Ärzte ver­su­chen alles, doch das System versagt. Wie die Region Tscher­niwzi mit der Qua­ran­täne umgeht

Epi­de­mio­lo­gen im Tscher­niw­zier Kran­ken­haus © Maksym Kozmenko

In der Ukraine tauchte das Coro­na­vi­rus erst­mals in der Region Tscher­niwzi im Süd­wes­ten des Landes auf. Am 3. März wurde das Virus bei einem Mann bestä­tigt, der gerade aus Italien zurück­ge­kehrt war. Knapp einen Monat später waren im April schon zwei­tau­send Men­schen mit dem Virus infi­ziert. Damit ist das Gebiet Tscher­niwzi in der Buko­wina am stärks­ten von der Pan­de­mie betrof­fen. Inzwi­schen hat sich die Buko­wina zum Test­ge­lände für ver­schie­dene Anti-Virus-Maß­nah­men ent­wi­ckelt. Die Qua­ran­täne-Vor­schrif­ten reichen von Ein- und Aus­rei­se­ver­bo­ten bis zur Schlie­ßung von Geschäf­ten am Wochen­ende. Sobald die Regie­rung in Kyjiw die ersten Locke­run­gen beschließt, werden auch in Tscher­niwzi Wirt­schaft und Ein­woh­ner auf­at­men. Von Oleh Tudan

Patient Nummer eins

Ende Februar reisten Olek­sandr und seine Frau nach Italien. Ihre Reise führte sie in die Lom­bar­dei, wo das Ehepaar die Städte Bergamo, Lecco, Como sowie Mailand besuchte. Zu dieser Zeit waren die Mas­sen­in­fek­tio­nen in Nord­ita­lien schon bekannt. Deshalb habe sich das Ehepaar vor­sich­tig ver­hal­ten und den Kontakt mit Men­schen­mas­sen ver­mie­den. Trotz­dem wurde bei Olek­sandr nach seiner Rück­kehr in die Ukraine die SARS-Infek­tion diagnostiziert.

„Die Sani­tä­ter, die mich ins Kran­ken­haus brach­ten, waren sehr hilfs­be­reit“, erin­nert sich Olek­sandr. „Sie ver­hiel­ten sich pro­fes­sio­nell und ruhig, trugen Schutz­an­züge, Masken und Hand­schuhe“, fügt er hinzu. Olek­sandr war der erste Ein­woh­ner in der Ukraine, bei dem Covid-19 fest­ge­stellt wurde. Am Abend, nachdem Ärzte Olek­sandr positiv tes­te­ten, ver­sam­melte sich eine Men­schen­menge vor seinem Balkon und for­derte, seine Ehefrau aus dem Haus zu schaffen.

Der Bür­ger­meis­ter und mehrere Beamte, die sofort zur Stelle geeilt waren, ver­such­ten ver­geb­lich, die auf­ge­brachte Menge zu beru­hi­gen. Dar­auf­hin lie­ferte man auch die Ehefrau von Olek­sandr in ein Kran­ken­haus ein. Olek­sandr ver­brachte mehrere Wochen auf der Inten­siv­sta­tion unter Bedin­gun­gen, die er lieber nicht beschrei­ben möchte. Olek­sandr war auch der erste Patient, der sich von der Krank­heit erholte. „Ich ver­stehe meine Nach­barn irgend­wie“, sagt Olek­sandr. „Angst ist eine starke Kraft, die Men­schen zu Hand­lun­gen bewegt, die sie später viel­leicht bereuen“, sagt er. „Wenn sich jemand zum ersten Mal in dieser Situa­tion befin­det, erwar­tet er Unter­stüt­zung und Hilfe, aber er bekommt gelinde gesagt Iso­la­tion und Unverständnis.“

Ärzte opfern sich auf; das Gesund­heits­sys­tem marode

Natalia Gusak arbei­tet als Exper­tin für die Gesund­heits­re­form im U‑LEAD-Pro­gramm. Am 29. Januar wurde sie zur stell­ver­tre­ten­den Lei­te­rin der Regio­nal­ver­wal­tung ernannt. Als sie von den Pro­tes­ten vor Olek­san­drs Wohnung hörte, ver­suchte auch sie, die wüten­den Bürger zu beruhigen.

Eigent­lich sollte Natalia nach ihrer Ernen­nung ein kom­mu­na­les Gesund­heits­sys­tem auf­bauen. Statt­des­sen muss sie dafür sorgen, dass wegen der Pan­de­mie keine Panik aufkommt.

© Maksym Kozmenko

Seit den letzten zwei Monaten hat Natalia alle Hände voll zu tun und kein Pri­vat­le­ben mehr. Als erstes hätten Beamte und Medi­zi­ner in ihrem Stab „Spiel­re­geln“ für die Corona-Krise ent­wi­ckelt, sagt sie. „Wir waren die ersten in der Ukraine, die Stan­dards für die Inter­ak­tion, Kran­ken­haus­auf­ent­halte, Ana­ly­sen, Bestat­tun­gen und Kon­trol­len in Zusam­men­hang mit der Corona-Krise ent­wi­ckelt haben“, sagt Gusak. „Seitdem die Ukraine den Lock­down ver­hängt hat, werden die Maß­nah­men im gesam­ten Land koor­di­niert“, erklärt Gusak weiter.

Natalia Gusak betont, dass die Ärzte zwar Hel­den­tum zeigten, das Gesund­heits­sys­tem jedoch nicht für die Pan­de­mie gerüs­tet sei. „Die Abtei­lun­gen für Infek­ti­ons­krank­hei­ten ist kaputt­ge­spart, es mangelt an moder­ner Aus­rüs­tung und pro­fes­sio­nel­len Arbeits­be­din­gun­gen“, sagt Gusak. Das Gesund­heits­sys­tem liege gene­rell am Boden und erschwe­rend käme hinzu, dass man während der Epi­de­mie keine Refor­men ein­lei­ten könne. Jeden Tag regis­triere man 50 bis 70 neue Infek­tio­nen, Anfang Mai habe man ins­ge­samt mehr als zwei­tau­send Infi­zierte gezählt. Die hohe Test­rate sei der Ver­dienst lokaler Epi­de­mio­lo­gen, die pro Tag mehrere hundert Proben unter­such­ten. Daher erscheine auch die Anzahl von bisher fast 100 Toten nach­voll­zieh­bar, erläu­tert Gusak.

„Wir haben eine große Anzahl von Infek­tio­nen fest­ge­stellt. Die Sterb­lich­keits­rate liegt bei etwa 3,5 Prozent“, bestä­tigt Oleh Chornyi, Leiter der regio­na­len Gesund­heits­be­hörde von Tscherniwzi. 

Bisher seien 600 Men­schen in Kran­ken­häu­ser ein­ge­lie­fert worden. Weil die Kapa­zi­tät in den Hos­pi­tä­lern knapp wird, werden immer mehr Zustell­bet­ten her­an­ge­schafft und aus­ge­mus­terte Abtei­lun­gen und Räume wieder genutzt. Pro­ble­ma­tisch ist jedoch nicht nur die geringe Anzahl an Betten und Inten­siv­plät­zen: viele Ärzte infi­zie­ren sich oft selbst. Anfang April erkrank­ten allein 22 Ärzte im Bezirks­kran­ken­haus Chotyn. In dieser Region haben sich bisher 330 Medi­zi­ner und Pfle­ge­kräfte angesteckt.

Wie viel kostet die Quarantäne?

Die Qua­ran­täne in der Buko­wina begann wie in anderen Regio­nen der Ukraine am 12. März. Seitdem ver­su­chen zum Bei­spiel Gas­tro­no­men ihre Ver­luste durch Cate­ring und Lie­fe­run­gen zu minimieren.

„Wir haben unsere Cafés schon einige Tage vor der Qua­ran­täne geschlos­sen“, sagt Vasyl Yavorsky, Direk­tor einer Café­haus-Kette. „Wir haben also einen erheb­li­chen Teil des Gewinns ver­lo­ren, aber zumin­dest mussten wir keine Mit­ar­bei­ter ent­las­sen“, sagt er. In der Krise beschloss die Café­haus-Kette, fer­ti­gen Kaffee zu liefern. „Auf diese Weise haben wir die Arbeit für die­je­ni­gen gesi­chert, die Kaffee rösten, her­stel­len und liefern“, sagt Yavorsky.

Aus der Region Tscher­niwzi kommen auch die meisten Arbeits­mi­gran­ten, die nor­ma­ler­weise in Italien, Spanien, Polen und Deutsch­land arbei­ten. Mit dem Aus­bruch der Pan­de­mie mussten die meisten in die Ukraine zurückkehren.Der 36-Jährige Gennady war sein gesam­tes Arbeits­le­ben im Ausland tätig. 2013 zog er nach Lublin, wo er als LKW-Fahrer für eine pol­ni­sche Firma arbei­tet und Gemüse in die EU-Länder liefert. „Ich kam alle sechs Monate nach Hause und Ende März musste ich wegen der Epi­de­mie erstmal für unbe­stimmte Zeit zurück­keh­ren“, berich­tet Gennady. Seine Erspar­nisse würden jede Woche mehr und mehr schrump­fen, sagt er und hofft, bald nach Polen zurück­keh­ren zu können. Dort würde man jedoch nicht auf ihn warten.

„Ich habe noch nichts von den Polen gehört. Wir sitzen zu Hause und beob­ach­ten nur, wie das hart ver­diente Geld uns aus den Händen rinnt“, sagt Gennady.

Nach Angaben der Natio­nal­bank habe das Inter­esse der Ukrai­ner, im Ausland zu arbei­ten, in den letzten Wochen wieder zuge­nom­men, ins­be­son­dere die Arbeit in Polen und Deutsch­land sei gefragt.

Die Qua­ran­täne wird gelockert

© Nazar Shevchenko

Am 11. Mai wurde die Qua­ran­täne in der Ukraine gelo­ckert. In vielen Städten haben Fri­seure, Schön­heits­sa­lons, Zahn­ärzte oder öffent­li­che Parks und Plätze wieder geöff­net. Auch in Tscher­niwzi berei­ten sich Unter­neh­mer und Laden­be­sit­zer auf die Locke­run­gen vor: Sie haben Schau­fens­ter gerei­nigt und Ein­kaufs­be­rei­che des­in­fi­ziert. Die regio­nale Not­fall­kom­mis­sion ent­schied jedoch, dass Lebens­mit­tel­be­triebe, Geschäfte und Floh­märkte auf­grund der hohen Infek­ti­ons­ge­fahr noch nicht betrie­ben werden dürfen. Ledig­lich Notare, Anwälte und Psy­cho­lo­gen durften ihre Arbeit auf­neh­men sowie Museen wieder öffnen. Die zahl­rei­chen Verbote für die Wirt­schaft haben deshalb zu sozia­len Span­nun­gen geführt.

„Lasst uns in Ruhe!“, fordert Ivan Hon­cha­ruk die Mit­glie­der der Not­fall­kom­mis­sion auf. Auf Face­book schreibt der Stadt­rats-Abge­ord­nete und Unter­neh­mer, dass er trotz Verbots arbei­ten werde. Hon­cha­ruk wird von Dut­zen­den Händ­lern unter­stützt, die ihre Geschäfte trotz der Verbote wieder öff­ne­ten. Zwar beschränkt sich der Protest zurzeit nur auf das Inter­net. Die Unzu­frie­den­heit kann jedoch zu echten Pro­tes­ten auf der Straße führen. Bereits vor einigen Wochen hatten Unter­neh­mer demons­triert, bis der Betrieb ihrer Lebens­mit­tel­märkte wieder gestat­tet wurde.

Textende

Portrait von Oleh Tudan

Tudan ist ukrai­ni­scher Jour­na­list und Blogger aus Tscherniwzi. 

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