Corona-Krise in der Ukraine: Angst vor der Realität
Der Donbas-Krieg und die Krim-Annexion sind derzeit nicht die einzigen Probleme für die Ukraine. Mit drastischen Maßnahmen kämpft Kyjiw auch gegen die Verbreitung des Coronavirus. Denn die Dunkelziffer an Infektionen könnte in der Ukraine besonders groß sein. Die Auswirkungen auf das Leben im Land sind enorm. Von Denis Trubetskoy
Auch die Ukraine muss sich an die Corona-Realität anpassen. Stand jetzt kann das offizielle Kyjiw zwar noch auf die vergleichsweise geringen Infektionsfälle mit dem neuen Virus COVID-19 verweisen. Bis heute wurde die Erkrankung bei 3.764 Menschen (Stand 15.04.) gefunden, die meisten davon wohnen im Bezirk Tscherniwzi. 108 Menschen (Stand 15.04.) starben bereits an den Folgen von Coronainfektionen. Der erste mit dem Virus infizierte Patient hat die Infektion überstanden und als gesund eingestuft. Das Gesundheitsministerium in Kyjiw geht von einer deutlich größeren Dunkelziffer bei der Infektionsrate aus. Denn bisher wurden in der Ukraine nur sehr wenige Tests durchgeführt. Nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministeriums wurden erst 820 Proben (Stand 23.03.) getestet. Erst am Sonntag (22.03.) ist in Kyjiw ein Flugzeug mit ersten Tests aus China gelandet. Das bedeutet, dass erst ab dieser Woche im großen Umfang flächendeckend getestet werden kann. [Mittlerweile wurden über 39.000 Menschen getestet. – Anm. der Redaktion]
Flächendeckende Tests stehen aus
Dann wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Zahl der offiziell Infizierten rasch ansteigen- davon gehen viele ukrainische Experten aus. Die Angst vor dem realen Ausmaß und Folgen der Epidemie sind groß. Denn das ukrainische Gesundheitssystem ist alles andere als auf die Krise vorbereitet; mit rund 600 Beatmungsgeräten im ganzen Land kann es schnell an seine Kapazitätsgrenzen stoßen. Eine Gefahr ist dabei ironischerweise die enge Verbindung zwischen der Ukraine und der EU. Während die Bewohner der Kleinstadt Nowi Sanschary im Februar massiv gegen die Unterbringung der aus Wuhan evakuierten und, wie sich später herausstellte, gesunden Ukrainer protestierten, sind die ersten Infizierten in der Ukraine aus Westeuropa zurückgekehrt. Ukrainer bekamen zuletzt die meisten Aufenthaltsgenehmigungen in der EU, seit der Erteilung der Visafreiheit im Sommer 2017 hat auch die Schwarzarbeit in den Ländern der Europäischen Union stark zugenommen. Bis zur ukrainischen Grenzschließung sind bis zu 60.000 Ukrainerinnen und Ukrainer aus der EU und anderen Teilen der Welt zurückgekehrt.
Drastische Maßnahmen erfolgten schnell
Das macht die Ausgangslage etwas komplizierter als in den Nachbarländern Belarus und Russland. Dadurch sind wohl auch die bisher deutlich härteren Maßnahmen zu erklären. Nicht nur hat die Ukraine Mitte März erwartungsgemäß ihre Grenzen für Ausländer geschlossen – sie schickt auch alle aus dem Ausland evakuierten Landsleute für zwei Wochen in die Heim-Quarantäne, wobei bezweifelt werden muss, ob alle Betroffenen diese Verordnung tatsächlich befolgen. Bereits seit einer Woche sind alle öffentlichen Einrichtungen geschlossen, außer Apotheken, Banken, Supermärkte, Tankstellen. Ab Mittwoch stellten auch die U‑Bahnen in Kyjiw, Charkiw und Dnipro den Verkehr ein, bei sonstigen ÖPNV-Mitteln wurde die Beschränkung auf nur zehn Personen pro Gefährt eingeführt. Und ab Montag schließt der ÖPNV etwa in Kyjiw komplett, außer für systemrelevante Arbeiter, die mit einem besonderen Passierschein weiterhin mitfahren dürfen. Die Einhaltung dieser Regel soll von der Polizei kontrolliert werden.
Kritik an der Schließung des ÖPNVs
Während der Großteil der Maßnahmen verständlich ist, haben letzte Woche die Einschränkungen im öffentlichen Verkehr an einigen Haltestellen auch zu Chaos geführt. Mehrmals kam es zu körperlichen Konflikten zwischen Fahrern und Passagieren, die Warteschlangen waren zumindest in Kyjiw oft sehr lang. Daher wurde die Schließung der U‑Bahn, die in sozialen Netzwerken von vielen Menschen laut gefordert wurde, in diesen gleichzeitig auch hart kritisiert. Schließlich wohnt auch das medizinische Personal selten im Zentrum Kyjiws und fährt selbstverständlich U‑Bahn. Die Situation führte andererseits zu einigen positiven Beispielen gesellschaftlichen Engagements: Uber erlaubte kostenlose Fahrten für die Mediziner; die Kyjiwer haben für sie auch extra Mitfahrgelegenheiten organisiert. Doch ein systematisches Problem braucht entsprechend systematische Lösungen.
Die Untersagung des gesamten ÖPNV gehört komischerweise dazu, denn theoretisch löst sie das Problem, obwohl es zweifelhaft ist, ob das Passierscheinsystem für systemrelevante Arbeiter von Anfang an reibungslos funktionieren wird. Denn können etwa alle Supermarktmitarbeiter Kyjiws zeitlich das nötige Papierchen bekommen? Doch diese Maßnahme es ist ein weiterer Schlag gegen die ukrainische Wirtschaft und in erster Linie gegen die kleinen und mittleren Unternehmen, für die jede neue Maßnahme und jede neue Quarantänewoche fatal werden können. Zwar hat der ukrainische Staat bereits bis auf Weiteres Steuererleichterungen und eine Milderung der Kontrollen der Unternehmen beschlossen. Größere Hilfspakete wie in anderen westeuropäischen Ländern bleiben jedoch aus.
Wie steht es um die Wirtschaft?
Ein gründlicher Plan zur Rettung der ukrainischen Unternehmen existiert wohl derzeit nicht mal in den Gedanken der Verantwortlichen. „Über Verluste und Entschädigungen werden wir später nachdenken, wenn wir überleben“, meint etwa der Innenminister Arsen Awakow, der sich zum großen Befürworter einer „totalen Quarantäne“ stilisiert. Aber die aktuelle Situation stellt der ohnehin schwachen ukrainischen Wirtschaft eine Herkulesaufgabe. Dass diese 2020 abstürzt, ist nun gesetzt – die Frage ist aber, wie stark. Ein wichtiger Faktor hier: 2019 haben ukrainische Arbeitsmigranten aus dem Ausland rund zwölf Milliarden US-Dollar überwiesen. Ein Teil dieser Summe fällt im aktuellen Jahr definitiv weg. Allein das schafft bereits ein riesengroßes Problem.
Politische Konsequenzen?
Spannend wird sein, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf die aktuelle ukrainische Politik haben wird. Vor allem der Versuch Awakows, seine ohnehin bedeutende Rolle im ukrainischen Staatssystem noch zu verstärken, ist derzeit bemerkbar. Im politischen Kyjiw wird außerdem vermutet, der Präsident Wolodymyr Selenskyj könnte die protestlose Quarantäne-Zeit dazu nutzen, die in der Bevölkerung unbeliebte Bodenreform im Parlament durchzusetzen – sollte der IWF eine Garantie für einen neuen Kredit geben. Die Bodenreform soll eine der Bedingungen für diesen sein. Doch unklar ist auch, ob das Parlament derzeit überhaupt arbeitsfähig ist, nachdem zwei Abgeordnete positiv auf das neuartige Coronavirus getestet wurden.
In Sachen Donbas-Krieg wurde in der vergangenen Woche die Gründung einer Beratungsgruppe bei den Verhandlungen in Minsk gemeldet, zu der jeweils zehn Vertreter beider Seiten – damit auch Vertreter der selbsterklärten „Volksrepubliken“ – gehören sollen. Große Teile der Kyjiwer Zivilgesellschaft, der proukrainischen Opposition, aber auch Teilender Präsidentenfraktion „Diener des Volkes“ kritisierten das scharf, da eine Normalisierung und Legitimierung der Warlords im Donbas befürchtet wird. Ein Abgeordneter, der die Idee hart kritisierte, wurde bereits als Selenskyjs Berater abgesetzt. Die Kritik an dieser Entscheidung findet erstaunlicherweise wegen der aktuellen Lage kaum Beachtung. Die Menschen in den besetzten Gebieten haben dagegen ein anderes Problem. Nachdem die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ihre Grenzen zur Ukraine komplett geschlossen haben, müssen die Rentner, die eine Rente auch in der Ukraine bekommen, vorerst ohne diese auskommen. Zwar müssen sie sich nun nicht mehr wie zuvor alle 60 Tage bei der zuständigen Behörde auf dem von Kyjiw kontrollierten Gebiet melden. Doch mit ukrainischen Karten können sie im besetzten Gebiet kein Geld abheben. Und so geht die Corona-Krise in der Ukraine tatsächlich an niemanden vorbei.
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