Die Erneuerung des Parlaments ist gescheitert
Die Partei Diener des Volkes (Sluha Narodu) des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj setzte ausschließlich auf Politiknovizen. Doch diese produzieren nicht weniger Skandale als die Vorgänger. Aber auch die Stimme (Holos), der Hoffnungsträger der Zivilgesellschaft, droht die Bedeutungslosigkeit. Von Denis Trubetskoy
“Sie werden sicherlich ihre Fehler machen, doch das ist der beste Weg, um die ukrainische Politik gründlich zu erneuern“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im letzten Jahr, als er seine Idee vorstellte, bei der Parlamentswahl für seine Partei Diener des Volkes ausschließlich Politikneulinge aufzustellen. Niemand aus der Fraktion, die nach den vorgezogenen Neuwahlen im letzten Jahr nominell über eine absolute Mehrheit verfügt, hatte zuvor ein Abgeordneten-Mandat inne.
Diener des Volkes war mit diesem Ansatz nicht allein. Auch die nationalliberale Partei Stimme, die vom Rocksänger Sjwatoslaw Wakartschuk und Hoffnungsträger der Zivilgesellschaft angeführt wurde, schaffte im letzten Juli den Einzug ins Parlament und setzte konsequent auf neue Gesichter – abgesehen von Wakartschuk selbst, der nach der Orangen Revolution schon kurz Abgeordneter gewesen war. Weil er sich in dieser Rolle nicht wohl gefühlt hatte trat der bekannteste Musiker der Ukraine damals kurz nach seiner Wahl wieder zurück.
Die Wähler sind hochgradig unzufrieden mit der Arbeit der Rada
Nun, es ist tatsächlich so, dass die hohen Erwartungen an das reibungslose Funktionieren dieses Parlaments durchaus nicht zu erfüllen waren. Doch die Ergebnisse des bisherigen Schaffens der Rada unter der Führung der Selenskyj-Partei sind nicht nur schlecht, sie sind zum Teil sogar katastrophal. Das zeigen auch aktuelle Umfragen.
Zwar sind 29,3 Prozent der Ukrainer laut der neuesten Studie der renommierten Rating Group nach wie vor bereit, für Diener des Volkes zu stimmen – trotz der absteigenden Tendenz hat die Regierungspartei immer noch 14 Prozentpunkte Vorsprung auf die auf dem zweiten Rang liegende prorussische Oppositionsplattform. Es sind aber vor allem Zustimmungswerte des gesamten Parlaments, die die Alarmglocken läuten lassen. Nur neun Prozent der Befragten bewerten die Arbeit der Werchowna Rada als positiv, 76 Prozent dagegen sehen sie negativ.
Skandale über Skandale
Bei der Anzahl der Skandale, die in erster Linie Diener des Volkes produzierte, ist das nicht verwunderlich. Davon gab es kleinere, die jedoch für größere Schlagzeilen sorgten. So zum Beispiel der Rat des Abgeordneten Jewhen Brahar an eine Rentnerin, ihren reinrassigen Hund zu verkaufen, um ihre Rechnungen bezahlen zu können.
In letzter Zeit scheint bei den Dienern des Volkes wirklich vieles aus dem Ruder zu laufen.
Jüngst lästerten Parteichef Olexander Kornijenko und Fraktionschef Dawid Arachamija vor den laufenden Mikros kurz vor einer Pressekonferenz über das Aussehen einer Kollegin. Sie hatten nicht bemerkt, dass die Mikrofone eingeschaltet waren.
Noch skandalöser war eine Szene, bei der die Vorsitzende des Sozialausschusses der Rada Halyna Tretjakowa von der „Minderwertigkeit“ der Kinder armer Ukrainer sprach. Sie hielt es zudem für eine gute Idee, Antragsteller von Sozialhilfe zu sterilisieren. Ihre Äußerungen sorgten für einen medialen Aufschrei. Ein Rücktritt von Tretjakowa ist dennoch nicht in Sicht.
Fragilität der Fraktion wird zunehmend zum Problem
Diese Skandale sind keine Petitessen und sie beeinflussen die Wahrnehmung des Parlaments durch die Bevölkerung enorm. Sie sind aber auch nur die Spitze des Eisbergs.
Von Anfang an war klar, dass die Fraktion Diener des Volkes, die aus mehreren unterschiedlichen Einflussgruppen besteht, nicht immer einheitlich handeln wird.
Diese Gruppen sind zwar einzeln nicht besonders groß, doch wenn etwa die sogenannten prowestlichen Abgeordneten oder die Gruppe um den Oligarchen Ihor Kolomojskyj nicht für ein Gesetz abstimmen, dann ist die absolute Mehrheit gleich dahin. Verschiedenen Medienberichten zufolge soll der umstrittene frühere Chef des Präsidialbüros Andrij Bohdan eine große Rolle bei der Koordinierung der Abstimmungen innerhalb der Fraktion gespielt haben und sich genau um die Kommunikation und Balance zwischen den innerparteilichen Gruppen gekümmert haben. Seit seinem unfreiwilligen Abgang im Februar diesen Jahres hat Diener des Volkes immer öfter das Problem, auf die für die Verabschiedung der Gesetze nötigen 226 Stimmen zu kommen.
Situative Allianzen mit der Opposition
Bei umstrittenen Gesetzesvorhaben, wie die Verabschiedung der Bodenreform, muss Diener des Volkes sogar auf die Unterstützung der Europäischen Solidarität von Ex-Präsident Poroschenko und Stimme zurückgreifen. Zuletzt, wie bei der Entlassung des Zentralbankchefs Jakiw Smolij, kooperierte die Fraktion auch mit der umstrittenen pro-russischen Oppositionsplattform. Das reicht aber nicht immer, wenn gleich mehrere Einflussgruppen innerhalb des Diener des Volkes gegen eine Entscheidung oder gegen ein Gesetz sind.
So konnte das Parlament neulich das Regierungsprogramm des Ministerpräsidenten Denys Schmyhal nicht verabschieden, obwohl Selenskyj seine Fraktion höchstpersönlich darum gebeten kann. Auch fiel die Kandidatur des Bildungsministers Serhij Schkarlet auf ähnlichen Wege durch. In diesem Fall nutzten Selenskyj und Co. den klassischen Ausweg und machten Schkarlet zum Interimsminister. Neben Olha Bulawez im Energieministerium, die dem Oligarchen Rinat Achmetow nahestehen soll, ist er der zweite Interimsminister im aktuellen Kabinett.
Drohen jetzt sogar Neuwahlen?
So ist mittlerweile klar, dass Selenskyj und seine Funktionäre die eigene Fraktion nicht im Griff haben. Zu gering ist die Fraktionsdisziplin und zu unterschiedlich sind die Interessen der Gruppen innerhalb der Partei. Deswegen macht seit kurzem das Gerücht die Küche, Selenskyj drohe der Fraktion mit der Auflösung des Parlaments. Wahrscheinlich würde ein solcher Schritt der Zustimmung des Präsidenten in der Bevölkerung sogar gut tun. In Wirklichkeit ist dieses Szenario aber eher unwahrscheinlich.
Denn bei Neuwahlen würde Diener des Volkes definitiv keine absolute Mehrheit bekommen.
Das zeigen alle Umfragen. Vielmehr verliert die Präsidentenpartei derzeit schnell an Zustimmung. Deswegen ist es für alle Seiten vorteilhaft, den Status quo möglichst aufrecht zu erhalten. Das Problem ist dennoch, dass das vom Diener des Volkes angeführte Parlament mit seinen Mechanismen und seinem Habitus sich kaum von den vorherigen unterscheidet. Deswegen werden die Stimmen lauter, die dieses Erneuerungsexperiment bereits als gescheitert bezeichnen.
Hinzu kommt, dass die ambitionierte Fraktion Stimme ebenfalls schlecht abschneidet. Die Partei, auf die von Teilen der ukrainischen Zivilgesellschaft Hoffnungen gesetzt wurden, schaffte es gerade so über die Fünf-Prozent-Hürde, mittlerweile würde sie aber im allerbesten Fall drei Prozent erhalten (laut der letzten Umfrage der Rating Group).
Die Stimme hat sich weder als klare Opposition gegen Selenskyj, noch als dessen Partner etabliert, was die eigene Wählerschaft nicht verstehen konnte und weshalb sie zum Teil wieder zum ideologisch nahen Poroschenko-Projekt wanderte.
Der Versuch, etwa mit der Forderung nach einer Abkehr vom Minsker Friedensabkommen politisches Kapital zu gewinnen, ist auch nicht gelungen. Mit dem erneuten Rücktritt des ursprünglichen Anführers Wakartschuk, der diesmal weniger als ein Jahr im Parlament verbrachte, droht der Partei jetzt ein noch schnellerer Absturz. Unverdient wäre dieser nicht, ähnlich wie die sinkenden Umfragewerte des Diener des Volkes. Somit verschwanden die Hoffnungen schnell, der ukrainische Parlamentarismus könne noch in dieser Legislaturperiode ein neues, höheres Niveau erreichen.
Dabei braucht die Ukraine vor allem in Zeiten der Corona-Pandemie und der dazugehörigen Wirtschaftskrise dringend neue professionelle Politiker, die das Vertrauen der Bevölkerung zumindest teilweise genießen und ernsthaft an notwendigen Veränderungen arbeiten. Solange das nicht der Fall ist, werden ukrainische Bürger das Parlament nach wie vor als „Zirkus“ abstempeln und sich weiter von der Politik abwenden und diese verachten. Gerade in der Krise ist das gefährlich.
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