Ziel und Mittel: Schwere Waffen für die Ukraine
Die Geschichte der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine ist ein unvergleichliches Trauerspiel. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland die Notwendigkeit von schweren Waffen für die Ukraine erkennt. Ein Gastbeitrag von Kyrylo Tkachenko aus Kyjiw
Während des Besuchs von Angela Merkel in Kyjiw im August 2021 war es der ukrainischen Seite ein wichtiges Anliegen, dass Deutschland seine Blockade der Lieferung von Scharfschützen- und Anti-Drohnen-Gewehren durch die NATO aufhebt. Doch sie blieb erfolglos. Die deutsche Regierung hielt auch nach den Neuwahlen an ihrem Veto fest – bis zur russischen Invasion Ende Februar. Das Argument, dass Deutschland der Ukraine keine Waffen bereitstellen kann, weil man grundsätzlich keine Waffen in „Krisengebiete“ liefert, war damals allgegenwärtig.
Dabei muss man kein Militärexperte sein, um ein halbes Dutzend Länder zu identifizieren, die entweder militärische Handlungen auf eigenem Boden führten oder in Konflikte im Ausland involviert waren und gleichzeitig Waffen in Deutschland einkaufen durften. Und das war nicht immer falsch. Man mag zwar Waffendeals mit Saudi-Arabien oder Ägypten kritisieren, aber die israelischen Streitkräfte oder Kurden in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat zu unterstützen war absolut richtig. Besonders zynisch erscheinen die damaligen Versicherungen der Bundesrepublik im Licht neuer Enthüllungen: Zwischen 2014 und 2022 fungierte Deutschland als zweitgrößter Lieferant von Dual-Use-Gütern an Russland.
Die inzwischen hinlänglich bekannte Geschichte über die Lieferung von 5000 Helmen, die als eine große Geste präsentiert wurde und doch bis zum Ausbruch des Krieges auf sich warten ließ, wurde in der Ukraine zu einer unerschöpflichen Quelle von Witzen und Memes. Als am Vortag des russischen Angriffs die Flugzeuge, die Anti-Panzer-Waffen vom Typ NLAW aus Großbritannien in die Ukraine brachten, einen Bogen um Deutschland machen mussten, wurde das nicht nur in der Ukraine registriert. Am ersten Tag des russischen Angriffskriegs erklärte ein deutsches Regierungsmitglied dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk gegenüber die Absage der Waffenlieferungen mit dem Satz: „Euch bleiben nur wenige Stunden“
In den nächsten Tagen verfolgte die ganze Ukraine sehr genau, welche EU-Länder am Waffenembargo gegen die Ukraine festhielten. Man zählte: Es bleiben nur noch vier Länder, noch drei, noch zwei. Bis nur noch Deutschland alleine da stand und – man findet zumindest keine andere plausible Erklärung – genau aus diesem Grund nachgab. Es gab anschließend eine Lieferung von tatsächlich guten Anti-Panzer-Waffen wie die vom Typ Matador, aber auch von sehr alten und zum Teil unbrauchbaren Luftabwehr-Raketen Strela, noch aus den DDR-Beständen.
Ungelöste Versprechen
Was danach folgte, ist eine lange Reihe ungelöster Versprechungen, widersprüchlicher Darstellungen von Plänen zu Ringtauschen, von welchen die Beteiligten teilweise nicht wussten, und viele Rechtfertigungen. Zum Beispiel: Die Marder- und Leopard-Panzer könnten nicht geliefert werden, weil es zu lange dauern würde, den Ukrainern die Handhabung beizubringen. Oder: Es gebe von diesen Panzern gar nicht so viele, die Bundeswehr brauche sie selbst. Oder später: Es gebe eine Absprache innerhalb der NATO, der Ukraine keine Panzer westlicher Bauart zur Verfügung zu stellen.
Ende März erfuhr man dann dank zweier unterschiedlicher Listen, was die Ukraine bekommen darf: Die eine ist offiziell und lang, die andere für die deutschen Waffenhersteller bestimmt. Letztere ist halb so lang und es fehlen insbesondere die Waffen, um welche die Ukraine in erster Linie gebeten hatte. Während die deutsche Regierung beteuerte, es gebe doch nicht so viele lieferbare Marder-Panzer, entschied sie im Mai hundert davon an Griechenland zu liefern. Und während es hieß, es gebe eine Absprache innerhalb der NATO, wollte das NATO-Mitglied Spanien der Ukraine im Juni 40 Leopard-Panzer übergeben. Doch dieses Vorhaben wurde von Deutschland blockiert.
Das Verhalten der Bundesregierung unterscheidet sich nicht nur von den USA oder Großbritannien, sondern auch von vielen kleineren europäischen Ländern, die nicht annähernd über so eine starke Waffenindustrie wie Deutschland verfügen. Das gilt insbesondere für die osteuropäischen Staaten. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist Estland der weltweit größte Unterstützer der Ukraine. Das Land mit einer Bevölkerungszahl kleiner als die von München, dafür mit einem größeren Anteil von ethnischen Russen als die Ukraine, hat – trotz der gemeinsamen Grenze zu Russland – keine Angst, sein Waffenarsenal für die Ukraine zu leeren. Warum? Gerade weil die Esten verstehen, dass ihr eigenes Land als das nächste an der Reihe sein könnte.
Oder die Slowakei. Das kleine Land übergibt der Ukraine seine eigenen Luftabwehr-Systeme und Kampfflugzeuge, ohne sich dabei zu beklagen, jetzt schutzlos dazustehen. Mit Ausnahme von Ungarn ist die Solidarität von Osteuropäern mit der Ukraine sehr groß. Trotzdem gibt es auch in Westeuropa eine Reihe kleinerer Länder, deren militärische Unterstützung für die Ukraine sowohl im relativen als auch im absoluten Verhältnis größer ist als die Deutschlands – dem wirtschaftlich stärksten Land Europas und einem der weltweit führenden Waffenexporteure.
Endlich folgen Taten
Der außenpolitische Druck auf die Bundesregierung war dabei sehr groß. Das Verständnis, dass das Land durch seine „besondere“ Positionierung zum russischen Krieg gegen die Ukraine massiv an Ansehen verliert, ließ endlich den großen Worten auch Taten folgen. Nach einer zweimonatigen Pause, in der auch die Lieferungen von den versprochenen leichten Waffen ausblieb, hat Deutschland im Juni endlich eine sehr überschaubare Zahl von schweren Waffen in die Ukraine geschickt. Die Bundesregierung hat darüber hinaus versprochen, weitere Ausrüstung der Ukraine zur Verfügung zu stellen und die Nachrichten von den letzten Tagen lassen hoffen, dass man es ernst meint.
Was aber absolut evident ist, ist die Tatsache, dass es in der deutschen Gesellschaft immer noch eine Unterstützung für die Möglichkeit eines Minsk-3-Abkommens gibt – also die Aufgabe eines weiteren Stücks ukrainischen Territoriums für einen vermeintlichen Frieden. Das schließt auch Vertreter der Politik und tonangebende Intellektuelle ein. Es ist müßig all die Konsequenzen aufzuzählen, welche die Realisierung von Minsk‑3 zur Folge hätte. Einige sollte man dennoch nennen.
Damit wäre nämlich nicht nur die Sicherheit in Europa in Gefahr, sondern auch die weltweite Geltung des Völkerrechts und die internationale Kontrolle über die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Nicht nur das Regime in Russland würde so gestärkt. Weltweit würden damit Diktatoren und antiliberale Kräfte, potenzielle Aggressoren und Anhänger von genozidalen „Lösungen“ ermutigt. Für die Demokratien würde dabei ein finsteres Zeitalter eintreten; ein Zeitalter, in dem Angriffskriege und Erpressungen mit Atomwaffen sich als effektive Mittel erweisen würden.
Andauernder Widerstand
Die Popularität einer Lösung à la Minsk basiert vor allem auf einer tiefsitzenden Überzeugung, die Ukraine könne diesen Krieg nicht gewinnen. Dabei wird vergessen, dass es in den letzten hundert Jahren schon mehrmals vorgekommen ist, dass stärkere Mächte als das heutige Russland die Kontrolle über Länder abgeben mussten, die militärisch, wirtschaftlich und demographisch schwächer waren als es die Ukraine heute ist. Auch einige dieser zum Rückzug erzwungenen Mächte verfügten über Atomwaffen.
Verglichen mit der Situation Anfang März kontrolliert die ukrainische Armee wieder deutlich mehr Gebiete. Nicht nur aus dem Norden des Landes sind die Besatzer komplett abgezogen, sie wurden auch aus der Umgebung von Charkiw und Mykolajiw im Osten und Süden der Ukraine zurückgedrängt. Die ukrainische Armee steht gerade nicht weit vor der besetzten Stadt Cherson. Die russische Armee hat währenddessen die Städte Lyssytschansk und Sewerodonezk im Donbass eingenommen. Das liegt jedoch an der immensen Überlegenheit der russischen Artillerie, nicht an einer mangelhaften Bereitschaft der Ukraine, Widerstand weiter zu leisten.
Die ukrainische Armee ist weit davon entfernt, besiegt worden zu sein. Im Vergleich zum Beginn des Krieges ist sie sogar stärker geworden – nicht nur in Bezug auf die Zahl der Soldaten und Soldatinnen oder deren Motivation, sondern auch mit Blick auf die verfügbare Ausrüstung. Die ukrainischen Armeeangehörigen wissen dabei, dass die Gesellschaft geschlossen hinter ihnen steht. Laut den jüngsten Umfragen sehen 89 Prozent der Ukrainer eine komplette Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden an. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass also eine absolute Mehrheit der Ukrainer diese Möglichkeit anstrebt, und dass dieses klare Ziel auch aus jedem möglichen völkerrechtlichen oder moralischen Blickwinkel international unterstützt werden muss.
Waffen für die Verteidigung
Die internationale, demokratische Gemeinschaft kann sich glücklich schätzen. Kein Deutscher muss für die Ukraine kämpfen, kein Franzose, kein Italiener. Und ich habe den Eindruck, dass es deutlich mehr Freiwillige gibt als die ukrainische Armee aufnehmen kann. Trotzdem brauchen wir Waffen, schwere Waffen und zwar jede Menge davon. Die ukrainischen Soldaten lernen schnell, wie man komplizierte moderne Waffensysteme effektiv anwendet. Sie dienen nur der Verteidigung. Auf der ukrainischen Seite ist das Kriegsziel nämlich eindeutig klar. Man beansprucht keinen Zentimeter russischen Bodens.
Es ist ein Wunder, dass die ukrainische Armee bis jetzt erfolgreich Widerstand mit überwiegend alten Waffen aus den sowjetischen Beständen leisten konnte. Es sollte aber ein internationaler Skandal sein, dass das Land nach vier Monaten unaufhörlichen Raketenbeschusses noch immer über keine modernen Systeme zur Luftabwehr verfügt. Trotz aller Solidaritätsbekundungen und tatsächlicher Unterstützung kann die Ukraine von den benötigten Waffen, die Länder wie die Türkei, Aserbaidschan oder Ägypten problemlos beschaffen könnten, nur träumen.
Es wäre also wünschenswert, dass die internationale Gemeinschaft und insbesondere Deutschland sich klar zu Ziel und Mitteln der Unterstützung der Ukraine positionieren. Abstrakte Versicherungen wie „die Ukraine darf nicht verlieren“ reichen nicht aus. Das vorläufige Ziel sowie eine Grundlage für einen dauerhaften Waffenstillstand könnte die Wiederherstellung der Trennlinie vor dem 24. Februar sein, wobei man auch das Hauptziel nicht aus den Augen verlieren darf: eine komplette Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine. Auch wenn Putin dabei „sein Gesicht verliert“ und seine Alleinherrschaft im Inland gefährdet, darf er aus diesem durch nichts zu rechtfertigenden Angriffskrieg mit keinen Gebietsgewinnen kommen.
Dabei sollte man sich auch absolut im Klaren sein, was das wichtigste Mittel zum Erreichen dieses Ziels ist: Die Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte durch Lieferung von modernen schweren Waffen. Die Aufnahme von Flüchtlingen und der finanzielle Beistand sind natürlich ebenso wichtig. Aber es macht keinen Sinn, einen weitreichenden Marshallplan für die Ukraine zu entwerfen oder dem Land eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union in Aussicht zu stellen, wenn das Land in seinem Überlebenskampf nicht durch das unterstützt wird, was es in erster Linie braucht. Dabei sollte man nicht vergessen: Die Bundesrepublik ist keine Hippie-Community, sondern einer der größten Waffenhersteller weltweit.
Kyrylo Tkachenko ist Historiker und lebt in Kyjiw. Er promoviert derzeit zum Thema „From the Support of Ukrainian Sovereignty to the Idea of ‘Regional Independence’: Miners’ Movement in the Donbas, 1989–1993.“ an der Europa-Universität Viadrina.
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