Skandal beim ukrainischen ESC-Vorentscheid
Die Sängerin MARUV soll die Ukraine mit dem starken EDM-Hit Siren Song beim Eurovision Song Contest in Tel Aviv vertreten. Der deutliche Sieg beim nationalen Vorentscheid wird aber durch die Diskussion über ihre Konzerttätigkeit in Russland überschattet. Von Denis Trubetskoy
Am Samstag verfolgte die Ukraine mit großer Spannung und gigantischem Interesse ihren nationalen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest (ESC), der im Mai 2019 in Tel-Aviv ausgetragen wird. Im postsowjetischen Raum ist der ESC nach wie vor eine Institution, die Jahr für Jahr Millionen von Zuschauern vor ihre Fernsehgeräte lockt. Dass die Hauptstadt Kyjiw den größten Liederwettbewerb Europas 2017 auch noch nach dem Sieg der krimtatarischen Sängerin Jamala mit dem Lied 1944, das an die Deportation ihres Volkes unter Josef Stalin erinnern sollte, zum zweiten Mal austragen durfte, trug zum enormen Interesse des ESC in der Ukraine bei. Und so war es keinesfalls überraschend, dass alle sechs Acts, die es ins nationale Finale schafften, genauestens unter die Lupe genommen wurden – auch aus gesellschaftspolitischer Sicht. Denn Jamala hat die Latte diesbezüglich hoch gelegt.
Musikalisch ist MARUV über die Grenzen der Ukraine hinaus erfolgreich
Die gute Nachricht zuerst. Man muss den modernen EDM Pop [EDM steht für Electronic Dance Music – Anm. d. Red.] der 27-jährigen Sängerin MARUV, die im letzten Jahr mit ihrem Debüt-Album Black Water und den beiden Megahits Drunk Groove und Focus On Me weit über die ukrainische Grenze hinaus bekannt wurde, nicht unbedingt mögen. Genau wie ihre besondere Art, anrüchige BDSM-Elemente in ihre Performance zu integrieren. MARUV, die eigentlich Hanna Korsun heißt, nennt das „intelligente Provokation“. Wer das geschmacklos findet, darf das auch offen sagen. Allerdings ist der von ihr selbst komponiert Siren Song, das ESC-Lied von MARUV, zweifellos ein starkes Stück EDM. Es kann mit den größten aktuellen Hits des Genres mithalten, etwa dem neuesten Song von The Chainsmokers.
MARUV tourt nach wie vor durch Russland
Das bedeutet nun nicht, dass die Ukraine MARUV, die den ersten Platz beim Zuschauervoting und den zweiten Rang bei der Juryabstimmung belegte, als Favoritin nach Tel Aviv schickt. Aber Siren Song ist ein starker Act, der sich vermutlich im europäischen Radio durchsetzen wird. Dennoch ist das Lied an sich und die provokante Performance von MARUV bei weitem nicht der Grund, weshalb seit Sonntag die ganze Ukraine über sie diskutiert. Hanna Korsun gehört zu den ukrainischen Künstlern, die gerne im Nachbarland Russland touren und dort im Fernsehen auftreten. In diesem Frühjahr sind sogar die ersten großen Solo-Konzerte in Moskau und St. Petersburg geplant. Deswegen wird in der Ukraine wieder einmal die politische Seite der Kunst diskutiert: Darf man als Ukrainer und Unkrainerin nach der Annexion der Krim 2014 und während der Krieg im Donbas anhält, in Russland auftreten? Viele ukrainische Top-Musiker wie LOBODA oder Wremja i Steklo sehen sich mit dieser Frage schon lange konfrontiert.
Musik so politisiert wie nie
Man muss den ESC nicht für einen ernstzunehmenden Wettbewerb halten, dennoch wird von MARUV erwartet, nicht nur als Solokünstlerin aufzutreten, sondern auch das Land vor internationalem Publikum zu repräsentieren. Und obwohl es einem durchschnittlichen Zuschauer in Osnabrück, Marseille oder Vilnius herzlich egal sein wird, ob eine Ukrainerin in Moskau singt oder nicht, sind die Fragen an Hanna Korsun in Zeiten des Krieges durchaus legitim. Die Art und Weise, wie MARUV derzeit behandelt wird, überschreitet dennoch die Grenze dessen, was als Kontroverse gestattet ist. Dazu gehört, dass die Produzenten des nationalen Vorentscheids sich in letzter Minute bei MARUV mit dem Vorschlag meldeten, sie durch eine andere Teilnehmerin namens TAYANNA zu ersetzen. Dazu gehört, dass der Vizepremiermister Wjatscheslaw Kyrylenko, früher für die Kultur zuständig, via Twitter verlauten ließ: „Diese Geschichte ist nicht zu Ende. Die Ukraine darf nicht von jemanden repräsentiert werden, der im Aggressorstaat auftritt“.
Politischen Fragen ist MARUV bisher immer erfolgreich ausgewichen. Sie reklamiert, dass sie mit ihren Liedern versuche, die Freundschaft zwischen der Ukraine und Russland wiederherzustellen. Auch hat sie etwa die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine, eine sehr wichtige Frage für die ukrainische Zivilgesellschaft, nie in Frage gestellt. Darüber hinaus steht es nirgendwo in den Regeln des nationalen Vorentscheids, dass jemand, der durch Russland tourt, nicht zum ESC fahren darf. Jedoch behält sich der ukrainische öffentlich-rechtliche Sender UA:Perschyj das Recht vor, eine finale Entscheidung über die Teilnehmer am ESC erst 48 Stunden nach dem Ende des nationalen Finales ( auch unabhängig vom Zuschauervotum )selbst zu treffen. Oleksandra Kolzowa, Mitglied im Verwaltungsrat von UA:Perschyj, deutete in einem Gespräch mit Hromadske an, dass im Vertrag mit MARUV zusätzliche Vereinbarungen getroffen werden könnten. Offenbar geht es dabei tatsächlich um die Konzerttätigkeit in Russland.
Es ist aber unwahrscheinlich, dass UA:Perschyj MARUV nicht nach Tel Aviv schickt. Schließlich soll das Ergebnis der Zuschauerabstimmung deutlich genug gewesen sein. Dennoch war dieser nationale Vorentscheid nicht nur wegen Hanna Korsun der politischste, den es in der Ukraine je gab.
Auch andere ukrainische ESC-Bewerber standen in der Kritik
Auch in Vergangenheit gab es Fragen an die Künstler, die in Russland auftreten. Diesmal sorgte aber das von der annektierten Krim stammende Duo ANNA MARIA (nicht zu verwechseln mit der britischen Ciao Adios-Sängerin Anne-Marie) für einen großen Skandal. Die Eltern der beiden Zwillinge blieben nach der Annexion auf der Halbinsel. Die Mutter Larissa Opanasjuk ist stellvertretende Vorsitzende der Krim-Regierung und wurde mit der Medaille „Für die Rückeroberung der Krim“ ausgezeichnet, der Vater war ein prominenter Richter, der vor kurzem in Rente gegangen ist.
ANNA MARIA kann natürlich für ihre Eltern nicht verantwortlich gemacht werden. Vor kurzem weigerte sich das Duo in einem Interview mit dem Fernsehjournalisten Roman Skrypin die Frage nach der Zugehörigkeit Krim zu beantworten. Die beiden Sängerinnen wollten sich auch nicht zu der Frage äussern, ob man das russische Vorgehen auf der Halbinsel als Okkupation bezeichnen könne. Auch die ethnische Pop-Band YUKO hat einen Russland-Bezug: Die Sängerin Julia Jurina lebt schon lange in der Ukraine und spricht perfekt Ukrainisch, bleibt jedoch russische Staatsbürgerin. Dies sorgte ebenfalls für etliche Fragen und zum Teil scharfe Kritik.
2019 kann keine ukrainische Celebrity sich leisten, unpolitisch zu sein
Diese Kontroversen im vermeintlich unpolitischen Bereich von Kunst und Kultur sagen viel über die gesellschaftliche Lage im Land aus. Zwar reagieren viele Ukrainer mit Unverständnis auf die harte Kritik an MARUV, erstaunlicherweise jedoch ist es die Zivilgesellschaft, die mit scharfen Kritik reagiert. Scharf im Urteil sind auch die Medien. Während sich die Fronten immer weiter verhärten, wird an diesem Fall eines klar: Im Jahr 2019 kann sich keine Person des öffentlichen Lebens, also kein Musiker, kein Schauspieler und kein Sportler, in der Ukraine leisten, sein Wirken als ausserhalb des politischen Raumes zu verstehen. Mit dieser Herausforderung muss nicht nur die talentierte Sängerin und Songwriterin MARUV umgehen.
*Update* Die Sängerin MARUV wird trotz des Sieges beim nationalen Vorentscheid am Samstag nicht nach Israel fahren und die Ukraine beim ESC vertreten. Die 27-Jährige und der übertragende Sender UA:Perschyj konnten nach stundenlangen Verhandlungen am Montag keine Einigung über den Teilnahmevertrag erzielen. Zuvor wurde MARUV zum Objekt der Kritik aus der Zivilgesellschaft, weil sie in Russland tourt. Die Sängerin zeigte sich bereit, auf die Konzerte im Nachbarland zu verzichten, kritisierte jedoch den Druck auf sie und den Versuch, ihre Teilnahme verhindern zu wollen. „Nicht abgesprochene Improvisationen oder Interview sind laut dem Vertrag verboten“, schrieb sie auf ihrer Facebook-Seite. Auch solle sie die Rechte an dem Siegerlied Siren Song an UA:Perschyj übergeben.
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