„Ich bin in diesen Tagen sehr stolz, Ukrainerin zu sein“:
Stimmen zum Unabhängigkeitstag
Zum diesjährigen ukrainischen Unabhängigkeitstag haben wir einige unserer ukrainischen Kolleginnen bei LibMod gebeten, über die Bedeutung dieses Tages für sie und ihre Erinnerungen daran zu schreiben.
„Sie wird überleben“
Am 24. August 1991 verabschiedete das ukrainische Parlament das Gesetz zur Proklamation der Unabhängigkeit der Ukraine. Doch der entscheidende Schritt zur Bildung der ukrainischen Staatlichkeit folgte erst einige Monate später, am 1. Dezember 1991: das gesamtukrainische Referendum über die Bestätigung des Akts der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine. Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik hatte tatsächlich aufgehört zu existieren.
Damals lebte ich im Donbas. Ich erinnere mich gut an diesen Dezembertag. Es war warm wie im Frühling und alle unsere Nachbarn hatten sich draußen versammelt, saßen auf Bänken und diskutierten lebhaft über ihre Zukunftsaussichten. Es waren allesamt Menschen im reifen und hohen Alter, die ihr ganzes Leben im „Gefängnis der Nationen“, wie man die UdSSR nannte, verbracht hatten. Ich war 12 Jahre alt und verstand das Wesentliche des Ereignisses nicht ganz, aber unterbewusst war ich mir sicher, dass die Menschen die richtige Wahl getroffen hatten.
Leider ist der aktuelle russische Angriffskrieg ein auf die lange Bank geschobener Krieg. Wer Freiheit umsonst bekommt, muss sie auch verteidigen können. Die Ukrainer haben dies erst in den letzten acht Jahren verstanden, aber ich bin stolz darauf, dass meine Landsleute fähig und bereit sind, ihre Freiheit zu verteidigen.
Die Ukraine ist ein Land mit einer sehr tragischen Geschichte. Und leider hat sie noch viele schwierige Tage vor sich. Aber sie wird überleben, sie wird auf jeden Fall gewinnen. Eines ist klar: Mit diesen Zielen hat die Ukraine nur das Offensichtliche bewiesen. Die Ukraine ist ein Teil – und zwar ein wunderbarer Teil – Europas, der den Kontinent nicht nur ernährt, sondern auch in der Lage ist, ihn gegen russische Aggressionen zu verteidigen.
Von Valeriya Golovina
„Ein Traum wurde wahr“
Die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine am 24. August 1991 war für mich der Tag, an dem ein Traum von Generationen von Ukrainerinnen und Ukrainern wahr wurde. Außerdem war es für mich kein Zufall, sondern das Ergebnis eines Kampfes von Generationen von Ukrainern für einen eigenen Staat.
Damals war ich noch Schülerin. Aufgrund meiner Familiengeschichte wusste ich immer, dass ich Ukrainerin bin und mich mit der Ukraine als Gemeinschaft identifiziere. Ich bin in Kyjiw aufgewachsen, aber jede Schulferien verbrachte im Haus meiner Großeltern in der Region um Iwano-Frankiwsk. Das Haus wurde gebaut, als dieser – unter dem Namen „Galizien“ bekannte – Teil der Ukraine noch zum Kaisertum Österreich gehörte; in der Zwischenkriegszeit gehörte die Region zu Polen, ab 1939 zur Sowjetunion (während des Zweiten Weltkriegs unter deutscher Besatzung). Trotz aller Grenzverschiebungen hat meine Familie sich als Ukrainerinnen und Ukrainer verstanden. Ab 1991 hat diese Identität auch politische Legitimität als Staat bekommen.
Bereits Ende der 1980er-Jahre wurden die Verbrechen des sowjetischen Regimes bekannt und die Menschen hatten keine Angst mehr, ihre Familiengeschichten zu erzählen (die vorher verschwiegen wurde). Ich wusste, dass die Familie meines Großvaters 1939 von sowjetischen Behörden nach Sibirien deportiert worden war – für sie waren sie Nationalisten. Seine jüngste Schwester war zu diesem Zeitpunkt erst ein paar Monate alt. Erst nach Stalins Tod Mitte 1950er-Jahre durften sie nach Hause zurückkehren.
Meine Großmutter erzählte, wie sie oft zu Verhören durch den sowjetischen Geheimdienst (KGB) vorgeladen wurde und nie wusste, ob sie nach Hause gelassen würde. Viele Menschen im Dorf kehrten nie von den Verhören zurück. Ende der 80er-Jahre wurden im Keller eines Kindergartens im Dorf (wo sich das ehemalige KGB-Gefängnis sich befand) die Überreste von Menschen gefunden. Sie wurden im Park in der Nähe des Kindergartens freigelegt. Manche Menschen erkannten ihre damals verschwundenen Verwandten an den Goldzähnen.
Für mich war das Sowjetimperium das Böse. Die Unabhängigkeit der Ukraine war also ein absolut logischer und notwendiger Schritt, der die Befreiung von einer fremden Unterdrückungsmacht bedeutete.
In den 30 Jahren ihrer Unabhängigkeit hat die Ukraine einen langen Weg zurückgelegt. In den 1990er-Jahren, als Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seinen imperialistischen Griff lockerte, wurde die Chance vertan, eine eindeutige Entscheidung bezüglich EU- und NATO-Beitritt anzustreben (wie es andere Ost- und Mittel-Europäische Staaten getan hatten). In der Ukraine gab es damals noch keine reife politische Nation und somit auch keine klare Orientierung. Gleichzeitig hatte die ukrainische Gesellschaft den Mut, gegen undemokratische Entscheidungen der politischen Machthaber zu protestieren und die Richtung der Entwicklung im Lande zu bestimmen (wie etwa 2004 und 2013/2014).
Der heutige Krieg ist der letzte und entscheidende Kampf der Ukraine um ihre Unabhängigkeit, gegen das Imperium, das diese Unabhängigkeit zwar formal akzeptierte, aber – das zeigt der von Russland geführte Vernichtungskrieg – nie damit einverstanden war. Die Ukraine kann und muss diesen Kampf mithilfe der zivilisierten Welt gewinnen. Es geht um das größte Land Europas und etwa 43 Millionen Menschen. Aber im Großen geht es auch um die Dominanz des Völkerrechts über den willkürlichen Einsatz von Waffen und der Demokratie über Autoritarismus.
Von Iryna Solonenko
„Ohne die Unabhängigkeit meines Landes wäre auch meine persönliche Freiheit unvollständig“
Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der der Unabhängigkeitstag der Ukraine immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Für mich ging es um die Möglichkeit, unser Leben frei bestimmen und eigene Probleme selbst lösen zu können. Trotz der fortschreitenden Versuche der Kolonialisierung der Ukraine durch den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss Russlands haben die Ukrainerinnen und Ukrainer in den Jahren 2013/2014 die Möglichkeit genutzt und sich für den Kurs europäischer und euro-atlantischer Integration entschieden.
Den wichtigsten Reifungstest seit 1991 hat die Ukraine jedoch im Februar 2022 bestanden. Nach dem Beginn des großangelegten Angriffs Russlands hat das ukrainische Volk die wichtige Entscheidung getroffen, sich nicht zu ergeben und den Kampf um die Existenz aufzunehmen. Dies war der höchste Gradmesser für das kollektive Selbstgefühl. Seitdem ist der 24. August für mich als Ukrainerin heilig,
denn ich habe klar verstanden, dass ohne die Unabhängigkeit meines Landes auch meine persönliche Unabhängigkeit unvollständig wäre.
Von Viktoria Savchuk
„Mein Herz ist in Kyjiw“
Während meiner Kindheit sind wir am Unabhängigkeitstag mit der Familie zu Freunden nach Kyjiw gefahren. Es gab eine große Parade, viele haben wunderschöne Wyschywankas getragen und vor allem herrschte eine feierliche Stimmung auf den Straßen. An diese besonderen Momente erinnere ich mich heute. Nach meinem Umzug nach Deutschland habe ich einen ukrainischen Freundeskreis im Studentenwohnheim gefunden. Am 24. Augst haben wir einander gratuliert. Mein Herz aber war in Kyjiw.
Nach dem 24. Februar hat der Tag noch eine wichtigere Bedeutung für mich. Russland will die Ukraine und die ukrainische Kultur zerstören. Ich bin stolz auf mein Volk, stolz darauf, dass es Widerstand leistet, dass viele ukrainische Konzerte und Kulturveranstaltungen in Berlin und in der ganzen Welt stattfinden. Jedes Wort und jede Veranstaltung berühren mich sehr. Ich bin in diesen Tagen sehr stolz, Ukrainerin zu sein. Slawa Ukrajini!
Von Diana Tovma
„Wir haben unsere Freiheit gefeiert“
Der Unabhängigkeitstag gehörte immer zu einem der wichtigsten Feiertage in der Ukraine: Die Straßen voller gelb-blauer Fahnen, Volksmusik, Feuerwerke und überall Menschen, die sich über das Leben freuen. Wir haben immer groß gefeiert. Wir haben unsere Freiheit gefeiert.
Welche Gefühle hatte ich an diesem Tag? Einerseits war ich stolz darauf, der ukrainischen Kultur anzugehören: die wunderschöne ukrainische Sprache zu sprechen und ukrainische Traditionen zu bewahren. Andererseits war ich auch froh darüber, ein Teil der Gesellschaft zu sein, die europäische Werte teilt, die tolerant, freundlich und progressiv ist.
Heute gehört der Unabhängigkeitstag immer noch zu einem meiner Lieblingsfeiertage.
Die Straßen sind voller gelb-blauer Fahnen – allerdings nicht nur in der Ukraine, sondern auf der ganzen Welt. Doch anstelle von Musik und Feuerwerken hört man jetzt Explosionen und Raketeneinschläge. Städte und Dörfer sind zerstört und verwüstet. Menschen werden getötet und diejenigen, die dem Tod entkommen sind, sind geflohen.
Wir haben fast alles verloren, was uns Freude gebracht hat – außer der Hoffnung und der Freiheit. Wir können heute nichts feiern, außer der Tatsache, dass wir heute wie nie zuvor vereint sind. Wir, die Ukrainer, wollen uns diesmal die Emotionen und Kräfte sparen. Wenn wir diesen Krieg gewinnen, dann wird es genug zu feiern geben.
Von Lisa Tomilets
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.