Fünfter Jahrestag der Odessa-Tagödie
48 Menschen kamen im Mai 2014 in Odessa bei Auseinandersetzungen zwischen proukrainischen und prorussischen Kräften ums Leben. Auch fünf Jahre nach der Tragödie sind die genaueren Umstände des Brands im Gewerkschaftshaus noch immer nicht aufgeklärt. Ein Rückblick von Denis Trubetskoy
Vor fünf Jahren am 2. Mai 2014 starben im südukrainischen Odessa, der drittgrößten Stadt des Landes, 48 Menschen bei Zusammenstößen zwischen proukrainischen und prorussischen Aktivisten nach einem Brand im Gewerkschaftshaus. Fünf Jahre später sind viele Aspekte dieses komplexen Falls noch immer nicht aufgeklärt. Eine Reihe von prorussischen Verdächtigen wartet in Mykolajiw auf ein Urteil, davon wurden 19 Personen bereits freigesprochen. Das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der UN kritisiert in seinem neuesten Bericht zur Lage in der Ukraine, dass bisher kein einziger ukrainischer Staatsbeamter zur Verantwortung gezogen wurde. Auch gäbe es keinen Fortschritt im einzigen Verfahren gegen einen proukrainischen Demonstranten. Einige Mitarbeiter der damaligen Führung der lokalen Sicherheitsbehörden sind inzwischen nach Russland oder in international nicht anerkannte und von Moskau kontrollierte Gebiete wie Transnistrien geflohen. Das Verfahren gegen zwei bedeutende prorussische Verdächtige musste vor Kurzem ganz neu begonnen werden. Und das Wichtigste: Die genaueren Gründe für den Brand, der letztlich 42 Menschenleben kostete, sind bis heute nicht aufgeklärt.
Unklar ist auch, ob die Ermittlungen jemals belastbare Ergebnisse zu der Odessa-Tragödie bringen werden. Es kann nur darüber spekuliert werden, ob das daran liegt, dass die Sicherheitsbehördenmit dem prorussischen Lager sympathisierten und sich zurückgezogen haben oder zum Beispiel daran, dass nach dem Brand viele Beweise falsch gesichert oder sogar vernichtet wurden. Fakt ist jedoch, dass die Tragödie einen massiven Einfluss auf die gesamte Situation in der Ukraine und insbesondere auf den damals beginnenden Krieg im Donbas hatte. Die russische Propagandamaschine, die die Regierung in Kyjiw nach der Majdan-Revolution als faschistisch abgestempelt hatte, nutzte den Fall und die Tatsache, dass die große Mehrheit der Opfer lokale prorussische Aktivisten waren, um von ethnischen Säuberungen wie im Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Das hat die Atmosphäre in der Ostukraine massiv vergiftet und zu größeren Spannungen geführt.
Wie kam es zur Odessa-Tragödie?
Die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des Euromajdans und dem sogenannten Antimajdan erreichten im Januar 2014 ihren ersten Höhepunkt. Gewaltsame Kämpfe wurden damals unter anderem vor der Regionalverwaltung in Odessa ausgetragen. Die zahlenmäßig überlegene prorussische Bewegung, die sich vor allem für die Föderalisierung der Ukraine und den Schutz der russischen Sprache eingesetzte, formierte Selbstverteidigungskräfte, die sie „Narodnyje Druschyny“ nannte. Zum Zentrum des Protests wurde der Kulykowe Pole genannte Platz, wo ein Zeltlager aufgebaut wurde. In Folge der russischen Annexion der Krim im März 2014 verstärkte der ukrainische Staat den Druck auf die Führungsfiguren des prorussischen Spektrums. Einige wurden entweder zwischenzeitlich festgenommen oder vom Inlandsgeheimdienst SBU befragt und flohen danach teilweise nach Russland. Ende April 2014 gab es von beiden Seiten mehrere Provokationen und gewaltsame Zusammenstöße, bei denen auch Molotow-Cocktails geworfen wurden, während sich die prorussischen Separatisten im Donbas auf ihre rechtswidrigen Unabhängigkeitsreferenden vorbereiten. Die Atmosphäre war also zutiefst angespannt.
Für den 2. Mai war in Odessa das Fußballspiel der ukrainischen Fußballliga zwischen Tschornomorez Odessa und Metalist Charkiw geplant. Die Fangemeinschaften der beiden Teams waren gut befreundet und proukrainisch eingestellt. Zusammen wollten sie einen „Marsch für die Einheit der Ukraine“ durchführen. Die Antimajdan-Anhänger riefen ihre Unterstützter bereits im Vorfeld zur Gegendemonstration auf. Beim Marsch, der um 15 Uhr Ortszeit losging, wurden die Fußballfans von anderen proukrainischen Aktivisten sowie von der Majdan-Selbstverteidigung unterstützt, die Augenzeugen zufolge zum Teil bewaffnet waren. Die Vertreter des Antimajdan, die sich in der Parallelstraße versammelten, waren zwar übereinstimmenden Berichten zufolge in klarer Minderheit, aber ebenfalls bewaffnet. Die Polizei versuchte vergeblich, die beiden Kolonnen voneinander zu trennen – das gelang vor allem deswegen nicht, weil prorussische Demonstranten sich Richtung des Griechischen Platzes begaben. Die Polizei unternahm dagegen wenig. Proukrainische Aktivisten werfen dem damals anwesenden Polizeifunktionär Dmytro Futschedschy vor, mit dem Antimaidan sogar kooperiert zu haben. Heute hält er sich angeblich in Moskau oder im transnistrischen Tiraspol auf.
Bei den ersten Zusammenstößen gab es gleich die ersten Verletzten, eine Stunde später dann auch die ersten Toten. Sie stammten aus dem proukrainischen Lager: Es sind Ihor Iwanow vom Rechten Sektor und Andrij Birjukow von der Maidan-Selbstverteidigung, die beide von einem prorussischen Aktivisten erschossen wurden – Dank einer Videoaufzeichnung gibt es daran nur wenig Zweifel. Kurze Zeit später kommt es auch im prorussischen Lager zu ersten Toten. Bei den ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen insgesamt sechs Menschen auf dem Griechischen Platz ums Leben, darunter zwei von der proukrainischen und vier von der prorussischen Seite.
Rückzug nach ersten gewaltsamen Zusammenstößen
Gegen 18 Uhr ziehen sich Vertreter des Antimajdans vom Griechischen Platz zurück. Ein Teil der prorussischen Demonstranten zieht sich auf den Platz des Kulykowe Pole zurück, um das Zeltlager zu verteidigen. Sie verbarrikadieren sich im Gewerkschaftshaus, während die proukrainischen Kräfte das Zeltlager wenig später gewaltsam räumen und auch Brandsätze werfen. Daraus entstehen kleinere Brände, doch erst kurz vor 20 Uhr brennen die Barrikaden vor dem Gewerkschaftshaus. Kurze Zeit späte springen die Flammen auf das Haus über und der große Brand beginnt. Bald hören proukrainische Aktivisten mit dem Angriff auf das Gebäude auf und versuchen größtenteils, ihren Kontrahenten zu helfen. Doch die Hilfe sowie die Feuerwehrfahrzeuge kommen zu spät. Es gelingt zwar, rund 350 Menschen zu retten. 42 sterben dennoch, acht davon bei dem Versuch, aus dem Gewerkschaftshaus zu springen.
Dass die Ursache für den Hauptbrand nach wie vor ungeklärt ist und sich das Feuer extrem schnell über die Treppe ausbreitete, sorgte für eine Menge von Verschwörungstheorien, etwa ber den Einsatz eines Gases. Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, dass diese Vermutungen stimmen. Eine wichtige Rolle spielten sicher der Gebäudestruktur sowie die fehlenden Feuerlöscher. Doch dass die konkreten Gründe auch fünf Jahre später noch nicht ermittelt wurden, ist ein weiterer großer Rückschlag für den ukrainischen Rechtsstaat. Das Thema „Tragödie von Odessa“ ist zudem in den letzten Jahren auch in der Ukraine selbst weitgehend aus den Medien verschwunden und schafft es fast nur am Jahrestag wieder in die Schlagzeilen. Derzeit gibt es keine Anzeichen, dass die lückenlose Aufklärung, die stets von der ukrainischen Regierung gefordert wurde, jemals stattfindet.
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