Der Umgang mit COVID-19 in den „Volksrepubliken“
Die Ukraine ist in der Coronakrise mit 3.372 Infizierten und 98 Toten (Stand 14. April) nicht gerade im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit. Dabei liegt im Osten des Landes eine der gefährdetsten Regionen für die Pandemie überhaupt. In den von Russland abhängigen „Volksrepubliken“ sind fast 50 Prozent der Einwohner im Rentenalter – so viele wie wohl nirgends sonst auf der Welt. Von Nikolaus von Twickel
In den von Russland kontrollierten selbsterklärten „Volksrepubliken“ in den Gebieten Donezk und Luhansk könnte die Seuche verheerende Auswirkungen haben. Bisher (Stand 13. April) gibt es dort gerade mal 32 bestätigte Fälle – 18 in Donezk und 14 in Luhansk – und noch keine Toten. Aber die Gefahr für einen unkontrollierbaren Ausbruch ist groß.
Zum einen ist die Bevölkerung extrem überaltert. Offiziell leben in den zwei „Republiken“ etwas mehr als eine Million Rentner, knapp 50 Prozent der geschätzt 2,2 Millionen Einwohner – wahrscheinlich Weltrekord. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung 22 Prozent, in der Ukraine sind es zwischen 20 und 25 Prozent. Diese Altersstruktur in den besetzten Gebieten ist eine direkte Folge des seit 2014 andauernden Konflikts mit Russland und der von Moskau organisierten Machtübernahme der Separatisten im selben Jahr – beides hat viele arbeitsfähige Menschen zum Wegzug genötigt, während Alte und Kranke oft zurückblieben.
Gleichzeitig sind die Gesundheitssysteme vor Ort von Krieg und Armut ausgezehrt, Ärzte verdienen umgerechnet weniger als 150 Euro im Monat, was zu einem massiven Brain-Drain geführt hat: Die „Gesundheitsministerinnen“ in Donezk und Luhansk klagen offen darüber, dass ihnen jeweils 5.000 Ärzte fehlen. In den Krankenhäusern ist gute Ausstattung Mangelware.
Aber damit nicht genug. Die Separatisten weigerten sich wochenlang, angemessen auf die Gefahr zu reagieren. Teilweise tun sie es immer noch. Während in der Ukraine und in Russland Schulen und Universitäten bis Mitte März geschlossen wurden, ging das Leben in den „Volksrepubliken“ zunächst weiter wie bisher. Die De-facto-Behörden wurden nicht müde zu betonen, dass es bei ihnen keinen einzigen bestätigten Corona-Fall gebe.
COVID-19 Maßnahmen in den Volksrepubliken
Quarantäneregeln wurden in Donezk ab Mitte März eingeführt, Schüler und Studenten mussten ab 19. März zu Hause bleiben. In Luhansk wurden zunächst praktisch gar keine Maßnahmen eingeführt. Erst am 28. März wurden plötzlich Restaurants, Läden, Theater und Museen geschlossen, Schulen und Universitäten ab 30. März. Dafür dürfen in Donezk Restaurants und Cafés bis auf weiteres offenbleiben – jedenfalls tagsüber bis 18:00 Uhr.
Bei Grenzschließungen handelten die Separatisten auch zögerlich und uneinheitlich. Während die Übergänge von der „DNR“ zu den regierungskontrollierten Gebieten an der „Kontaktlinie“ sowie nach Russland schrittweise ab 17. März geschlossen wurden, schloss die „LNR“ den einzigen Übergang in die regierungskontrollierte Ukraine, die Fußgängerbrücke in Stanyzia Luhanska, am 23. März.
Die Übergänge zwischen der „LNR“ und den russischen Grenzorten Donezk und Gukowo blieben dagegen weiter offen. Als ihre Schließung dann am 8. April angekündigt wurde, hieß es, dass Busse mit Einheimischen, die ihre neuen russischen Pässe in der benachbarten Region Rostow abholen, ausgenommen seien. Erst zwei Tage später erkannte man, dass das wohl keine gute Idee war und teilte mit, dass das Staatsbürgerschaftsprogramm erstmal ausgesetzt sei.
Befürchtungen, dass die Quarantänevorgaben der Separatisten nicht oder nur teilweise eingehalten werden, bestätigten sich am 5. April, als sowohl in Donezk als auch in Luhansk die „Gesundheitsministerinnen“ besorgt mitteilten, dass mehrere infizierte Bewohner trotz Fiebers weiterhin zur Arbeit gegangen seien. In der „LNR“ wurden daraufhin die Städte Antrazyt und Chrustalny (Krasniy Lutsch) komplett abgeriegelt. Die „DNR“ zog es vor, gar nicht erst mitzuteilen, wo die Erkrankten leben.
Wie viele COVID-19 Infizierte gibt es wirklich?
Wie hoch die Zahl der Infizierten wirklich ist, das ist auch in „normalen“ Ländern schwer festzustellen. Die „Volksrepubliken“ der Ostukraine sind nicht bekannt dafür, dass sie bereitwillig über eigene Probleme berichten. Immerhin teilt die „DNR“ regelmäßig mit, wie viele Patienten mit COVID-19-Verdacht in Krankenhäusern liegen und wie viele in häuslicher Quarantäne sind. Zum 11. April waren 208 Personen in stationärer Behandlung und weitere 12.084 zu Hause.
Dennoch wird über die Glaubwürdigkeit der Zahlen viel spekuliert. So teilte das ukrainische Reintegrationsministerium am 8. April mit, dass seinen Informationen zufolge bereits am 4. April ein Todesfall in der „DNR“ eingetreten sei, aber von den Separatisten geheim gehalten werde. Der Geheimdienst SBU will wissen, dass in der „LNR“ bereits 13 Menschen mit Verdacht auf Coronavirus gestorben seien.
Und noch einen großen Unterschied gibt es zwischen den beiden „Volksrepubliken“, die zwar beide praktisch komplett von Moskau abhängig sind, sich aber kaum miteinander absprechen. In Donezk hat Separatistenchef Denis Puschilin in mehreren Ansprachen und Interviews bei der Bevölkerung um Verständnis für die Maßnahmen geworben. In Luhansk ist sein Kollege Leonid Passetschnik dagegen mehr oder weniger untergetaucht. Seit er am 25. März ein Krankenhaus besuchte, hat er sich lediglich auf Twitter zu Wort gemeldet – aber nur einmal zum Thema Corona.
Geschlossene Grenzen und positive Propaganda
Hintergrund des Zögerns der Separatisten ist sicher ihre Erkenntnis, dass die „Volkrepubliken“ sich Stillstand und Grenzschließungen einfach nicht leisten können. „DNR“-Chef Puschilin hat das offen zugegeben, als er am 3. April sagte, dass „unsere Wirtschaft von einer Epidemie sehr viel härter getroffen werden würde als andere Länder.“
Schon die Schließung der Übergänge zu den regierungskontrollierten Gebieten hat zur Folge, dass Hunderttausende nicht mehr ihre ukrainischen Renten abholen können, mit der sie ihre kümmerlichen „republikanischen“ Pensionen in Höhe von 4,800 russische Rubel (58 Euro) aufbessern. Nicht besser sieht es für die Industriearbeiter aus. Seit der 2017 bestehenden Wirtschaftsblockade zwischen ihnen und der restlichen Ukraine hängen die „Volksrepubliken“ komplett am Tropf Russlands, dem einzigen Markt, wo sie ihre Kohle, Eisen- und Stahlprodukte verkaufen können. Aber Russland ist derzeit selbst in einer sich täglich verschlimmernden Krise.
Dass die Lage ernst ist wie nie zuvor, geht ausgerechnet aus einem Video des eigentlich für positive Propaganda zuständigen Donezker „Informationsministeriums“ hervor. Darin erklärt Wladimir Paschkow, ein russischer Industrieller, der vergangenes Jahr zum einflussreichen stellvertretenden Regierungschef aufstieg, unumwunden dass die bisherigen Absatzmöglichkeiten versiegt sind: „Wir sind eine Kohleregion, aber wir können keine Kohle verkaufen“. Und er fügt hinzu, dass die „DNR“ lernen müsse, sich in Zukunft selber zu ernähren.
Wie genau das bewerkstelligt werden kann, zumal unter Quarantänebedingungen, sagt er nicht. In dem Video vom 10. April tragen weder Paschkow noch die anwesenden Wirtschaftsführer und Werksleiter, Gesichtsmasken.
Wie es für die „Volksrepubliken“ weitergehen wird, ist also völlig ungewiss. Die russischen Konvois, die noch 2019 wöchentlich Hilfsgüter, aber wohl auch Bargeld nach Donezk und Luhansk brachten, sind bereits seit dem Jahreswechsel nicht mehr gesehen worden. Seitdem die Separatisten in den Jahren 2015 und 2016 die ausländischen Hilfsorganisationen Medicins sans Frontieres und People in Need rausgeschmissen haben, sowie 2017 die Konvois des ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow nicht mehr reinlassen, ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz die einzige Organisation, die regelmäßig Hilfslieferungen sendet. Beim letzten dieser Transporte am 3. April wurde der örtliche ICRC-Leiter vom „DNR“-Informationsministerium interviewt – ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Vielleicht ist es ein Zeichen dafür, dass die Separatisten ahnen, dass sie künftig mehr Hilfe annehmen müssen, die nicht aus Russland stammt.
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