Ukrainische Binnenflüchtlinge: Zurück auf Null
Als ihre Heimatstadt Altschewsk 2014 von prorussischen Separatisten besetzt wurde, floh die Unternehmerin Ekaterina Tarasenko in die Westukraine. Dort hat sie jetzt ein Hilfszentrum für ukrainische Binnenflüchtlinge aufgebaut. Von Ekaterina Tarasenko
Es war am 4. Mai 2014, als ich zum ersten Mal Maschinengewehrfeuer im Rücken hörte. Genau da begann für meine Familie und mich dieser Krieg. Sieben Jahre dauerte er an. Beschuss, immer zwischen 4 Uhr morgens und 12 Uhr mittags. Genau getaktet. All meine Erinnerungen aus dieser Zeit drehen sich darum.
Der Krieg dauerte an in Form meiner völligen Hilflosigkeit nach dem Verlust von Papieren und Geld in Charkiw. Er dauerte an in den Krankenhäusern in Charkiw, Odesa und Kyjiw, wo ich zur Behandlung war. Er dauerte an in den Karpaten, wo ich mich ängstlich in einer heruntergekommenen Holzhütte wiederfand, die mit Holz geheizt wurde. In der es kein Bettzeug gab, keine Eimer, um das Wasser aus dem Bach zu holen, kein Geschirr und Besteck. Nichts.
Dieser Krieg hat viele Facetten. Ich habe in diesen sieben Jahren etliche erlebt. Bis hin zum „Messer im Rücken”.
Mit einer Nachbarin habe ich eine Ziegenfarm aufgebaut. Es fing an mit einer Ziege. Sieben Jahre lang haben wir schier Unglaubliches geleistet, um aus einer Ruine ein begehrtes Touristenziel zu machen. Den fünften Platz beim Wettbewerb der Käsemanufakturen belegt. Sieben Förderungen nicht nur bekommen, sondern auch sinnvoll eingesetzt. Nicht einmal die Corona-Quarantäne konnte uns aufhalten. Immer haben wir einen Weg gefunden, weiterzuleben und weiterzukommen.
Bis alles zusammenbrach.
Der Verlust meines zweiten Unternehmens war schwer zu verkraften. Nach dem Verlust meines ersten Unternehmens in Altschewsk 2014 war ich so schwer traumatisiert, dass ich seitdem als schwerbehindert gelte. Nach dem zweiten Verlust war ich sechs Monate in psychotherapeutischer Behandlung. Als ich mich gerade wieder ein wenig gefangen hatte, brach neues Elend herein: der flächendeckende Angriffskrieg der “Raschisten” [Begriff, der aus den Wörtern “Russland” und “Faschismus” hervorgeht; Anm. der Redaktion].
Ein neuer Plan
Obwohl uns bereits klar war, dass Russland in den nächsten Wochen einmarschieren würde, bereiteten wir alles für die Sanierung unseres neuen Hofes vor. Am 20. Februar fuhren wir nach Daschawa, einem Dorf in der Westukraine – etwa 60 Kilometer von Lemberg entfernt -, um das Gelände und die Räumlichkeiten zu besichtigen. Ein Café sollte entstehen, eine Sauna, ein Fitnessstudio. Wir berechneten die Kosten und planten die nächsten Schritte.
Am Morgen des 24. Februar begannen die Angriffe. Diesmal nicht über meinem Kopf, sondern schlimmer noch: über dem meiner Kinder und Enkel. Eilig machten wir uns zur Abreise nach Daschawa bereit. Irgendwie mussten wir es schaffen, uns auf die neuen Umstände einzustellen. Da kam die Idee mit den Binnenflüchtenden auf. Es würde ja nicht jeder nach Europa gehen. Und nicht jeder wäre dazu fähig, unter Bedingungen zu leben, unter denen ich sieben Jahre gelebt hatte: in einem alten Haus auf einem heruntergekommenen Gehöft.
Die Menschen würden Hilfe und Unterstützung benötigen. Wir als Geflüchtete von 2014 waren auf all das besser vorbereitet. So formierte sich bereits unterwegs ein Plan, wie wir vorgehen würden. Am 28. Februar rief dann die Tochter eines Freundes aus Kyjiw an. Sie weinte, war in Panik und sagte: „Sie beschießen uns. Hier fliegen Raketen. Es ist furchtbar! Was sollen wir machen?” – „Setzt euch in einen Zug und kommt zu uns nach Daschawa. Dann sehen wir weiter.”
Dach über dem Kopf
Am 1. März nahmen wir die ersten Geflüchteten bei uns auf. Sie halfen uns dabei, die unfertigen Räumlichkeiten in Ordnung zu bringen und zu putzen. Wir erzählten im Dorfladen, dass wir Binnenflüchtlinge aufnehmen würden. Die Einheimischen fingen an, uns Dinge zu bringen – ein Bett, ein altes Sofa, Bettzeug, eingemachtes Gemüse. Sogar ein ganzes geschlachtetes Schwein brachten sie uns. Wir schufen Platz im Saunabereich, dann im Café. Im Fitnesssaal wurden Gipswände gesetzt, Türen eingebaut, Linoleum verlegt und geflüchtete Menschen eingewiesen. Der Zustrom riss nicht ab. Manche blieben für einen Tag oder zwei, manche wohnen noch immer bei uns.
Erst kamen sie aus Kyjiw, Butscha, Irpin, Hostomel und Charkiw. Dann aus Sjewerodonezk, Slowjansk, Kramatorsk und Isjum. Dann war Mariupol an der Reihe. Am Anfang erhielten wir humanitäre Hilfsgüter aus Polen und Deutschland, die uns von ukrainischen Freiwilligen und Unternehmern, die wir kannten, gebracht wurden. Nach einem Bericht über unsere Arbeit bei Radio Swoboda kamen Vertreter der tschechischen Hilfsorganisation „Menschen in Not” mit Hilfsgütern.
Doch eigentlich brauchen wir hauptsächlich Geld. Und zwar direkt auf das Konto unserer Organisation „Dach na holowuju” – „Dach über dem Kopf”, die wir gleich im April gegründet haben, als das staatliche Register wieder Anträge bearbeitete.
Warum? Die Menschen, die zu uns kommen, sind physisch wie psychisch am Ende. Die Männer sind an der Front. Die Mütter kommen oft direkt aus den Luftschutzkellern. Jede Frau, jeder Jugendliche hier ist süchtig nach Nachrichten, sucht ständig nach Informationen über seine Angehörigen, oft alte Menschen, die sich geweigert haben, mitzukommen.
Zerstörte Biografien
Eine Familie lebte bei uns, die 2014 aus Altschewsk geflohen war, meiner Heimatstadt. Im Dezember 2021 hatten sie den Kredit für ihre Wohnung in Kyjiw abbezahlt. Die Welt stand ihnen offen. In der Nacht, in der sie aus dem Schutzraum zum Bahnhof rannten und sich mit zehn Erwachsenen und vier Hunden ins Abteil eines Zuges quetschten, war ihre Tochter gerade ein Jahr alt.
Eine Frau lebte bei uns, die 2008 Abchasien verlassen hatte, ein weiterer Ort, an dem die Russen für „Frieden” gesorgt hatten. Sie ging damals nach Donezk. 2014 kam sie aus Donezk nach Kyjiw. Sie lebte sich ein bisschen ein. 2022 wurde sie gezwungen, nach Deutschland zu flüchten, wo sie mittlerweile Arbeit gefunden hat.
Zwei Familien waren bei uns, die am 24. März an der Postfiliale in Charkiw angestanden hatten. Zwei Raketen schlugen ein. Hunderte wartender Menschen standen dort Schlange. Sie glauben, dass ihnen an jenem Tag ein zweites Leben geschenkt wurde.
Eine Familie ist noch immer bei uns, die am 7. April Kramatorsk verlassen hatte. Ihre Nachbarn wollten am 8. April gehen. Dazu kam es nicht mehr. Die Eltern wurden ausgelöscht. Die Kinder wurden ausgelöscht. Übrig blieb die alte Großmutter, der beide Beine abgerissen wurden. Sie liegt in der Metschnikow-Klinik in Dnipro.
Eine andere Familie lebt bei uns, eine Mutter, ihre Schwiegertochter und die Schwestern eines Mannes, der im Werk von Asowstal in Mariupol die Ukraine verteidigt. Seit Wochen haben sie keinen Kontakt zu ihm. Erfahren nur Ungefähres, beziehen ihre Informationen von anderen Müttern und Ehefrauen.
Die Augen dieser Frauen muss man gesehen haben. Kein Schmerz ist größer als die Angst um einen Sohn, einen Ehemann, einen Bruder.
Den Schmerz teilen
Ich bin jeden Tag da, um mit diesen Menschen zu reden, ihren Schmerz zu teilen, ihre Sorgen, ihre Probleme. Ansonsten versuche ich, für einigermaßen annehmbare Lebensumstände zu sorgen und leckeres Essen zuzubereiten. Die jungen Frauen aus Charkiw und Kramatorsk kochen mit. Wir nutzen das, was wir an Lebensmitteln haben. Dabei möchte man den Leuten frisches Gemüse und Obst bieten, Fleisch oder Fisch servieren. Sie hätten es bitter nötig. Sie sind erschöpft, nervlich am Ende, ausgelaugt.
Ich weiß, wie man sich auf Neuigkeiten aus dem Krieg, aus den besetzten Gebieten einstellt. Wie man umgeht mit Todesmeldungen von Freunden. Meine Kinder sind am 3. März aus Lyman geflohen. Mein Sohn hat sich am 8. März bei der Armee verpflichtet. Er verteidigt jetzt seine Heimatstadt im Osten. Ich gucke ständig, ob er vielleicht gerade online ist. Dann bekomme ich eine knappe Nachricht: „Alles in Ordnung. Sind an der Arbeit.” Danke, mein Sohn, dass du dir diese Zeit nimmst.
Ich beruhige und erde mich beim Arbeiten. Ich halte mich und die Geflüchteten auf Trab. Wir haben immerhin einen Hof mit 200 Ziegen, 100 Hühnern und wir wollen Enten und Puten anschaffen. Für uns, für die Geflüchteten und zum Verkauf. Mehr denn je brauchen wir Lebensmittel. 1,5 Tonnen Kartoffeln haben wir gesät, einen Gemüsegarten angelegt. Wir machen unseren eigenen Käse. Aber wir brauchen finanzielle Mittel, um unsere Produktionsbereiche und Anlagen fertigzustellen, die Käserei und die Nudelherstellung, den Melkstand, ein separates Vogelgehege und einen Schweinestall.
Wir haben Fische in die Teiche gesetzt und wollen Angler anziehen. Wir wollen Pavillons und Holzhäuschen bauen. In Zukunft sollen Menschen, die unter dem Krieg gelitten haben, die Angehörige verloren haben, zur Reha herkommen können. Wir haben bereits Kinder aus dem Donbas aufgenommen, die in Lwiw gelandet sind. Mit anderen Kindern zusammen sein, unter Hühnern, Enten und Ferkeln – das ist die beste Therapie.
Ja, trotz des Krieges mit Russland geht das Leben weiter. Die Bauern und alle, die sich in Gebieten befinden, in denen es keine großen Zerstörungen gibt, haben eine Aufgabe zu erfüllen: Menschen Schutz zu bieten, Bedingungen zu schaffen für Leben und Heilung. Und so viele Lebensmittel zu produzieren wie nur möglich. So können wir unseren Beitrag leisten, die Invasion der “Raschisten” zu überstehen. Jetzt, aber auch nach unserem Sieg. Viele werden dann nämlich nichts mehr haben, wohin sie zurückkehren können.
Und wieder beginnt unser Leben bei Null…
Ekaterina Tarasenko (Lesnaja) sah sich 2014 gezwungen, ihre Heimatstadt Altschewsk zu verlassen, als diese von Russland besetzt wurde. Die gelernte Ingenieurin und Unternehmensleiterin zog in die ukrainischen Karpaten und wurde Mitbegründerin einer Käserei. Jetzt hat sie zusammen mit Gleichgesinnten eine Kooperative mit Tieren und Obst- und Gemüseanbau ins Leben gerufen. Auf dem Gelände der Kooperative finden im Zentrum „Dach über den Kopf” Binnengeflüchtete ein neues Zuhause.
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