Die Lebensgeschichte von Wolodymyr Koltschinskyj
Wolodymyr Koltschinskyj hat das Massaker von Odesa überlebt. Unsere LibMod-Kollegen trafen ihn im dortigen Holocaust-Museum. Der rüstige 94-Jährige hat für das Gespräch mit LibMod-Mitgründerin Marieluise Beck ein weißes Jackett mit Krawatte und unzähligen Orden angezogen. Wenn er gestikuliert oder sich bewegt, klimpern die Medaillen an seiner Brust wie ein Glockenspiel. Nikolaus von Twickel fasst seine Lebensgeschichte zusammen.
Im Oktober 1941 rettete eine Straßenbahn Wolodymyr Koltschinskyj das Leben. Der damals 16-Jährige entkam damals dem Massaker von Odesa, in dem rund 25,000 Menschen, überwiegend Juden, grausam ermordet wurden, indem er in einen abgestellten Straßenbahnwaggon sprang.
Am 22. Oktober hatten die deutschen und rumänischen Besatzer in der Hafenstadt am Schwarzen Meer tausende Menschen im Stadtzentrum zusammengetrieben und im Anschluss stundenlang durch die Stadt marschieren lassen. Unter den Opfern waren auch der aus einer jüdischen Familie stammende Koltschinskyj und seine Mutter. Sein Vater Jakob und sein großer Bruder kämpften in den Reihen der Roten Armee.
Es war ein Todesmarsch.
Am Morgen des 22. Oktober hatte eine Bombe im rumänischen Hauptquartier viele Menschen getötet, darunter den Stadtkommandanten Ion Glogojanu. Die Besatzer machten Kommunisten und Juden für die Explosion verantwortlich und befahlen Massenverhaftungen und ‑exekutionen. Juden mussten sich an einer Fabrik im Stadtzentrum sammeln. Es waren mehr als 20,000.
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Koltschinskyj erinnert sich, dass die zentrale Preobraschenska-Straße von Galgen mit Erhängten gesäumt war. An den toten Körpern prangte die Aufschrift „Partisan“. Rumänische Soldaten mit Hunden trieben die Massen durch die Straßen, Alte, Frauen und Kinder, wer hinfiel wurde schnell wieder hochgezerrt. Ziel war ein aufgelassenes Munitionsdepot im Süden der Stadt. Koltschinskyj hat die Bilder des schrecklichen Tages noch im Kopf. Aber noch mehr, sagt er, habe sich bei ihm das Geräusch der Menge eingeprägt – „es war ein dröhnendes Stimmengewirr“, sagt er.
Mitten in dieser verzweifelten Lage gelang ihm die lebensrettende Flucht.
Immer wieder erinnert sich der heute 94-Jährige an die letzten Worte seiner Mutter: „Wir werden zum Sterben geführt – aber du, Wolodja, musst am Leben bleiben. Und dann kehrt Papa zurück und du musst ihm alles erzählen.“
Im Nachhinein erwies sich das als prophetisch. „Aber woher sie das wusste, das kann ich Ihnen nicht sagen“, murmelt er. Noch heute kommen Koltschinskyj bei der Erinnerung die Tränen.
„Ich musste einfach etwas tun,“ sagt er. Die entscheidende Chance ergab sich in einer engen Straße: „Da stand eine Straßenbahn, und die Rumänen waren gezwungen auf der anderen Seite zu gehen“. Kurz aus dem Blickfeld der Aufpasser, sprang er in den Waggon und versteckte sich unter einer Sitzbank. „Da blieb ich, bis es dunkel wurde.“
Die anderen 25,000 wurden in die Munitionsbaracken gesperrt, die dann angezündet wurden. Die meisten von ihnen verbrannten bei lebendigem Leib. Wer zu fliehen versuchte, wurde von MG-Salven und Handgranaten getötet. Nachher, erinnert sich Koltschinskyj, „war in der ganzen Stadt der Geruch von verbranntem Fleisch in der Luft“.
Der 16-Jährige war am Leben geblieben, aber für ihn begann die vielleicht schwerste Zeit seines Lebens. Wo sollte er unterkommen? Wer Juden versteckte, riskierte standrechtlich erschossen zu werden. „Ich hatte nichts zu essen, nichts zu wohnen.“ Ein Freund, der bulgarischer Abstammung war, nahm ihn für eine Nacht auf, aber setzte ihn morgens vor die Tür, als seine Eltern kamen.
Gerettet wurde er von zwei jugendlichen Schwestern, die mit ihm in eine leerstehende Wohnung zogen und ihm Papiere eines gleichaltrigen Verwandten besorgten, mit denen Koltschinskyj sich ausweisen konnte.
Als Odessa 1944 befreit wurde, kehrte sein Vater aus einem Lazarett in Sibirien zurück – so wie es seine Mutter vorhergesagt hatte.
Der mittlerweile volljährige Koltschinskyj begann eine Unteroffizierausbildung in der Roten Armee. Sieben Jahre blieb er Soldat und am Ende, sagt er, musste er sein Leben wieder ganz von vorne beginnen.
Doch vorher nahm Koltschinskyj den letzten Schlachten des Weltkriegs teil. Mit einem sowjetischen Sturmbataillon rückte er über die Weichsel bei Warschau nach Süden an die Oder bei Breslau vor, um dann nach Auschwitz vorzustoßen. „Es wäre untertrieben zu sagen, dass wir vorgerückt sind. Wir sind vorgestürmt und haben dabei alles niedergekämpft,“ betont er.
Am 27. Januar 1945 befreiten die sowjetischen Truppen Auschwitz. Von dem berüchtigten Konzentrationslager sind Koltschinskyj neben den riesigen Gasöfen zur Leichenverbrennung ein Lagerraum im Gedächtnis geblieben, in dem Schuhe, Menschenhaar und Säcke mit menschlicher Asche säuberlich aufbewahrt wurden.
Koltschinskyj räumt ein, dass es einige Zeit dauerte, bis er die Dimension des Verbrechens verstand: „Zuerst haben wir nicht geglaubt, dass man so etwas tun würde, um Juden zu vernichten. Das erschien uns einfach unmenschlich.“
Aber Koltschinskyj hat deshalb nie einen Hass gegen Deutschland entwickelt. Als er Anfang der 1950er Jahre als sowjetischer Gewerkschaftsfunktionär in die DDR reiste, wurde seine Delegation in einer Kita von Vierjährigen auf Knien als „Befreier“ begrüßt. Das war ihm dann zu viel: „Ich nahm die Kindergärtnerin beiseite und sagte ihr, dass das übertrieben sei. Man kann diese Kinder doch nicht für die Fehler ihrer Väter und Großväter verantwortlich machen“, erinnert er sich.
Marieluise Beck und das Zentrum Liberale Moderne wollen sich nun dafür einsetzen, dass die Stelle, an der 1941 Wolodymyr Koltschinskyjs Mutter und 25.000 weitere ermordet wurden, ein würdiges Antlitz erhält. Siehe: https://libmod.de/ziel-gedenkstaette-odesa/
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