tio­nen. Juden mussten sich an einer Fabrik im Stadt­zen­trum sammeln. Es waren mehr als 20,000.

 

 

Kolt­schin­skyj erin­nert sich, dass die zen­trale Preo­­bra­­schen­ska-Straße von Galgen mit Erhäng­ten gesäumt war. An den toten Körpern prangte die Auf­schrift „Par­ti­san“. Rumä­ni­sche Sol­da­ten mit Hunden trieben die Massen durch die Straßen, Alte, Frauen und Kinder, wer hinfiel wurde schnell wieder hoch­ge­zerrt. Ziel war ein auf­ge­las­se­nes Muni­ti­ons­de­pot im Süden der Stadt. Kolt­schin­skyj hat die Bilder des schreck­li­chen Tages noch im Kopf. Aber noch mehr, sagt er, habe sich bei ihm das Geräusch der Menge ein­ge­prägt – „es war ein dröh­nen­des Stim­men­ge­wirr“, sagt er.

Mitten in dieser ver­zwei­fel­ten Lage gelang ihm die lebens­ret­tende Flucht.

Immer wieder erin­nert sich der heute 94-Jährige an die letzten Worte seiner Mutter: „Wir werden zum Sterben geführt – aber du, Wolodja, musst am Leben bleiben. Und dann kehrt Papa zurück und du musst ihm alles erzählen.“ 

Im Nach­hin­ein erwies sich das als pro­phe­tisch. „Aber woher sie das wusste, das kann ich Ihnen nicht sagen“, murmelt er. Noch heute kommen Kolt­schin­skyj bei der Erin­ne­rung die Tränen.

„Ich musste einfach etwas tun,“ sagt er. Die ent­schei­dende Chance ergab sich in einer engen Straße: „Da stand eine Stra­ßen­bahn, und die Rumänen waren gezwun­gen auf der anderen Seite zu gehen“. Kurz aus dem Blick­feld der Auf­pas­ser, sprang er in den Waggon und ver­steckte sich unter einer Sitz­bank. „Da blieb ich, bis es dunkel wurde.“

Die anderen 25,000 wurden in die Muni­ti­ons­ba­ra­cken gesperrt, die dann ange­zün­det wurden. Die meisten von ihnen ver­brann­ten bei leben­di­gem Leib. Wer zu fliehen ver­suchte, wurde von MG-Salven und Hand­gra­na­ten getötet. Nachher, erin­nert sich Kolt­schin­skyj, „war in der ganzen Stadt der Geruch von ver­brann­tem Fleisch in der Luft“.

Der 16-Jährige war am Leben geblie­ben, aber für ihn begann die viel­leicht schwerste Zeit seines Lebens. Wo sollte er unter­kom­men? Wer Juden ver­steckte, ris­kierte stand­recht­lich erschos­sen zu werden. „Ich hatte nichts zu essen, nichts zu wohnen.“ Ein Freund, der bul­ga­ri­scher Abstam­mung war, nahm ihn für eine Nacht auf, aber setzte ihn morgens vor die Tür, als seine Eltern kamen.

Geret­tet wurde er von zwei jugend­li­chen Schwes­tern, die mit ihm in eine leer­ste­hende Wohnung zogen und ihm Papiere eines gleich­alt­ri­gen Ver­wand­ten besorg­ten, mit denen Kolt­schin­skyj sich aus­wei­sen konnte.

Als Odessa 1944 befreit wurde, kehrte sein Vater aus einem Laza­rett in Sibi­rien zurück – so wie es seine Mutter vor­her­ge­sagt hatte. 

Der mitt­ler­weile voll­jäh­rige Kolt­schin­skyj begann eine Unter­of­fi­zier­aus­bil­dung in der Roten Armee. Sieben Jahre blieb er Soldat und am Ende, sagt er, musste er sein Leben wieder ganz von vorne beginnen.

Doch vorher nahm Kolt­schin­skyj den letzten Schlach­ten des Welt­kriegs teil. Mit einem sowje­ti­schen Sturm­ba­tail­lon rückte er über die Weich­sel bei War­schau nach Süden an die Oder bei Breslau vor, um dann nach Ausch­witz vor­zu­sto­ßen. „Es wäre unter­trie­ben zu sagen, dass wir vor­ge­rückt sind. Wir sind vor­ge­stürmt und haben dabei alles nie­der­ge­kämpft,“ betont er.

Am 27. Januar 1945 befrei­ten die sowje­ti­schen Truppen Ausch­witz. Von dem berüch­tig­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger sind Kolt­schin­skyj neben den rie­si­gen Gasöfen zur Lei­chen­ver­bren­nung ein Lager­raum im Gedächt­nis geblie­ben, in dem Schuhe, Men­schen­haar und Säcke mit mensch­li­cher Asche säu­ber­lich auf­be­wahrt wurden.

Kolt­schin­skyj räumt ein, dass es einige Zeit dauerte, bis er die Dimen­sion des Ver­bre­chens ver­stand: „Zuerst haben wir nicht geglaubt, dass man so etwas tun würde, um Juden zu ver­nich­ten. Das erschien uns einfach unmenschlich.“

Aber Kolt­schin­skyj hat deshalb nie einen Hass gegen Deutsch­land ent­wi­ckelt. Als er Anfang der 1950er Jahre als sowje­ti­scher Gewerk­schafts­funk­tio­när in die DDR reiste, wurde seine Dele­ga­tion in einer Kita von Vier­jäh­ri­gen auf Knien als „Befreier“ begrüßt. Das war ihm dann zu viel: „Ich nahm die Kin­der­gärt­ne­rin bei­seite und sagte ihr, dass das über­trie­ben sei. Man kann diese Kinder doch nicht für die Fehler ihrer Väter und Groß­vä­ter ver­ant­wort­lich machen“, erin­nert er sich.

Marie­luise Beck und das Zentrum Libe­rale Moderne wollen sich nun dafür ein­set­zen, dass die Stelle, an der 1941 Wolo­dymyr Kolt­schin­skyjs Mutter und 25.000 weitere ermor­det wurden, ein wür­di­ges Antlitz erhält. Siehe: https://libmod.de/ziel-gedenkstaette-odesa/

Textende

Portrait von Nikolaus von ­Twickel

Niko­laus von ­Twickel ist Redak­teur der Web­seite „Russ­land ver­ste­hen“ im Zentrum Libe­rale Moderne. 2015/​16 war er Medi­en­ver­bin­dungs­of­fi­zier für die OSZE-Beob­ach­tungs­mis­sion in Donezk.

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